Die besten Epen der 2000er Jahre

Ein Genre, dessen filmische Einordnung äußerst schwierig ist, dessen Definitionsmöglichkeiten vielseitig und ambivalent sind… Traditionell ist ein Epos eine Versschöpfung, eine lyrische Erzählung im Stile der Ilias oder des Nibelungenliedes. Jedoch hat sich die Definition des Genres im Laufe der Zeit, der Geschichte der Medien gewandelt und erweitert. So definierte der Philosoph und Literaturkritiker Georg Lukacs das Epos als „die Gestaltung einer geschlossenen Lebenstotalität“, die sich von der privaten Sicht eines Romanes abgrenze. Die vorwiegend historischen und zugleich  universellen Topoi epischer Werke wurden besonders im klassischen Monumentalfilm der 50er Jahre vielfach bearbeitet (Ben Hur, Die zehn Gebote). Filmkritikguru Roger Ebert machte die Definition des epischen Kinos schließlich an seiner visionären Kraft fest (um im selben Atemzug ordentlich über Pearl Harbour zu lästern). Aber genug des Vorgeplänkels: Wir verstehen hier unter epischem Kino große, ausladende Filme: Sittengemälde, historische und aktuelle Panoramen, monumentale Gemälde, universelle Visionen und Gedanken und natürlich alles was irgendwie in diesen großen Rahmen, in diese schwammige Bezeichnung miteingeschlossen werden kann (Darin fallen übrigens auch einige bei den Fantasyfilmen, Tragikomödien oder Thrillern erwähnte Titel, die hier allerdings kein zweites Mal aufgeführt werden). Also dann die Besten des Jahrzehnts, wie immer mit kurzer Beschreibung und audiovisuellem Anschauungsmaterial unmittelbar nach dem Break.

Tiger and Dragon [Ang Lee]

(China 2000)

Groß und opulent, aber auch verspielt, anrührend, mitunter sogar komisch ist das fantastische Martial Arts Epos Crouching Tiger, Hidden Dragon. Angesiedelt im China des 18. Jahrhunderts erzählt Ang Lee eine Geschichte um Liebe, Kampf, Freiheit und ein besonderes Schwert. Dabei überwinden seine Protagonisten alle Gesetze der Schwerkraft und zeigen unterstützt durch subtilen CGI-Einsatz Choreographien, die mitunter mehr an Tänze als an klassische Kampfhandlungen erinnern. Hinzu kommen die wunderschönen Landschaftspanoramen, die sorgfältig ausgewählten Kulissen und Kostüme und eine grandiose, pathetische Gesamtatmosphäre, die für ein einmaliges Kinoerlebnis sorgen.

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

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There will be Blood [Paul Thomas Anderson]

(USA 2007)

Von der wunderschönen Landschaft des vorindustriellen Japans zur kargen amerikanischen Steppe des beginnenden 20. Jahrhunderts. In Paul Thomas Andersons There will be Blood spielt Daniel Day Lewis einen Ölmogul, dessen Gier zu seinem Verhängnis wird. Viel wurde schon gesagt zu der außergewöhnlichen Leistung des Hauptdarstellers. Aber auch darüber hinaus ist There will be Blood ein großes, opulentes Meisterwerk: Die Parallelisierung von religiösem und ökonomischen Wahn, die beeindruckende tote Landschaft, unter der das schwarze Gold schlummert, die herausragende Arbeit des zweiten Hauptdarstellers Paul Dano und nicht zuletzt die epische geistige Schlacht um Macht, Moral und Geld machen There will be Blood zu einem epochalen Gewitter und einem beeindruckenden Panorama der menschlichen Abgründe.

Gangs of New York [Martin Scorsese]

(USA 2002)

Und noch einmal die dunklen Seiten Amerikas. Martin Scorseses berauschender „Gangs of New York“ erzählt die Geschichte der Vereinigten Staaten von der Straße aus. Irische Einwanderer, organisiertes Verbrechen, kriminelle Gangs, Prostitution, Gewalt… das New York in diesem Film ist ein dunkler und dreckiger Moloch, ein Sündenfuhl, zugleich aber auch ein Sinnbild für die wortwörtlich unbegrenzten Möglichkeiten, den Traum nach Größe, die Hoffnung auf den Aufstieg und das Streben nach Freiheit und Glück. Gangs of New York ist ein spannender Historienthriller, ein episches Sittengemälde, ein Drama um universelle, menschliche Eigenschaften und das grandiose Panorama der düsteren Seiten des jungen Amerikas, wie sie fast schon vergessen sind.

Das weiße Band [Michael Haneke]

(Deutschland, Schweiz 2009)

Ja, es ist durchaus diskussionswürdig, ob Michael Hanekes Meisterwerk hier eingeordnet werden kann. Zu den besten Filmen des letzten Jahrzehnts gehört die „Deutsche Kindergeschichte“ jedoch zweifellos. Und trotz der Ansiedlung im Mikrokosmos eines norddeutschen Dorfes besitzt der Film viele Ingridenzien, die ihn zu einem Epos werden lassen: Die universelle Moral, die Fabelhaftigkeit der Geschichte, der totale, strenge Blick Hanekes, der einen überschaubaren Bereich nutzt, um eine ganze Epoche zu charakterisieren. Das weiße Band ist ein kontroverser und streitbarer Film. Ein Film der ein klares Anliegen hat und dieses auch nie verbirgt. Aber auch ein Film mit einem beeindruckend strengen, übergenauen Blick, ein Film mit unheimlich präzisen Bildern in der Tradition Bergmans und Godards, ein Film, der mit Schatten, Licht und Dunkelheit spielt und dabei in seiner kleinen Welt epische, symbolhaltige und faszinierende Bilder generiert. Wahrscheinlich tatsächlich ein episches Anti-Epos, ein überaus strenges, aber auch kritisches Sittengemälde und ein Meisterwerk das außergewöhnlich viel Diskussionsstoff über Ebenen, Metaebenen und darüber hinaus bietet.

Gladiator [Ridley Scott]

(Großbritannien, USA 2000)

Regielegende Ridley Scott wandte sich zu Beginn des neuen Jahrtausends historischen Stoffen zu. Seine Version der antiken Welt hat jedoch nichts mit den glorifizierenden, verkitschten Historienepen der 50er und 60er Jahre gemein. Stattdessen setzt Scott auf viel Düsterpathos, ungefilterte, rohe Gewalt und dunkle, traumwanderische Bilder. Gladiator ist ein Monumentalfilm, der die Tradition sucht, findet und schneidet. Ein historisches Epos, dass im Taumel seiner schmutzigen Schlachten untergeht und dahinter eine beinahe transzendentale Schönheit offenbart. Natürlich auch garniert mit viel Popcorn-Flair, opulenten Bildern, einer publikumswirksamen Story und hollywoodaffiner Atmosphäre. Die durch und durch gelungene Ankunft antiker Motive im postmodernen Mainstreamkino.

Der Mongole [Sergei Bodrow]

(Mongolei, Russland 2007)

Bombastische, teure, historische Epen sind kein exklusives Privileg Hollywoods. Der erste Teil der als Trilogie angelegten Lebensgeschichte Dschingis Khans hat alle Zutaten, die ein großer Monumentalfilm benötigt. Das in der Mongolei für über 25 Millionen Dollar gedrehte Epos erzählt von der Kindheit und Jugend des großen mongolischen Schlachtherren und Herrschers, der ein ganzes Volk einigte und zahlreiche Länder eroberte. Geschildert wird diese Geschichte in beeindruckenden Bildern, mit herausragend ausgearbeiteten Schlachten und Szenarien. Verklärt wird hier Gott sei Dank so gut wie nie. Stattdessen dominieren Impressionen vom harten, zehrenden und mitunter auch grausamen Leben in der asiatischen Steppe. Ein Meisterwerk, dass den Vergleich mit ähnlich angelegten Epen aus Übersee nicht zu scheuen braucht.

City of God [Fernando Meirelles]

(Brasilien 2002)

Die Verfilmung von Paulo Lins Roman Cidade de Deus ist ein realistisches Sittengemälde des harten Lebens in den Armenvierteln Rio de Janeiros. Um dies zu erreichen besetzte Regisseur Fernando Meirelles seine Protagonisten fast vollständig mit Jugendlichen aus den ärmsten Gegenden Brasiliens. Das Ergebnis ist beeindruckend authentisch, bedrückend und bewegend; ein schonungsloser Einblick in die Abgründe Rios, zugleich aber auch eine epische Geschichte über die Hoffnung nach dem Aufstieg und der Flucht aus den prekären Verhältnissen. Vollkommen zurecht vielfach als einer der besten Filme des letzten Jahrzehnts deklariert und auch nach fast zehn Jahren immer noch aktuell und berauschend.

Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford [Andrew Dominik]

(USA 2007)

Der Western ist tot… es lebe der Western. Der Spätwestern Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford feiert und betrauert die Melancholie einer untergehenden Epoche als episches Epitaph. Heldenmut, der klassische Kampf Mann gegen Mann, die Suche nach Freiheit und alle anderen klassischen Western-Ingridenzien rücken weit in den Hintergrund. Stattdessen sehen wir müde, ausgelaugt, vom Schicksal gebeutelte Männer, die ebenso wie die Epoche auf ihr eigenes Sterben warten. Inszeniert wird dieser Abgesang als epischer, langsam erzählter Bilderrausch von kargen Landschaften und zerschundenen Gesichtern. Gewaltig, groß und zugleich still und introspektiv. Ausufernd, opulent und zugleich karg und spartanisch. Ein Anti-Epos, dessen puristische Trauer wie ein Sinnbild des Todes generell wirkt und zugleich eine faszinierende Abrechnung mit Helden- und Westernmythen.

Izo [Takashi Miike]

(Japan 2004)

Um den Tod geht es auch in Takashi Miikes düsterem Samuraiepos Izo: Ein untoter Krieger reist durch Zeiten und Länder und tötet alles, was ihm vor die Klinge gerät. Der ungewöhnliche und herausfordernde Izo generiert sich als abseitiges, surreales Anti-Epos zwischen pathetischen Kampfszenen, trashigen Splattereinlagen, größenwahnsinnigen satirischen Spitzen gegen Politik und Religion (auch der Kaiser, Buddha und sogar Gott werden zu Opfern des zeitreisenden Racheengels) und wunderschönen Bildern. Hinzu kommt die herausragende Musik des japanischen Anti-Folk-Sängers Kazuki Tomokawa. Izo ist ein ungewöhnlicher, komplizierter und teilweise schwer zu konsumierender Film, aber auch ein episches Kunstwerk, Machwerk, Meisterwerk, das keinen Zuschauer kalt lässt.

Nachrichten aus der ideologischen Antike [Alexander Kluge]

(Deutschland 2008)

…Und es geht immer noch eine Spur außergewöhnlicher. Kulturapologet, Experimental-Regisseur, DCTP-Gründer Alexander Kluge verfilmt das Kapital von Karl Marx, orientiert an den Verfilmungsplänen der russischen Regielegende Eisenstein (Panzerkreuzer Potemkin), ausgedehnt auf sagenhafte 570 (!) Minuten Spielzeit. Das spottet natürlich jeder Beschreibung, ist eine ausufernde Fahrt durch Bilder, Gedanken, Interviewfetzen und Clownerien und kann einfach als nichts anderes denn episch bezeichnet werden. Wie es sich für Kluge gehört, pendelt das überambitionierte Werk ständig zwischen Genie und Wahnsinn, pffifigen geistreichen Gedanken, komplizierten postmodernen Doppelböden, unsinnigen Gedankenexperimenten und tiefsinnigen Reflexionen. Ein verheerender multimedialer Strom, ein dekadentes Filmepos und ein unvergleichlicher kultureller Reigen. Groß, beeindruckend, fordernd und erschöpfte Zuschauer zurücklassend.

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Erstveröffentlichung: 2010