"Geiles Buch, Hammeralbum, Scheiß Film!" – Subjektivität und Objektivität in der Bewertung von Kunstwerken

Es ist immer wieder die selbe Leier: Egal ob Film- Musik- oder Literaturkritik, die Frage nach der objektiven Klasse eines Kunstwerks schwebt drohend im Raum. Wie ein Damoklesschwert hängt sie über dem Medium der Kritik und immer wenn man glaubt endlich in der Postpostmoderne angekommen zu sein, wo alles relativ, subjektiv und rezipientenabhängig ist, kommt irgendjemand daher und sticht gnadenlos mit dem Objektivitätsschwert zu. Wenn man Staubsauger, Mikrowellen und Plasmafernseher objektiv bewerten kann, indem man Emissionen, Bildwiederholungsraten und physikalische Leistung misst, wieso dann auch nicht Kunstwerke? Immerhin besteht die ganze abendländische Tradition der Kunstrezeption in der Suche nach dem objektiven Qualitätsmerkmal: das Gute, das Schöne und das Wahre, Kunst mal als Natur – x, mal als Natur + x, mal als Supranaturalismus aber immer Kunst mit dem Anspruch die objektiv richtige Kunst zu sein. Und darüber will sich das 21. Jahrhundert tatsächlich erheben? Plötzlich heißt es: Subjektivismus, jede Kritik ist subjektiv, jedes Werturteil rezipientenabhängig, jeder Geschmack hat seine Berechtigung und so weiter und so fort. Die Subjektivität hat Einzug in die Ästhetik gefunden und das Damoklesschwert des Objektiven wird stumpfer und stumpfer. Jeder ist nun Kritiker, jeder hat sein eigenes Urteil, seine eigene Meinung, die ihm viel wert ist und die professionelle Kritik – wenn es denn jemals so etwas gab – verliert immer weiter an Boden.

Bleibt die Frage: Ist das richtig so? Ist Kunstgenuss rein subjektiv? Gibt es keine Möglichkeit der objektiven Qualitätsmessung von Kunst? Hat die objektive Ästhetik endgültig ihren Stellenwert verloren? Objektivität versus Subjektivität, scheinbare unvereinbare Gegensätze und in ihrer extremen Ausprägung jeweils höchst erschreckend und beängstigend. Auf der einen Seite das Hohelied der Objektivität, die irgendwann die perfekten Kriterien findet – oder gar bereits gefunden hat – nach denen zu bestimmen ist, ob ein Kunstwerk gut, schlecht oder mittelmäßig ist. Erfahrene Experten, die diese Kriterien sammeln und auswerten und als Ergebnis ein Kunstwerk, dass man perfekt auf einer Skala von 1 – 100 (oder 1 – 1000) bewerten kann. Ästhetische Mathematik, und wer nicht gut findet was aus dem Rahmen fällt, muss damit leben einen schlechten Geschmack zu haben. Man denkt bei diesen Überlegungen unvermeidlich an die kitschige (oder auch gute, das ist geschmacksabhängig) Szene aus „Der Club der toten Dichter“, in denen der Literaturlehrer die Schüler auffordert ein Koordinatensystem zu vernichten, dass die Qualität eines Gedichts zwischen Inhalt und Melodie bemisst. „Exkrement“ sind seine Worte dazu, ergänzt durch den Hinweis, dass Poesie gefühlt und nicht mathematisch analysiert gehört.

Aber auch das gegenteilige Phänomen ähnelt eher einer erschreckenden Dystopie als einem utopischen Kunstverständnis. Dem Maximum an Toleranz in Geschmacksfragen folgt die Nivellierung, folgt die Gleichschaltung folgt erschreckende Eindimensionalität. Jedes Kunstwerk ist gleich viel wert, weil es irgendwer irgendwo schon gut finden wird. William Shakespeare steht mit Hedwig Courths-Mahler und Dan Brown auf einer Stufe, Die Kompositionen Bachs und Schönbergs tanzen mit den Songs eines Dieter Bohlen oder Michael Jacksons, Chuck Norris darf im neusten Tarkowskij-Film eine Hauptrolle spielen und ohnehin haben sich alle lieb und schätzen den Geschmack des jeweils anderen. Über Kunst wird nicht gestritten und nicht polemisiert sondern geredet: „Du ich weiß ja, dass du Twilight magst. Und du ich kann das auch voll nachvollziehen, auch wenn ich deine Meinung nicht teile.“ Ein grauenhafter Gedanke und das Ende jeder gewitzten ästhetischen Auseinandersetzung.

Aber existiert es? Das gesunde dazwischen? Der Ausgleich zwischen Objektivität und Subjektivität? Kann man im postpostmodernen Zeitalter Kunst noch kritisch bewerten und für sein Urteil ein gewisses Maß an Objektivität fordern, dass es wertvoller macht als andere Urteile? Immerhin kann es doch nicht angehen, dass eine Meinung wie „Hammer krasser Film, voll blutig“ gleichzusetzen ist mit einer feinsinnigen Analyse von Text und Subtext. Immerhin brauchen wir Kritiker, wir professionellen Rezipienten, wir aufgeklärtes Publikum auch irgendeine Existenzberechtigung und sei sie noch so dünn.

Versuchen wir uns erst einmal nicht im Regress. Postulate der Antike, der Klassik und des Realismus haben immer wieder versucht aufzuzeigen, welche Kriterien für die Qualität eines Kunstwerks entscheidend sind und haben dabei mitunter in fundamentalen Fragen divergiert. Ästhetische Erscheinungen der Moderne und Postmoderne wie die Zwölftonmusik, die Pop-Art und der Expressionismus haben zu Genüge den Beweis erbracht, dass Kunst auch funktioniert, ohne dass sie Regeln einer klassischen Harmonien- oder Schönheitslehre erfüllt. Künstler wie Kasimir Malewitsch haben gar den Erweis gebracht, dass nicht einmal vordergründige Komplexität notwendig ist, um ein begeisterndes Kunstwerk zu schaffen. Der Traum der klaren Kriterien ist also definitiv ausgeträumt und dies hat auch absolut seine Berechtigung. In einem engen gelehrten Korsett, in einem streng definierten Rahmen – was sein darf, was sein muss – könnte keine ästhetische Evolution stattfinden, keine Avantgarde und kein Bruch der Regeln. Diese jedoch sind gerade essentiell für die Entwicklung der Kunst an und für sich.

Wenden wir uns also der Postmoderne zu, dem Relativismus, dem Funktionalismus, der Systemtheorie und ähnlichen Phänomenen: Kunst ist, was als Kunst definiert wird, gut ist was funktioniert, das Primat der Schönheit wird durch das Primat des Interessanten abgelöst, gut und schlecht sind relative Begriffe. In diesem Kunstverständnis sind Werturteile tatsächlich vollkommen subjektiv, relativ und stets rezipientenabhängig. Der eine mag nun mal den wüsten Metal von Sepultura, der andere ist eher in die bittersüßen Melodien Arcade Fires verliebt und der Dritte kann nicht genug bekommen vom trockenen Stoizismus eines Tom Waits. Niemand von dieser Rezipienten kann von sich behaupten, für sich den besseren Geschmack gepachtet zu haben. Recht haben alle irgendwie, eben in ihrem subjektiven Kunstverständnis? Aber halt! Sind sie da nicht, die Kriterien, die Maßstäbe, an denen sich Kunst zu messen hat, die scheinbar von der Postmoderne abgelöst wurden. Der Sepultura-Fan mag es laut, krachig und wütend, der Arcade Fire Genießer liebt zuckersüße Melodien und emotionalen Bombast und der Tom Waits Verehrer mag trockene und ehrliche Lakonie und subtile Melancholie. Nur, da ihr Kunstverständnis subjektiv ist, heißt dies noch lange nicht, dass es von bestimmten Kriterien abhängt…

…und das ist dann auch der Punkt, an dem die „professionelle“ Kritik gerettet wird. Halten wir fest: Kunst ist subjektiv, jeder hat einen anderen Geschmack und jeder macht diesen Geschmack von bestimmten Kriterien abhängig. Eben genau jene Kriterien ermöglichen es, den subjektiven Geschmack zu objektivieren. Der kritische Rezipient, der Rezensent ist sich vieler möglicher Kriterien bewusst, kann diese in Kunstwerken sehen, Kunstwerke an diesen messen und dadurch zu seinem Urteil kommen. Gut ist, was funktioniert. Freilich. Aber der aufgeklärte Rezipient versucht heraus zu finden, warum eben dieses oder jenes funktioniert. Nicht „Boah ist das geil!“ sondern „Das ist genial, weil…“. Er stellt nicht einfach nur fest, dass er sich bei Kubricks Shining gruselt, sondern er erkennt die virtuosen, beklemmenden Kamerafahrten, das subtile hintergründige Knistern, das sich zu einem mächtigen Score hocharbeitet. Er erkennt Nuancen, die das Vergnügen des Kunstwerks ermöglichen. Ebenso erkennt er, was nicht funktioniert: Abgedroschene Metaphern in Romanen, plumpe Dialoge im Film, langweilige Melodien in der Musik.

Aber an dieser Stelle endet die Objektivierung noch nicht. Denn was bei dem einen Rezipienten hervorragend funktioniert, mag bei einem anderen blankes Entsetzen auslösen. Der eine schätzt das Spiel mit den großen Emotionen, wie es in Magnolia gespielt wird, der andere empfindet das selbe Szenario einfach nur als überhöht und pathetisch. Der eine liebt den schrägen, lakonischen Gesang eines Frank Black, der andere findet die Pixies genau deshalb nervtötend und infantil. Recht haben beide auf ihre Art und beide haben ihren subjektiven Geschmack anhand objektiver Kriterien objektiviert. Dass diese Kriterien divergieren ist das große Drama und zugleich Glück der gesamten Kunstkritik und Ästhetik. Die Naturalisten schätzen Kunst nahe an der Realität, die Romantiker wollen Überhöhung, Ironie und transzendentales Spiel. Die Wahrheit liegt nicht irgendwo dazwischen sondern in den Kriterien, die man präferiert, die für das eigene Kunstverständnis wichtig sind.

Dementsprechend kann der aufgeklärte Rezipient auch Schwächen an einem Kunstwerk feststellen und dieses trotzdem mögen. „Ja, ich weiß, dass das Drehbuch bei Avatar eher eindimensional ist, aber die Bilder reißen das raus.“ Hier gibt es im Falle eines Hollywood-Opus eine klare Präferenz der Bilder vor der Geschichte, während einem anderen Zuschauer womöglich die Geschichte zu wichtig ist, als dass er sie trotz großartiger Bilderwelten ignorieren könnte. Ein Dritter findet die Geschichte Avatars alles andere als eindimensional und belegt dies mit Verweisen auf den Buddhismus, die christliche Mystik, Camus und Dostojewski. Recht haben auch hier alle drei. Und wenn der Dritte auch den Film überinterpretieren mag, so gehört das ebenso zu seinem guten Recht. Denn Rezipientenabhängigkeit der Wertung bedeutet eben auch vollkommene Rezipientenabhängigkeit und damit folgerichtig Unabhängigkeit von den Intentionen des Produzenten (Dieses postmoderne Phänomen wiederum wäre ein eigenes Essay wert… mal sehen).

Kommen wir zum letzten Punkt, der dieses Themenfeld betrifft: Guter und schlechter Geschmack. Ja, es gibt ihn! Allerdings sollte man ihn nicht mit den simpelsten, eindimensionalsten (und scheußlichsten) Adjektiven belegen, die die deutsche Sprache zu bieten hat. Reden wir lieber von reifem und unreifen Geschmack. Ebenso wie die Kriterien für die Bewertung eines Kunstwerkes entscheidend für dessen Beurteilung sind, bilden sich diese Kriterien nur durch die Rezeption von Kunstwerken an und für sich heraus. Für einen fiktiven Rezipienten, der nur einen Film gesehen hat, sagen wir „American Pie“, ist dieser Film der spannendste, lustigste, unheimlichste und tragischste Film aller Zeiten. Er ist der beste und zugleich schlechteste Film aller Zeiten. Spätestens wenn dieser Rezipient Hitchcocks Psycho gesehen hat, muss er sein Urteil revidieren. Jetzt ist „American Pie“ entweder der beste oder der schlechteste Film, „Psycho“ mag plötzlich der unheimlichere vielleicht aber auch der lustigere Film sein, je nachdem woran unser fiktiver Rezipient dies fest macht. Es liegt auf der Hand, dass ein zweiter fiktiver Rezipient, der schon eine Million Filme gesehen hat, einen weitaus reiferen und fundierteren Geschmack besitzt.

Hier gilt vor allem die Feststellung: Die Kriterien wachsen und verändern sich mit der Rezeption. Dies ist ganz entscheidend, da man nicht den Fehler begehen sollte, die Kriterien als werkimmanent zu betrachten und damit wieder einer Metaphysik der Kunst anheim zu fallen. Die Kriterien sind nicht ins Werk eingeschrieben sondern in den Rezipienten. Es gibt kein abstraktes, transzendentales Ideenuniversum der Kriterien. Sie sind Konstruktionen – oder genauer gesagt konstruierte Kategorisierungen – deren sich der Rezipient (wie zuvor der Produzent) bedient, um das Gefallen oder Nichtgefallen ausdrücken zu können. Und je mehr Kunstwerke rezipiert wurden, umso mehr Kriterien und Kategorien entstehen, je mehr der Rezipient über Kameratechniken, Musikeinsatz, Takte, Tropen etc. weiß, um so besser kann er das Kunstwerk in den Rahmen seines Kriterienwissens einordnen. Dies bedeutet selbstverständlich lange noch nicht, dass zwei ideelle Rezipienten (die gleich viele Filme gesehen haben, gleich gut informiert sind) nicht dennoch zu unterschiedlichen Urteilen kommen können. Die Präferenz bestimmter Kriterien bleibt subjektiv, ist – aber dies wäre wiederum ein anderes Thema – soziobiologisch determiniert und sozialisationsabhängig.

Was bedeutet dies nun für den Kritiker? Er hat die Pflicht seine – hoffentlich vorhandene – Rezipientenreife zu nutzen, um von Kunstwerken abzuraten oder diese zu empfehlen. Im Idealfall gelingt ihm beides. Er bewertet das Werk anhand von Kriterien wie Spannung, Melodik, Progressivität, Optik, analytischen Hintergründen und so weiter und so fort. Er erklärt, warum er das Werk mag oder nicht mag, macht dies an diesen Kriterien und seinen Präferenzen fest und überlässt so dem Leser eine gewisse Freiheit zu entscheiden, ob er das Werk trotz Verriss mögen oder trotz Lobeshymne nicht mögen könnte. Insofern muss Kritik auch immer ein Stück Narzissmus beinhalten. Der Leser muss etwas in der Rezension über den Geschmack des Autoren erfahren, um besser darüber urteilen zu können, ob sich dieser mit seinem Geschmack deckt oder nicht deckt. Die gelungene Kritik muss transparent sein, sowohl was Kriterien als auch Kriterienpräferenz und Geschmack des Autoren betrifft. Dies schließt selbstverständlich Polemik, Sarkasmus und Ironie nicht aus. In den schönsten Fällen werden ja hervorragende Kritiken selbst wiederum zu Kunstwerken. Aber ob man eine gut geschriebene Kritik mag oder nicht mag, hängt wieder von den Kriterien ab, an denen man Rezensionen misst und diese sind vollkommen subjektiv… wenn auch objektivierbar.

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