Inception von Chris Nolan: Träume Kino, träume!

Eigentlich finde ich es ja immer ziemlich blöd, wenn ein Rezensent eine Kritik damit beginnt, dass er nicht weiß, wie er den Text beginnen soll. Die Flucht vor einer prägnanten, pointierten Einleitung durch Metaebenen und selbstreflexive Spielereien. Andererseits passt eben genau jenes Spiel perfekt zu Chris Nolans (The Dark Knight) neuesten Blockbuster. Unabhängig davon weiß ich auch tatsächlich nicht, wie ich hier anfangen sollte. Es gibt einfach zu viele treffende Varianten. Also dann… Der erste Satz hier könnte lauten: Er hat es mal wieder geschafft. Klingt ein bisschen zu vorbelastet…? Die zweite Variante wäre: Es gibt Filme, die sind einfach so gewaltig, dass man sich nur staunend freuen kann, oder freuend staunen. Selbstverständlich mit der Ergänzung: Inception ist ein solcher Film. Zu pathetisch? Naja, ein einfaches Wow! wiederum wäre wahrscheinlich zu banal… Trifft es aber auch. Vielleicht muss man auch einfach erst mal nur tief Luft holen, um diesen Überschuss an kreativen Ideen, grandiosen Szenen, an atemberaubender Spannung zu verarbeiten. Man kann es nicht anders sagen: Inception ist der Blockbuster des bisher eher schwachen Kinojahres: Inception ist groß, erhaben, intelligent, actionreich, spannend, verschachtelt und so unterhaltend wie, wie, wie…lange scheint es her… genau, wie eben der letzte Nolan-Film.

Dabei dürfte die Geschichte den meisten Nerds, die sich bereits zuvor hungrig im Netz schlau gemacht haben, bestens bekannt sein. Ein Team von luziden Traumreisenden schleicht sich in die Träume ihrer Kunden Opfer ein, um aus deren Unterbewusstsein Informationen zu extrahieren. Sie sind die Wirtschaftsspione des 21. Jahrhunderts. So auch Cobb (Leonardo Di Caprio), der sich zudem ständig auf der Flucht vor dem Gesetz befindet. Der neuste Auftrag ist allerdings besonders heikel: Hier soll keine Information gestohlen, sondern eine eingepflanzt werden. Und dazu muss das Spionageteam bestehend aus dem Traumreisenden Cobb sowie seinem Gehilfen Arthur, einem Chemiker, einer Traumarchitektin, einem Fälscher und dem Auftraggeber selbst, ganz tief in das Unterbewusstsein des Opfers hinabsteigen. Träume im Traum entwerfen, Metabenen eröffnen und mit diesen spielen um bis zum tiefsten Unterbewussten vorzudringen.

Und mehr sollte hier auch gar nicht verraten werden, machen doch gerade die zahllosen weißen Felder, die sukzessive gefüllt werden, den besonderen Reiz dieser – man kann es nicht anders sagen – fantastisch erzählten Geschichte aus. Ergiebiger ist da schon ein Vergleich mit Matrix, erwarteten doch viele Zuschauer nicht mehr als einen gut inszenierten, im Fahrwasser des End90er Hits schwimmenden Science Fiction Film. Gott sei Dank ist es nicht dazu gekommen. Im Gegensatz zu den Wachowski-Brüdern missbraucht Nolan die Aufhebung aller irdischen Gesetze in einer virtuellen Realität nicht, um stylishe Actionszenen zu generieren. Stattdessen entwirft der Kanadier ein düsteres, von Paranoia beherrschtes Szenario. Der Verlust des Realitätsbezugs lauert an jeder Ecke. Schicht um Schicht, Level um Level gräbt sich der Film hinab ins Unterbewusstsein seiner Protagonisten und Zuschauer. Dort entwirft er atemberaubende, jeder Erklärung spottende Bilder: Sich faltende Landschaften, paradoxe Architekturen, die ebenso von einem M.C. Escher stammen könnten, bedrohliche Schatten der Vergangenheit und die Omnipräsenz der Projektionen, die alles tun, um Eindringlinge aus dem Unterbewusstsein zu vertreiben… es gibt viel zu sehen, viel zu staunen und immer weniger zu atmen.

Ein weiterer großer Vorteil gegenüber der Matrixmythologie: Auch Nolan liebt es in Fragezeichen zu erzählen. Erst nach und nach schält sich heraus, wer wovon angetrieben wird, wer was sucht, wie welches Traumbewusstsein funktioniert. Trotz der für einen Hollywoodfilm ungewöhnlich langen Exposition (nach einer allerdings auch konfusen, dennoch höchstgradig spannenden Eröffnungssequenz) bleibt sehr vieles, sehr lange offen. Nolan spielt mit den Traumbildern ebenso wie mit den Erwartungen seiner Zuschauer, lässt diese ins Leere laufen und generiert immer wieder bewusst Irrlichter, schwarze Flecken und undurchdringbare Strukturen. Und dennoch bleibt die Geschichte zu jedem Zeitpunkt schlüssig und spannnend. Wo wir gerade bei spannend sind: Nolan ist ein Meister der dramatischen Inszenierung. Der „Showdown“, der sich praktisch durch das gesamte letzte Drittel des Films zieht, ist eine spannungsgeladene Parallelschalung verschiedener „Level“, wie sie in dieser Form im Kino tatsächlich noch nie zu sehen war. Auf jeder Ebene des Traums befinden sich Personen, auf jeder Ebene läuft die Zeit mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ab und in jeder Ebene stehen die Traumreisenden unter Zeitdruck. Das Ergebnis: Ein nahtloser Übergang von Highspeed zu meditativer Zeitlupe zu annäherndem Zeitstillstand und dennoch kocht das Adrenalin in jeder Einstellung, begleitet von dem mächstigen Score Hans Zimmers. Dagegen verblasst selbst die ungemein spannende episodische Inszenierung aus „The dark knight“.

Diese Spannung entsteht vor allem dadurch, dass der Film auf jeden übertriebenen, surrealen Ballast verzichtet. Anstatt wie bei The Cell vollkommen überzeichnete, bunte Märchenwelten zu entwerfen, bleiben die Träume bei „Inception“ in gewissem Maße bodenständig und plausibel. Hier sind die Phantasiewelten des Menschen nicht bar jeder Vernunft, nicht phantastisch, sondern speisen sich aus Erlebnissen und Erinnerungen des Alltags, die durch Funktionen des Unterbewusstseins verzerrt und gespiegelt werden. Obwohl sich die Protagonisten während der Reise ins Innere in urbanen Szenarien bewegen, ist der Traumcharakter stets offensichtlich: Desorientierungen, zeitliche Verzögerungen, der Verlust von Vergangenheit und Zukunft… Nolan pickt sich fundamentale Eigenschaften des träumerischen Wesens heraus, ohne diese zu karikieren. Trotz allen nachvollziehbaren Realitätsverlustes bleibt der Traum so stets realistisch. Er opfert sich nie einer plakativen Ästhetik sondern wirkt in sich selbst stimmig, geschlossen, genuin und dennoch gerade wegen der gezielt eingesetzten Verfremdungen höchst berauschend. Eine überzeugendere Ästhetisierung des stummen Schlafbegleiters hat man jedenfalls seit „Waking Life“ nicht gesehen. Und Filme wie Matrix mit ihren übertrieben stilisierten Szenarien können dagegen auch gleich mit der weißen Fahne wedeln.

Wurde „The Dark Knight“ noch des öfteren vorgeworfen, er sei steril, hätte wenig – zu wenig – emotionale Momente im Gepäck, so arbeitet Nolan auch auf diesem Gebiet mittlerweile an der Schwelle zur Perfektion. Das liegt nicht zuletzt an seinen herausragenden Darstellern: Leonardo Di Caprio spielt seinen Traumspion als zerrissenen, von Schuldgefühlen zerfressenen Dieb und Kriminellen, der von einer alles umfassenden Sehnsucht angetrieben wird. Die Empathie, die er dabei für seine Figur aufbringt, generiert nicht nur wahre Sorge um das Wohl des Kriminellen sondern zusätzlich auch einige wunderschöne, erschreckende und tragische Gänsehautmomente. Aber auch der restliche Cast gibt seinen Figuren viel zwiespältige Menschlichkeit mit auf den Weg: Sei es Cillian Murphy als unsicherer Millionenerbe, Tom Hardy als entspannter Traumzyniker oder Joseph Gordon-Levitt als eiskalter Profi. Einzig die herausragende Ellen Page scheint in der Rolle als einziges weibliches Teammitglied und Seelsorgerin für Di Caprios Vergangenheitsbewältigung latent unterfordert.

Als einziger Kritikpunkt käme dann maximal das Ende in Frage, das mit seiner Abruptheit den Zuschauer viel zu schnell aus diesem Kinomonolithen entlässt. Nach der sehr gemächlichen Exposition hätte man sich auch einen stärkeren Epilog wünschen können (selbst wenn dieser konsequent in seiner Ausführung ist). So gesehen bricht das fast schon infam offene Ende wie eine eiskalte Welle über den Zuschauer herein. Wähnte man sich zuvor (trotz der gewitzten, aberwitzigen Inszenierung) immer noch in einem herausragenden Blockbuster, so wird spätestens an dieser Stelle deutlich, dass Nolan konsequent und kompromisslos seine ganz eigene Traumvision umsetzt, auch gegen den Strich der Traumfabrik. Mit diesem finalen Paukenschlag dürfte er nicht nur den Studiobossen sondern ebenso so manchem Zuschauer vor den Kopf stoßen, der sich einfach mehr Klarheit, mehr Abgeschlossenheit wünscht. Aber das ist wohl auch eines der großen Talente Chris Nolans: Einen Film über 2 1/2 Stunden laufen zu lassen und dennoch Zuschauer zu haben, die denken „Och ne halbe Stunde mehr wäre gegangen.“ Inception jedenfalls ist einer dieser Filme: Trotz seiner Opulenz, trotz seiner Intelligenz äußerst kurzweilig, spannend, nervenzerfetzend, fantastisch…den Zuschauer immer weiter fesselnd, in seinem Sog gefangennehmend. Schlicht eines der besten Kinoereignisse der letzten Jahre, ein filmischer Monolith, eine cineastische Offenbarung, ein cinemaskopischer Sog zwischen Actionfeuerwerk, raffiniertem Heist-Movie, Breitwandemotionen und enervierendem Fantasy- und Mysterythrill. Und wer glaubt, das sei zu viel Euphorie an einen Film verschwendet, sollte sich schnell durch das Lösen einer Kinokarte (die hier praktisch Pflicht ist) eines besseren belehren lassen. Träume Kino, träume!

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