Die besten surrealen Filme und die besten Mystery Filme der 2000er Jahre

Im Zuge des „The sixth Sense“-Erfolges 1999 erlebte das US-Mystery-Kino zu Beginn des neuen Jahrtausends eine wahre Blütezeit. Zahllose Filme schossen aus dem Boden, meistens mit sich allzu sehr ähnelnder Struktur: Seltsame, irreal erscheinende Ereignisse, eine dunkle diffuse Atmosphäre und schließlich gegen Ende ein vermeintlicher Mindfuck, der die mysteriösen Ereignisse aufklärte. Das Genrekino rieb sich mehr und mehr selbst an seinen abgedroschenen Strukturen auf und statt wirklich interessanter Variationen bekam man zu guter Letzt immer das Gleiche zu sehen (Wodurch schon bei Beginn des x-ten Mysterystreifens eigentlich nur noch die Frage im Raum stand: „Gibt es eine psychologische Erklärung oder eine durch übersinnliche, übernatürliche Phänomene?“) Gott sei Dank gab es auch erwähnenswerte Ausnahmen; und diese bewegten sich fast vollständig abseits dieser vielbetretenen Pfade: Filme die verschrobener waren, mysteriöser, merkwürdiger, diffuser und vor allem surrealer…

Und damit wäre auch schon der Link zum zweiten wesentlichen Genre gesetzt, das in diesem Artikel Erwähnung findet: Dem surrealen Kino.
Eigentlich ist es schon laneg tot, eigentlich war es schon immer tot, nur eine Randerscheinung der Filmindustrie, mit gerade mal einer Hand voll berühmter Namen aufwartend (Jodorowsky, Bunuel… und das wars eigentlich fast schon). Aber gerade hier lohnen sich immer wieder Erkundungstouren. So entdeckt man bei diesen nicht nur, wieviel das Mainstream-Mysterykino vom klassischen Surrealismus geklaut  entliehen gelernt hat, sondern entdeckt auch spannende postmoderne Hybriden aus Mystery, Noir und klassischem Surrealismus.

Zudem zeigt der Blick insbesondere nach Nord- und Osteuropa, dass der surreale Film keineswegs beim Goldenen Zeitalter und El Topo stehen geblieben ist, sondern dass es hier sehr viele spannende und faszinierende Variationen des Spiels mit der Realität, Irrealität und Surrealität gibt: Drama, Horror, Psychogramm, Komödie… der Genrevielfalt im surrealen Kino sind kaum Grenzen gesetzt. Also dann: Verlassen wir die Grenzen der Logik und arbeiten wir uns langsam durch ein äußerst vielseitiges, experimentierfreudiges und sehenswertes Jahrzehnt des Surrealen, Übernatürlichen, Mysteriösen, Chiffrierten und jeder denkbaren Erklärung Spottenden…

Mulholland Drive [David Lynch]

(USA 2001)

Jaja… der Lynch, der David. Nimmt sich klassische Hollywood-, Film Noir,- Mystery- und Horrorversatzstücke und fragmentiert diese bis zur Unkenntlichkeit. Zerfasert die Sprache, die Handlungen, die Atmosphäre, episodiert, bis von dem ursprünglichen Gerüst nur noch vage Schatten vorhanden sind. In Mullholland Drive gibt er seinem Kuriositätenkabinett gar noch eine beachtliche satirische Note hinzu, schwelgt in merkwürdigen Zeitschleifen und beschäftigt dann damit Cineasten, normale Zuschauer sowie Filmtheoretiker auf der ganzen Welt. Denn Mulholland Drive gelingt es immer den Bogen vom abgehobenen, surrealen zurück zum klassischen Neo Noir Thriller zu spannen, gerne auch mit Umweg über die Hollywood-Satire, den Düsterhorror und sogar den Liebes- und Erotikfilm. Die wohl gelungenste Verknüpfung von publikumstauglicher Unterhaltung und verquerem Arthouse-Surrealismus.

Brand upon the brain [Guy Maddin]

(Kanada 2006)

Während David Lynch mit seinen Surrealismus/Mystery/Noir-Hybriden zumindest noch ansatzweise die großen Lichtspielhäuser bedienen kann, arbeitet Guy Maddins Brand upon the brain konsequent an heutigen Kinosehgewohnheiten vorbei. Der surreal, groteske Stummfilm wirkt wie eine bitterböse Fusion von andalusischen Hunden, verräterischen Herzen und zweitausend irren Maniacs. Eine wahnwitzige, visuell und auditiv höchst aggressive Tour de Force durch mysteriöse Albtraumlandschaften, klassische Monsterhorrorrefugien, menschliche Abgründe und sarkastisch frivole Variété-Freakshows. Vollkommen neben der Spur, verstörend, belustigend, phantastisch, mitreißend, aber alles andere als irgendwelche gängigen Erwartungen befriedigend.

Swimming Pool [François Ozon]

(Frankreich 2003)

Wenn das französische Regie Enfant Terrible Francois Ozon sich anmacht, einen Erotikthriller zu drehen, kommt vieles dabei heraus, nur kein ordinärer Erotikthriller. Ozon mischt in „Swimming Pool“ Elemente des klassischen Thrillers mit nackter Haut mit einem psychologisch tiefgreifenden Zweipersonen-Kammerspiel mit mysteriösen Geschehnissen mit einer gehörigen Portion Surrealismus. Heraus kommt ein faszinierender Mystery Psychothrillerbastard, der ebenso abstrakt wie konkret körperlich ist, der betört, schmerzt, Fragen aufwirft und gegen Ende dreckig feixend ein verwirrtes Publikum zurücklässt. Ein unerhörter Trip in die Abgründe des Sommers und das Seelenleben seiner beiden Protagonistinnen.

Inland Empire [David Lynch]

(USA, Polen, Frankreich 2006)

Ja… Lynch…David… Hollywood – Satire … Mystery… Horrorversatz…fragmentiert — Unkenntlichkeit… Zerfasert – Sprache – Handlungen… Atmosphäre, episodiert, vage Schatten. Kuriositäten… zerfasert — in Schleifen….  Kabinette… Mystery – fragmentiert… zerfasert – Sprache/Sprachlosigkeit… episodiert, vage… Schleifen….. Hollywood? —- Mystery? —- Horror? — Satire? — Surrealismus? … Unterhaltung? … Ja… Lynch… zerfasert … fragmentiert…. konsumierbar? …zerfasert – Sprache/Sprachlosigkeit… episodiert, vage… Schleifen….. Hollywood? Publikum….? …………. Einfach nur unglaublich!

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

JETZT REINHÖREN

My winnipeg [Guy Maddin]

(Kanada 2007)

Guy Maddin fehlen zwar die Reputation und die kultig verehrende Fanbase von David Lynch, irreale, surreale, neben sich stehende Filme drehen kann er dafür mindestens genau so gut. Sein selbstreferenzielles, diabolisches Spiel My winnipeg ist eine grandiose Autobiographie, die sich selbst packt, in der Luft zerreißt und als surreale Papierfetzen über ihren Zuschauern herabregnet. Irgendwo zwischen persönlicher, authentischer Generalabrechnung, hysterischem Fiebertraum und komplexer, surrealer Weltflucht bleibt das 2007er Meisterwerk nie greifbar und greift zugleich alles und jeden an, der ihm in die Finger gerät. Auch hier bewegt sich Maddin abseits aller gängiger Konventionen und schafft damit Verzückendes, Trauriges, Verwirrendes, Lustiges, schlicht Meisterhaftes.

Stay [Marc Forster]

(USA 2005)

Einen sehr guten Zwitter aus klassischem Mysterythriller und surrealen, lynchesken Momenten stellt Marc Forsters „Stay“ von 2005 dar. Geschickt pendelt das Thrillerdrama zwischen psychoanalytischer Präzision und diffusem Realitätsverlust. Lange bleibt vieles unklar, vage und fragmentarisch angedeutet: Rätselhafte Erscheinungen, beängstigende Prophezeiungen und immer dissoziativer werdende, auseinanderdriftende Geschehnisse. Dass es zu dem surrealen Kaleidoskop eine etwas aufgezwängte – wenn auch überraschende – universelle Erklärung und Schlusspointe gibt, geschenkt. Der Film begeistert zuvor mit herausstechenden Bildern und einer spannenden, gruseligen, unkonkreten Atmosphäre, die ihn aus dem Mysteryeinheitsbrei herausheben.

Werckmeister Harmóniák [Béla Tarr]

(Ungarn 2003)

Während der Mystery des US-Kinos größtenteils von klassischer Mystery Fiction, Detektiv-Groschenheften und entschlüsselbaren Rätseln lebt, lebt das surrealistische Kinos Osteuropas und Westasiens vom Diffusen, vom Unausgesprochenen, vom Grotesken und verschachtelt Bleibenden. Werckmeisters Harmonien verkörpern genau das. Die Geschichte um einen ausgestopften Wal, apathische Massen und eine gefährliche Anstauung zahlloser Agressionen lebt von ihrer ästhetizistischen Nebulosität, ihrer Diffusion, ihrem Kreisen um sich selbst, bis sie in ein destruktives Finale mündet. Ein faszinierendes Filmexperiment, eine einzigartige Projektion fernab jeder parabolischen Dechiffrierung oder Allegorisierung.

Little Otik [Jan Švankmajer]

(Tscheschien 2000)

Und noch einmal Verstörendes von unseren östlichen Nachbarn: Jan Švankmajers surreale Farce Little Otik hat Fruchtbarkeitsobsessionen und pervertierte Kinderwünsche zum Thema. Diese führen in der surreal verfremdeten Welt zu einem monströsen – von der Hölle geschickten Bastard – der nur wenig Ähnlichkeiten mit einem menschlichen Wesen hat. Formell und inhaltlich mit David Lynchs Eraserhead verwandt, entwickelt der Film anhand dieser Prämisse eine ganz eigene Sogkraft irgendwo zwischen krudem, andersartigem Horror, pessimistischer Tragödie und absurdem Humor. Little Otik ist ein verstörender, widerlicher, schwarzhumoriger Albtraum, dessen düsterer, deprimierter Blick auf die Gesellschaft ständig mit grotesken, launischen und albernen Intermezzi kämpft. Ebenso fordernd wie resignierend, ebenso komplex wie kindlich verspielt, ebenso belustigend wie verstörend und zutiefst beängstigend.

Spider [David Cronenberg]

(Kanada 2002)

Traditionellen Mystery kreiert Regievirtuose David Cronenberg mit seinem surrealistisch angehauchten Psychodrama Spider. Dabei verzichtet der Kanadier fast gänzlich auf seinen berühmt berüchtigten Bodyhorror und liefert stattdessen ein beängstigendes Psychogramm, dass zwischen Beckett’scher Klaustrophobie, postmodernem Horror und bis auf die Knochen heruntersezierter Schizophrenie osziliert. In der unheimlichen Atmosphäre einer psychiatrischen Einrichtung wird ein vor sich hin vegetierender Patient mit den Dämonen seiner Vergangenheit und den Ängsten seiner Gegenwart konfrontiert. Festgehalten in klaustrophobischen Episoden, garniert mit einer beängstigend schmutzigen Gefängnisatmosphäre.

A Snake of June [Shinya Tsukamoto]

(Japan 2002)

Shinya Tsukamoto (Tetsuo – The iron man)  gehört zu den großen Regievirtuosen des fernöstlichen Kinos und ist zugleich ein Regisseur, der sich nur wenig in die Karten schauen lässt. Dementsprechend arbeitet seine Farce A snake of June mit vielen vagen Andeutungen, mit der Verwischung der Grenzen von Traum und Realität, mit Sehnsüchten aber auch mit Ängsten, mit Erotik aber auch mit Gewalt und der Offenlegung gesellschaftlicher Missstände. Der komplexe, verschachtelte und fragmentierte Mystery Erotikthriller ist eine düstere Tour de Force zwischen paranoidem Alptraum, überbordernder Leidenschaft und psychoanalytischer Sezierung.

Synecdoche New York [Charlie Kaufman]

(USA 2008)

Hatten wir schon bei den besten Tragikomödien des Jahrzehnts… das fantastische Meisterwerk von Kaufman kann aber gar nicht oft genug lobend erwähnt werden. Wir sehen dort Darsteller, die Darsteller verkörpern, die Darsteller verkörpern. Die Figuren entwickeln ein Eigenleben, reißen teilweise die Macht an sich, die Fiktion wird stärker als die Realität, überwindet die Realität, gebährt immer weiter Kinder und Kindeskinder, bis die Realität schließlich selbst nur noch als Spiegelung einer Spiegelung erscheint. In diesem monströsen Spiegelkabinett behandelt Synecdoche New York  Themen wie Schuld und Sühne, Sterben und Vergessen, Resignation und Tod aber auch die pure Schönheit des Lebens. Das Ergebnis ist gigantisch, größenwahnsinnig, grotesk, absurd, überartifiziell, anspruchsvoll fordernd aber auch unheimlich berauschend, mitreißend, urkomisch und schlicht berührend.

Tideland [Terry Gilliam]

(Großbritannien, Kanada 2005)

Ein großer Regisseur, der mit seinen absurden Filmen immer knapp am Mainstream vorbeischrammt, ist Terry Gilliam. Nach seinem Hollywoodflirt mit den Gebrüdern Grimm (der auch zugleich zu den uninteressantesten Werken seines Œuvres gehört), ließ er mit Tideland im wahrsten Sinne des Wortes die Puppen tanzen. Der absurd, surreale Fantasyfilm spielt mit Elementen von Alice im Wunderland und mixt diese mit grotesken, mitunter schmerzhaften Realitätskarikaturen. Ein Märchen für Erwachsene zwischen kindlicher Naivität, düsterem Horrortrip, und fantastischer Lebensbejahung. Überdreht, krude, verquer, ein großer Spaß mit dickem tiefenpsychologischem Subtext und gehöriger surrealer Breitseite.

Donnie Darko [Richard Kelly]

(USA 2001)

Während die Namen Gilliam und Lynch jedem 80er Jahre Cineasten geläufig sind, war Richard Kelly ein unbeschriebenes Blatt, als er 2001 den großen surrealistischen und absurden Vorbildern nacheiferte. Sein Film Donnie Darko ist eine hervorragende Mischung aus 80’s Satire, berührendem Coming-Of-Age Drama, überspitztem Psychothriller und surreal verzerrtem Mysteryhorror. Dabei gelingt ihm gekonnt die Gratwanderung zwischen spannender Kinounterhaltung und abseitigem Arthouse-Surrealismus, wodurch Donnie Darko sehr schnell zum Kultfilm einer ganzen Generation werden sollte.

Songs from the Second Floor [Roy Andersson]

(Schweden 2000)

Wir landen beim ganz, ganz klassischen surrealistischen Film. Das Bunuel zu seinen großen Vorbildern gehört, kann Songs from the second floor nicht leugnen. Die surreale Groteske ist eine fragmentierte Aneinanderreihung absurder Szenen und Situationen. Misslungene Zaubertricks, ein potentiell blühendes Geschäft mit Kruzifixen, wahnsinnige Dichter, nationalsozialistische Senioren…. Roy Andersson hat wahre Freude daran sein fragmentarisches Sittengemälde mit immer kruderen, abartigeren Situationen zu schmücken. Ein immer etwas neben der Spur tretendes Schaulaufen gesellschaftlicher Zerrbilder: Verstörend, artifiziell, höchst unterhaltsam.

Das jüngste Gewitter [Roy Andersson]

(Schweden 2007)

Roy Andersson zum Zweiten. Anderer Film, selber Text möglich. Auch hier entfaltet der schwedische Regisseur einen gesellschaftlichen Flickenteppich, feiert die Absurdität und Surrealität alltäglicher Ereignisse und lässt das ganze in einem einzigartigen, fragmentierten Panorama kulminieren. Andersson geht es auch immer ein Stück um das Ende der Welt, um das Armageddon, verortet im hier und jetzt, in jedem täglichen Ereignis spürbar, hörbar, riechbar. Bei ihm ist das Ende der Gesellschaft in der Gesellschaft immer schon festgeschrieben, Rollen wohnt immer schon ihre eigene Zerstörung inne und Menschlichkeit ist ohnehin nicht viel mehr als eine unmenschliche Illusion. Andersson ist der große Erbe des klassischen surrealen Kinos à la Bunuel und Tarkowski und er erledigt seinen Job mehr als gekonnt.

Über die Kunst Roy Anderssons reden wir auch ausführlich im Podcast.

JETZT REINHÖREN

The Limits of control [Jim Jarmusch]

(USA 2009)

Die zurückhaltende Form des Surrealismus präsentiert Jim Jarmusch mit seinem postmodernen und verspielten Agententhriller „No Limits of Control“. In einer relaxten, ruhigen Tour durch Europa mixt er Elemente des klassischen Agentenkinos mit einer diffusen, mysteriösen Atmosphäre und zahllosen Dialogen, die sich immer zwischen Belanglosigkeit, Philosophie, Psychologie und verschrobener Esoterik bewegen. Ein Film der Sprache und vor allem der Sprachlosigkeiten, des ungesagten Subtextes, der klaffenden Lücken im gesprochenen Wort, über den an dieser Stelle auch nicht mehr gesagt werden soll. Stattdessen sei auf unsere hauseigene Rezension verwiesen…

Hukkle [György Pálfi]

(Ungarn 2002)

Noch mehr Ruhe und meditatives Schweigen, noch mehr Ungesagtes und noch mehr diffusen Nebel bietet der ungarische Experimentalfilm Hukkle. Im Rahmen einer scheinbaren Dokumentation, erweitert durch eine scheinbare Kriminalgeschichte, umherspielend mit scheinbaren Allegorien, bleibt am Ende doch nur eine große Leere, die das filmische Experiment aber umso spannender erscheinen lässt. Dogma95 trifft Twin Peaks trifft südosteuropäische Einsamkeit trifft direkt ins Nichts. Ein Ungreifbarer, verstörender und dennoch faszinierend meditativer Film von ganz eigener Kraft, die sich aus Kraftlosigkeit nährt.

Ähnliche Artikel

Erstveröffentlichung: 2010