Die besten Dokumentarfilme der 2000er Jahre II

Wie angekündigt der zweite Teil der besten Dokumentarfilme der Dekade von 2000 – 2009…

In the shadow of the moon [David Sington, Christoph Riley]

(Großbritannien 2007)

Der Traum von der Mondlandung hat das Amerika der 60er Jahre permanent umwoben. David Sington und Christopher Riley haben sich aufgemacht der Faszination von damals nachzugehen. Dazu nutzten sie Archivaufnahmen und alte TV-Bilder ebenso wie akribisch aufpoliertes, stilisiertes und HD remastertes Material. Das Ergebnis ist nicht nur eine spannende Rekonstruktion der Apollo-Missionen von 11 – 17 sondern ebenso eine beeindruckende Bilderflut von den Stützpunkten der NASA aus hinein in die tiefen Weiten des Alls. In the Shadow of the Moon lässt das Neuartige, Besondere, Erstrebenswerte der ersten Mondflüge lebendig werden: Der Zuschauer wird hinein gerissen und fühlt sich, ehe er sichs versieht, zurückgeworfen in die glorreiche Zeit, als die Raumfahrt noch als echtes Abenteuer galt.

Kubrick, Nixon und der Mann im Mond [William Karel]

(Frankreich 2002)

Wir bleiben beim Mondspaziergang und schwenken zur irrationalen Ecke. Die beste Verschwörungsparanoia-Pseudodoku des Jahrzehnts war weder der krude Eso-Schinken Zeitgeist noch der plumpe Darkbeat-Zusammenschnitt Loose Change sondern der satirische Dark side of the Moon von William Karel. Dieser beweist auf eindrucksvolle Weise, wie die Mondlandung damals von Stanley Kubrick im Auftrag der US-Regierung inszeniert wurde. Ist natürlich totaler Blödsinn, was hier erzählt wird, wie in fast allen Filmen dieser Sorte: Mit dem Unterschied, dass Opération Lune (so der französische Originaltitel) sich zu keiner Sekunde ersnt nimmt, mit seinen Protagonisten ebenso seine Spielchen treibt wie mit seinen Zuschauern und dadurch perfekt als Karikatur von und Parodie auf die unsäglichen pseudowissenschaftlichen Verschwörungsdokus funktioniert.

Sein und Haben [Nicolas Philibert]

(Frankreich 2002)

Vom großen Menschheitstraum zu kleinen Kinderträumen. Nicolas Philibert beobachtet in seinem rührenden und wehmütigen Dokumentarfilm Être et avoir den Alltag in einer französischen Dorfschule in der Auvergne. Hier werden noch alle Schüler in einer Klasse unterrichtet von einem einzigen Lehrer. Ein halbes Jahr lang begleitet der zurückhaltende und sensible Film die Arbeit dieses Lehrers, der sich aufopferungsvoll um seine Schützlinge kümmert. Sein und Haben ist warmherzig durch und durch, hat einen feinsinnigen Blick für die kleinen und großen Widrigkeiten des Dorfschul-Seins, kümmert sich ebenso wie der im Zentrum stehende Lehrer um jedes einzelne Kind, zeigt die Eigenheiten und Besonderheiten der Heranwachsenden, was ihn zu einem herausragenden detaillierten Porträt werden lässt. Ein wunderschöner, unaufdringlicher Herbstfilm, voller Wahrheit, voller Schönheit, voller Erhabenheit.

Eine unbequeme Wahrheit [Davis Guggenheim]

(USA 2006)

Jaja… es gäbe einiges zu lästern über Al Gores Dokumentarfilm-Projekt: Eine verfilmte Powerpointpräsentation, langweiliges Gerede, aus konservativen Kreisen dann auch gerne noch der Vorwurf der übertriebenen Panikmache… Drauf geschissen. Gott Sei Dank hat Al Gore bei der Verfilmung seiner Öko-Tour nicht selbst das Regiezepter geschwungen sondern dies Davis Guggenheim überlassen. Der inszeniert die packende und wichtige – überlebenswichtige – Botschaft Gores ebenso gekonnt wie die Pausen zwischen den Vorträgen. So oszilliert der Film raffiniert zwischen leidenschaftlichem Kampf gegen die globale Erwärmung und intimen Politikerporträt. Hier wie da, mitreißend, empathisch und nicht so schnell loslassend. Al Gore ist ein Guter, egal wieviel sie lästern…

Inside deep throat [Fenton Bailey, Randy Barbato]

(USA 2005)

Deep Throat sollte zumindest den meisten Männern ein Begriff sein. Immerhin reden wir hier von DEM Pornofilm des 20. Jahrhunderts. 1972 veröffentlicht, ein Mitauslöser des Porno-Chic der 70er Jahre, mit Produktionskosten von 25.000 Dollar und Einnahmen von 600 Millionen bis dato der profitabelste Film aller Zeiten, zwischen billigem Porno und amerikanischem Popkulturgut, zwischen Kontroversen, im Dunstkreis von organisiertem Verbrechen und alberner Prüderie hat Deep Throat Geschichte geschrieben. Und genau diese Geschichte zeichnet Inside Deep Throat auf ungemein ambivalente und differenzierte Weise nach: Er lässt Akteure, Produzenten, Kritiker, Außenstehende und viele mehr zu Wort kommen, schaut ins Archiv, führt retrospektive Interviews und strukturiert somit das verworrene, komplexe Gesamtbild der Filmentstehung und Rezeption. Ein großes Stück Kulturgeschichte, ohne falsche Scham, ohne falsche Romantisierung und immer mit Blick auf das Wesentliche im Unwesentlichen.

9to5 days in porn [Jens Hoffmann]

(Deutschland 2009)

Porn again… jedoch nicht im kulturhistorischen Kontext sondern als Dokumentation der heutigen Pornoindustrie. Dieser fühlt der deutsche Dokumentarfilmregisseur Jens Hoffman in 9to5 days in porn auf den Zahn. Im San Vernando Valley wo 80% der Pornofilme gedreht werden besucht er alteingesessene Stars der Branche ebenso wie aufstrebende Pornodarstellerinnen wie Sasha Grey, spricht mit Produzenten, Regisseuren, Agenten und Aussteigern und zeichnet ein ungeschminktes, teilweise drastisches, teilweise sensibles, teilweise komisches die Alltäglichkeit des Geschäfts entlarvendes Bild der harten Branche. 9to5 veruteilt nicht, stellt nicht bloß, aber entlarvt stumm, blickt sezierend genau, mitunter schmerzhaft genau und ist ein facettenreiches, ambivalentes Kaleidoskop der Industrie, des Mythos, des Pops und der Ikonen die in der Pornoszene omnipräsent sind.

The king of kong [Seth Gordon]

(USA 2007)

Irgendwie sind es schon die subkulturellen Randthemen der Popkultur, die das letzte Jahrzehnt immer wieder für hervorragende Dokumentationen gut waren. In King of Kong geht es auch um Obsessionen, um die Obsession der Größte, Beste, Schnellste zu sein… und sei es nur an einem Spielautomaten. Seth Gordon dokumentiert die Jagd nach den High Scores in Nintendos Arcadeklassiker Donkey Kong (der erste Auftritt des Klempners Mario). Im Mittelpunkt steht besonders der besessene, tragikomische Mathematiker Steve Wiebe, der nichts unversucht lässt, um zum größten Arcadespieler aller Zeiten zu werden. Sein Kampf gegen die Highscore, gegen eine lebende Arcadelegende und für das Guinnes Buch ist eine wunderbare Tragikomödie über das Gewinnen und Verlieren, Träume und daraus resultierende Alpträume, eine schräge Fabel auf Fall und Aufstieg sowie ein Pars pro Toto für den amerikanischen Traum und die Abgründe, die sich in ihm auftun.

Man on Wire [James Marsh]

(Großbritannien 2008)

‚Besessenheit‘ ist ein Attribut, das ebenfalls auf den Mann auf dem Hochseil – Philippe Petit – zutrifft. Dieser balancierte 1974 illegal zwischen den Twin Towers des World Trade Centers. James Marsh rekonstruiert das damalige Ereignis als spannenden Heist-Movie, kramt rare Aufnahmen der Vorbereitungen heraus und mischt diese mit Interviews sowie Aufnahmen aus der Kindheit des Extremsportlers Philippe Petit. Das akrobatische dokumentierte Märchen ist eine fesselnde Auseinandersetzung mit der Obsession seines Protagonisten, mit der akribischen Vorarbeit, mit der Freiheit auf dem Seil und mit den Folgen des waghalsigen Rittes. Ein ebenso poetisch, nostalgisches, wie aufspürendes und sezierendes Meisterwerk zwischen fantastischem Höhenschwindel und nachdenklichem Epitaph auf die gefallenen Türme.

Midnight Movies: From the Margin to the Mainstream [Stuart Samuels]

(Kanada 2005)

Jaja, die Dokumentarfilme über die Kulturperipherie… Sie lassen uns einfach nicht los. Midnight Movies erzählt von der Geschichte des amerikanischen Midnight Kinos der 70er Jahre: Trash und Künstlerisches, Gewagtes, Provokantes und Außergewöhnliches. Surreales, Brutales, Billiges… Stuart Samuels liebt sie alle: Rocky Horror Picture Show genau so wie Eraserhead oder El Topo. Versehen mit zahlreichen Interviews mit Genregrößen wie David Lynch, George A. Romero, Alejandro Jodorowsky, aber auch Filmtheoretikern wie Roger Ebert entsteht ein facettenreiches Kaleidoskop des abartigen, verschmähten und schließlich doch zum Mainstream und Kult gewordenen Kinos. Ein wunderbarer Flickenteppich, ebenso bunt und konfus wie die porträtierten Filme selbst und damit Pflichtlektüre für jeden Cineasten.

http://www.cinemovies.fr/fiche_multimedia.php?IDfilm=8450

Darwins Alptraum [Hupert Sauper]

(Frankreich, Österreich, Belgien 2004)

Eine der düstersten Dokumentationen des Jahrzehnts dürfte zweifelsohne Darwin’s Nightmare sein. Der Film dokumentiert das experimentelle, gut gemeinte Eingreifen des Menschen in die Natur mit katastrophalen Folgen. Die Geschichte um das Aussterben unzähliger Fischpopulationen im Viktoriasee ist ein spannender, leidenschaftlich anklagender Ökothriller, der sich nicht nur um die evolutionsbiologischen Hintergründe kümmert sondern immer greifbar nah an den betroffenen Menschen dran ist. So gibt er den Ungehörten, den Leidtragenden eine Stimme, was ihn umso fesselnder und bedrückender werden lässt. Ein mitreißender Blick auf ein dunkles Kapitel afrikanischer Interessenspolitik zwischen Ignoranz, Korruption und fataler Misskalkulation.

Cry Freetown [Sorious Samura]

(Sierra Leone 2000)

Noch eindringlicher, noch bedrückender und noch brutaler ist der Blick von Sorious Samura auf den Bürgerkrieg in Sierra Leone im nördlichen Osten Afrikas. Die Dokumentation besteht aus Originalmaterial von den Kämpfen um die Landeshauptstadt Freetown, in der Samura unter akuter Lebensgefährdung gedreht und recherchiert hat. Er zeigt Söldner, Kindersoldaten, die nicht einmal das Jugendalter erreicht haben, Tod, Brutalität, Elend und ist dabei immer auf direktem Konfrontationskurs mit Leidbringenden, direktem Blick auf die Leidtragenden und spart nicht mit grausamen und erschütternden Bildern. Ein eindringlicher, auf den Magen schlagender Film, der ungeschönt die grauenhaften Folgen des Krieges miterlebbar macht.

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Erstveröffentlichung: 2010