Schlagwort: Jason Reitman

Marry Poppins im 21. Jahrhundert: Rezension zu Jason Reitmans Tully (2018)

Vor 55 Jahren kam ein Musical-Märchen in die Kinos, dass nicht nur sein Publikum verzauberte, sondern dessen Titelfigur darüber hinaus zum Sinnbild für die Retterin von festgefahrenen Familienstrukturen wurde. Marry Poppins (1954) war so etwas wie die Manic Pixie Dream Nanny der 50er Jahre, ein zauberhaftes Kindermädchen, das mehr als nur seinen Job tat; sie sorgte für frischen Wind im Leben des gesamten Haushalts und reparierte mit einem Fingerschnippen (und einigen wundervollen Songs) so ziemlich alles, was es in einer 50er Jahre Familie zu reparieren gab. Als die Walt Disney Company sich tatsächlich traute, 2018 eine Fortsetzung dieses Märchens auf die Leinwand zu bringen, war die Erwartungshaltung entsprechend groß: Würde es neue Akzente geben? Könnte Marry Poppins sich im 21. Jahrhundert überhaupt wohlfühlen? In dieser ganz anderen Zeit neue Wege aufzeigen? Oder wäre sie im Familienbild ihrer Zeit gefangen geblieben? Würde sie wie ein Anachronismus wirken? Oder gar im schlimmsten Fall, längst überholte Erziehungs- und Lebensweisheiten wieder aufwärmen? Bei all diesen Fragen zum Release der Marry Poppins Rückkehr im November wurde vollkommen übersehen, dass sie eigentlich überhaupt nicht mehr notwendig war, hatte doch gut ein halbes Jahr früher ein ganz anderer Film bereits das Konzept einer Manic Pixie Dream Nanny auf die Leinwand gebracht; deutlich tiefer auf dem Radar, aber für das Kinojahr und das Grundkonzept dieses Narrativs mindestens ebenso beachtenswert, wenn nicht gar beachtenswerter. Tully (2018) vom Juno-Regisseur Jason Reitman macht all das, was Marry Poppins ein halbes Jahrhundert vor ihm tat. Nur ohne die Musicaleinlagen, dafür aber um einiges realistischer, skurriler, authentischer und nicht zuletzt mutiger.

Weiterlesen