Schlagwort: Symbolismus

The Last Duel – Ridley Scotts feministischer Vorstoß ins Mittelalter

Es gibt ja Leute, die behaupten, dass Ridley Scott seine beste Zeit als Regisseur hinter sich hat und mittlerweile nicht mehr Garant für gelungene Filme ist. Ich würde dem mal ganz dreist entgegenhalten, dass das Zeitfenster, in dem Scott ausnahmslos herausragende Filme produziert hat, extrem klein ist; fünf Jahre, um genau zu sein. Zwischen den späten 70er und frühen 80er Jahren hat Ridley Scott extrem gute, Genre prägende Filme produziert, namentlich die Sciende Fiction Werke Alien, Blade Runner und den Orwell Apple-Werbespot sowie das Historiendrama Die Duellisten. Und seit dieser Phase ist er – also praktisch seit jeher – ein Hit and miss Regisseur. Für jeden großartigen Film findet man den entsprechenden durchschnittlichen Gegenentwurf, ganz gleich ob in den 80ern, 90ern oder im 21. Jahrhundert. Ja, Prometheus (2012) war wirklich nicht gut, aber waren Die Akte Jane (1997) und Legende (1985) so viel besser? Ja, mit Alien: Covenant (2017) hat Scott der Alien-Reihe einen kleinen Todesstoß versetzt, aber ist ihm der Todesstoß für eine potentiell starke Filmreihe nicht schon 15 Jahre zuvor mit Hannibal (2001) „geglückt“? Bei aller Liebe zum Lebenswerk dieses Regieveteranen: Ob ein neuer Ridley Scott Film ein guter Film wird, muss immer mit einem Fragezeichen versehen werden, egal in welchem Genre er sich gerade herumtreibt. Mit The Last Duel (2021) hat er sich heuer für den Historienfilm entschieden, ein Genre in dem er auch schon mal mehr, mal weniger qualitativ erfolgreich unterwegs war. Und dann auch noch nach einer wahren Begebenheit und mit einer feministischen Thematik. Das Fragezeichen bleibt also erst einmal stehen…

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Die besten Mysteryfilme der 70er Jahre

Uff… immer wenn ich über Mysteryfilme schreibe, habe ich das Gefühl meine eigene kleine Genredefinition auf eine ganze Reihe von Filmen zu drücken, die dort eigentlich gar nicht dazu gehören. Zumindest wenn ich die englische Wikipedia zum Abgleich heranziehe, trifft das auch durch und durch zu: Dort wird nämlich alles in den Mysterybereich gepackt, was mit klassischen Detektivgeschichten und Murder Mystery Puzzles zu tun hat. Genau diese beiden Variationen habe ich ja bereits in vorangehenden Retrospektiven abgehandelt.

Also an dieser Stelle noch einmal kurz und knapp auf den Punkt gebracht, was für mich in den Mystery-Bereich fällt: Ich bin ein Jugendlicher der 90er Jahre und folgerichtig wurde das Mysterygenre für mich in einem bestimmten filmischen Kontext nahezu inflationär benutzt. Seine Kinder waren Akte X und The Outer Limits. Vielleicht auf Twin Peaks. Auf jeden Fall aber The Sixth Sense, Jacob’s Ladder oder auch Flatliners. Das waren die Filme und Serien denen das Label aufgedrückt wurde und denen ich dann schließlich auch das Label aufgedrückt habe und bis heute aufdrücke. Es handelt sich dabei um Filme, die nicht unheimlich und brutal genug sind, um in den Horrorbereich zu fallen. Filme die nicht märchenhaft, fantastisch genug sind, um Fantasy zu sein, aber eben auch nicht realistisch genug, um in der Thriller-Schublade zu landen. Nicht nur, dass ihnen für diese Kategorie die intensive Spannung fehlt, oft besitzen sie auch eine übernatürliche, spirituelle Komponente, die sie von deren Realismus entfernt. Eventuell angereichert mit Science Fiction Elementen, aber eben doch nicht technologisch, außerirdisch oder futuristisch genug, um diesem Genre zugeordnet zu werden. Für den Surrealismus sind sie in ihrer Handlung zu klar und bodenständig und für das Drama zu abgehoben und transzendental.

Puh… schaut man sich das an, klingt es fast so, als wäre Mystery ein Genre der Defizite. Eine kleine fantastische Resterampe für alles, was zwischen Realismus und Surrealismus, zwischen Crime und Fantasy, Science und Fiction keinen Platz findet. Mystische, mythologische und spirituelle Filme, die sich aber nie auf ein Glaubenssystem festlegen, sondern in Fragezeichen und Chiffren operieren und mit diesen sowohl sanft gruseln als auch verzaubern und das Publikum zum Miträtseln und Mitphilosophieren einladen. Genau auf dieser Resterampe bewegen sich die folgenden – herausragenden Filme: Picknick am Valentinstag und Die letzte Flut als Peter Weirs Auseinandersetzung mit dem Spirituellen in unserer Welt. Herz aus Glas als Werner Herzogs hypnotische Reise ins deutsche Herz der Finsternis. Walkabout als mythischer Trip in die australische Wildnis; Brewster McCloud und The Stepford Wives als satirisch groteske Spielwiesen des Genres; und Die unheimliche Begegnung der dritten Art als Alien-Geschichte, die fast komplett ohne Science Fiction Momentum auskommt. Meinetwegen ist mein Mysterybegriff der Begriff für eine Resterampe; aber eine, auf der es sich herrlich wühlen lässt.

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Die besten Psychothriller der 70er Jahre

Vollkommen zurecht dürfte jetzt so mancher Leser, so manche Leserin anmerken, dass das Subgenre Psychothriller ein extrem schwammiges Subgenre ist. Immerhin verhandeln fast alle Thriller ohnehin Ticks und Neurosen, Menschen, die sich geistig am Limit bewegen und psychische Grenzen überschreiten. Seien es die wahnsinnigen Mörder im italienischen Giallo, die neurotischen Gestalten in Hitchcocks Dioramen oder die lebensmüden Killer und Verbrecher diverser Detektivgeschichten, Cop- und Gangsterthriller: Psychische Extreme finden sich im Genre überall. Und daher sei an dieser Stelle angemerkt, dass so mancher Film aus einer vorherigen oder kommenden Bestenliste gut und gerne auch hier stehen könnte. Der Unterschied besteht größtenteils im Fokus. Und dieser liegt bei all den gleich genannten Thrillern auf der Psyche der Protagonisten und Protagonistinnen. In Der Mieter erzählt Roman Polanski vom Abgleiten eines einfachen Menschen in den Wahnsinn, induziert von außen und innen, wobei die Grenzen zwischen beidem verschwimmen. In Images inspiziert Robert Altman eine Frau, die sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit verliert, und in der Hitchcock-Hommage Die Schwestern des Bösen weiß die Protagonistin überhaupt nicht mehr, wer oder was sie ist. Magic – Eine unheimliche Liebesgeschichte treibt gar einen spielerischen Schabernack mit dem Geist des Protagonisten und wandelt dabei gerne auch auf ironischen Gruselpfaden. Etwas anders funktionieren Martin Scorseses Taxi Driver und der australische Genrebeitrag Ferien in der Hölle, in der die kaputten Seelen, die im Mittelpunkt stehen, Folgen und Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Traumas sind. Egal wie oder warum, der menschliche Geist wird in allen kommenden Filmen auf eine harte Probe gestellt…

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Monos – Zwischen Himmel und Hölle (2019): Jugend, Naturzustand und Krieg

Bellum omnium contra omnes – Der natürliche Zustand des Menschen ist ein Krieg aller gegen alle. Jeder einzelne ist in erster Linie auf sein eigenes Überleben ausgerichtet. Um dieses zu gewähren, wird vor keiner Schandtat zurückgeschreckt. Der Mensch, der des Menschen Wolf ist, lügt, betrügt, raubt und mordet, um seine maximale Stärke gegenüber allen anderen zu behaupten. So sieht die menschliche Gesellschaft im Naturzustand aus, zumindest wenn es nach dem britischen Philosophen Thomas Hobbes (1588 – 1679) geht. Vor allem sein berühmtestes Werk Leviathan (1655) ist der radikale Gegenentwurf zu all den optimistischen und humanistischen Politik- und Moralphilosophen der Aufklärung. Wo bei Rousseau der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, ist er bei Hobbes eine animalische, brutale Entität. Wo Menschen bei Locke zu einer Gesellschaft zusammenfinden, müssen sie bei Hobbes in einen solchen Rahmen gezwungen werden. Der monströse Leviathan bedeutet dabei sowohl Unterdrückung des Individuums als auch Ermöglichung einer funktionierenden gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung. Was jedoch, wenn der ungeheuerlichen Ordnung selbst das Kriegerische immanent ist? Und was, wenn diesem Leviathan, der seine Untertanen in ein kriegerisches System gepresst hat, der Kopf abgeschlagen wird? Alejandro Landes‘ Monos (2019) geht dieser existenziellen Frage nach, irgendwo zwischen Herr der Fliegen, Apocalypse Now, Frühlingserwachen und Hobbes’scher Naturphilosophie.

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Die besten Horrorfilme der 70er Jahre X

Ach ja, die lieben Kleinen. Sie sind es, die im Mittelpunkt unserer zehnten 70er Jahre Horror-Bestenliste stehen. Es gab nicht wenige von ihnen im unheimlichen Kino der Dekade, und das auch in allen Altersstufen und allen Schattierungen: Von mordlustigen Kinderbanden (Ein Kind zu töten…) über degenerierte kleine Monster (Die Brut) bis zu unsicheren Teenagern, die in ihrer Pubertät mehr entdecken als sexuelles Verlangen und Akne (Carrie). Dabei schälen sich gerade in dieser Zeit zwei sehr spezifische Varianten des infantilen Schreckens heraus. Zum einen der Blick auf Kinder als das pure Böse, so zum Beispiel im satanischen Klassiker Das Omen, zum anderen Kinder und Jugendliche als Opfer äußerer Einflüsse, die ihnen die Unschuld rauben und sie zu Monstern machen, am prominentesten vertreten durch den Besessenheitsklassiker Der Exorzist. In Variante Nummer Eins sind es die Erwachsenen, die ihre Haut gegen den blutrünstigen Nachwuchs verteidigen müssen, in der zweiten Variante ist der Nachwuchs sowohl Opfer als auch Täter und befindet sich schließlich im Kampf gegen seine Umwelt und sich selbst. Auf die ein oder andere Weise, die lieben Kleinen konnten uns im Horrorkino der 70er Jahre eine verfluchte Angst einjagen.

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His House (2020) auf Netflix – Horror als Flucht- und Asyl-Parabel

Horrorfilme sind immer auch ein Spiegel ihrer Zeit. Von der Auseinandersetzung der Deutschen mit dem erstarkenden Faschismus im Cabinet des Dr. Caligari über die Verarbeitung des japanischen Traumas der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki in den Godzilla-Filmen bis hin zur Widerspiegelung des Konservatismus der Reagan-Ära im amerikanischen Slasherfilm der 80er Jahre waren Horrorfilme immer politisch: Egal ob progressiv, konservativ oder regressiv, das unheimliche Kino eignet sich einfach bestens dafür, ohnehin schon vorhandene Ängste zu multiplizieren oder in fantastischen Schrecken zu transferieren. Auch wenn in den letzten Jahren durch den Post-Horror öfter von einer Politisierung oder zumindest Repolitisierung des Genres die Rede war, so finden sich in der Geschichte des Horrorfilms doch durch alle Epochen politische Motive, teils im Subtext, oft genug aber auch ganz direkt in der Motivik einzelner Filme. Umso erstaunlicher ist es, dass die Flucht- und Migrationsbewegungen in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre bis dato im gruseligen Film kaum verarbeitet wurden. Der Netflix-Film His House (2020) von Newcomer Remi Weekes ist ein Gruselschocker, der genau dies tut. Er rückt die Geflüchteten in das Zentrum seiner Handlung und erzählt ihre Traumata aus ihrer Perspektive; als düstere Spukgeschichte, irgendwo zwischen Horrormär und beängstigender Parabel.

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Die besten Giallo-Filme der 70er Jahre II

Dass der Giallo in den späten 70er Jahren seinem Ende entgegenging, ist bezeichnend für die generelle Entwicklung des Horror-Nischenkinos der damaligen Zeit. Hatten sich die Gialli in ihrer Anfangszeit in den frühen 60er Jahren vor allem als klassische Murder Mystery Variante made in Italy präsentiert, entwickelten sie sich im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einem Genrevehikel für Sex und Gewalt jenseits des Mainstreams, dem diesbezüglich damals noch enge Grenzen gesetzt waren. Genau jene Grenzen begannen sich in den 70er Jahren jedoch aufzulösen: Dank New Hollywood und einiger sehr erfolgreicher Terrorfilme amerikanischer Machart, fand die Gewalt im Kino heraus aus der Nische. Und plötzlich schien es die heimliche Gewalt-Nummernrevue nicht mehr zu brauchen (ein ähnliches Schicksal erfuhren auch die Vampirfilme Hammer’scher Prägung). Die Giallo-Filme sind im Grunde genommen an ihrem eigenen Erfolg untergegangen, inspirierten sie doch das aufkommende Slasher-Genre, Gore- und Splatterblockbuster, die Mord und Todschlag endgültig im Mainstreamkino verwurzelten und direkt zu dessen Horroreskapaden in den 80er Jahren führten. Der wichtigste Film in dieser Entwicklung ist wohl Im Blutrausch des Satans, der vollkommen zurecht als Slasher-Prototyp gilt. Im Kampf gegen die eigene Beduetungslosigkeit – und dem Genre immanente Redundanz – versuchten viele Giallo-Ikonen neue Wege einzuschlagen und produzierten dabei die faszinierendsten Filme des Subgenres: Suspiria als dämonische Hexenversion der Giallo-Topoi wurde bereits in der vorherigen Bestenliste erwähnt, Die sieben schwarzen Noten und Il profumo della signora in nero versuchten es dagegen mit spirituellen, übernatürlichen und geisterhaften Topoi. Und dann gibt es noch Pensione paura, der irgendwie komplett aus der Reihe tanzt und aus dem Giallo heraus eine dystopische fast schon feministische Parabel kreiert… alles andere als gewöhnlich für ein Genre, das sonst – leider oft zurecht – für seine Misogynie und seine derbe Exploitation angeprangert wird.

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Die besten Giallo-Filme der 70er Jahre I

Wenn man von unheimlichen Genrekino der 70er Jahre sprechen will, muss man auch vom Giallo sprechen. Das bringt mich persönlich in eine äußerst unangenehme Lage. Die Traurige Wahrheit ist nämlich, dass ich alles andere als ein großer Fan des italienischen Thriller- und Horrorkinos der 70er Jahre bin. Mein Weg zum Giallo führte, wahrscheinlich ähnlich wie bei vielen anderen nach 1970 geborenen, über Dario Argentos Suspiria. Und dieser Film ist, man kann es nicht anders sagen, ein verfluchtes Meisterwerk des damaligen Horrorkinos. Umgehauen von diesem Hexenhorrortrip erfuhr ich, wahrscheinlich ähnlich wie viele andere vor mir, voller Begeisterung, dass es ein ganzes Genre für diese Art von Film gibt. Wahrscheinlich ähnlich wie viele andere vor mir habe ich mir dann den erstbesten Giallo-Film geschnappt, um wahrscheinlich ähnlich wie viele andere vor mir äußerst enttäuscht vor einem halbgaren Murder Mystery Thriller, irgendwo zwischen Edgar Wallace und Alfred Hitchcock für Arme zu sitzen. Ja, das Giallo-Genre ist breit und facettenreich, dominiert wird es aber ohne Frage von sehr klassischen Whodunnit-Thrillern, die sich primär durch ihren verstärkten Einsatz von Blut und grenzwertiger Exploitation von den Genregeschwistern abheben. So zum Beispiel Dario Argentos Prototyp des 70er Jahre Giallo Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe. Und sorry, so leid es mir tut, diese Art von Film langweilt mich einfach. Insofern ist diese Liste – und die Folgende – mit einem großen Disclaimer versehen: Ich bin kein Giallo-Fan! Wenn ich Giallo-Filme mag, dann, weil sie vom Genre abweichen, oder in dem Genre etwas neues versuchen, was die Tradition unterwandert. In der ersten Giallo-Liste sind dies neben dem bereits erwähnten Suspiria vor allem Profondo Rosso, der schräger und artifizieller daher kommt als die traditionellen Giallos, und The Child – Die Stadt wird zum Alptraum, der den entgegengesetzten Weg geht, und anstatt beim Horror bei einer introspektiven Tragödie ankommt.

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Die besten SciFi-Horrorfilme der 70er Jahre

In der letzten Science Fiction Bestenliste der 70er Jahre habe ich noch darüber lamentiert, dass ich nicht weiß wo ich Alien einsortieren soll. Science Fiction? Horror? Slasher? Dabei ist die Antwort so simpel: In allen drei Genres. Und Ridley Scotts Horrorfilm im Weltraum ist keineswegs der einzige Genreüberflieger der Dekade. Wie sich herausstellt gibt es genug Hybriden aus Science Fiction und Horror, um damit eine eigene Liste zu füllen. Neben Weltraummonstern, die selbst auf Opferjagd gehen, gibt es auch noch die Aliens, die sich eine menschliche Fassade suchen, um ihren Blutdurst zu stillen: Dazu gehören vor allem die Bodysnatcher aus Die Körperfresser kommen. Die unheimliche transzendentale Psychose in God Told Me To dagegen lässt den Menschen selbst zum Killer im außerirdischen Auftrag werden. Ansonsten ist vor allem die medizinische Forschung, ist der medizinische Fortschritt eine Ursache für visionären Schrecken. In Embryo – Brut des Bösen entstehen durch medizinische Experimente unheimliche Wesen, und in Shivers – Parasiten-Mörder wird der Mensch, heimgesucht von gezüchteten Parasiten, selbst zum Monster. Düstere zukünftige Aussichten…

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I’m Thinking of Ending Things (2020) – Experimenteller Egotrip, bewegende Seelenschau, surreales Meisterwerk

Just tell your story. Pretty much all memory is fiction and heavily edited. So just keep going. Es gibt ja durchaus so manche Künstler, denen man gerne mal in den Kopf steigen würde, so wie es in Spike Jonzes Being John Malkovich (1999) möglich ist. Der Drehbuchautor und Regisseur Charlie Kaufman gehört nicht dazu. Das liegt nicht daran, dass sein Inneres uninteressant wäre, ganz im Gegenteil, der Grund dafür ist viel mehr, dass wir regelmäßig einen erstaunlich transparenten Blick in seinen komplexen wie merkwürdigen Verstand erhalten… jedes Mal wenn der gute Mann einen neuen Film veröffentlicht. In Adaption (2002) machte er das noch offensichtlich, indem er sich einfach selbst in den Film hineinschrieb, der eigentlich eine Verfilmung des Romans The Orchid Thief sein sollte. In seinem überragenden Regiedebüt Synecdoche New York (2008) ließ er dann alle Hüllen fallen und generierte ein ebenso episches wie introspektives Drama über Leben und Leid des Künstlers (sich selbst?), und in Anomalisa (2015) entwarf er schließlich die Pathologie einer (seiner?) schizoiden Persönlichkeitsstörung unter der Camouflage einer surrealen Liebesgeschichte. Und auch seinen jüngsten Film – I’m Thinking of Ending Things (2020) – lässt er je nach persönlichem Empfinden zum Egotrip beziehungsweise zur eigenen, eigenartigen Seelenreise mutieren… und dass obwohl dieser zumindest zu Beginn überhaupt nicht danach aussieht.

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Vivarium (2019) und der Horror der Vorstadt

Wenn es nach dem US-amerikanischen Kino geht, sind die Suburbs der Ort, an dem Träume wie Menschen sterben. Ein ganzes Subgenre des Horrorkinos der 80er Jahre – der Slasher-Film – lebte davon, dass sich anonyme Serienkiller in den hübschen Vorgärten verstecken konnten, um nachts die ebenso hübschen wie gleichgeschalteten Häuser heimzusuchen. Regisseure wie Sam Mendes nutzten den Mief des vermeintlich glücklichen Ortes, um große menschliche Tragödien zu erzählen, von American Beauty bis Zeiten des Aufruhrs. Und Spike Jonze und Arcade Fire erklärten in ihrem Kurzfilm Scenes from the Suburbs (2011) die ganze Ortschaft gleich zum Bürgerkriegsgebiet. Die Leinwand hat nur selten ein gutes Haar an den amerikanischen residential areas gelassen. Allenfalls in Serien wie Wunderbare Jahre werden sie ein wenig verklärt, aber selbst da nicht ohne Problematisierung und Politisierung. Es liegt ja auch irgendwie auf der Hand, den Schrecken dieser Orte hervorzukehren, die sich im kulturellen Gedächtnis irgendwo zwischen Traum (für die, die es nie dorthin schaffen) und Alptraum (für die, die dort gefangen sind) eingebrannt haben. Der irische Filmemacher Lorcan Finnegan geht in seinem Mysterythriller Vivarium (2019) noch einen Schritt weiter. In seiner Vision verwandeln sich die suburbs vom symbolischen ins wortwörtliche Gefängnis, und der Schrecken verbirgt sich nicht hinter den Fassaden, sondern ist Teil des Konzepts.

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Die besten Kinderserien der 80er Jahre III

Einen haben wir noch: In der letzten Kinderserien-Retrospektive begegnen wir mainstreamtauglichem ebenso wie Schrägem und sogar Surrealem. Aus Deutschland überrennt uns eine auf Kinderaugen perfekt zugeschnittene Bizarrerie mit Hals über Kopf, anschließend lassen wir uns von eigentlich so gar nicht ins Kinderprogramm passendem Symbolismus im Anderland verzaubern. Etwas traditioneller und bunter geht es bei den Amerikanern mit Inspector Gadget und den Muppet Babies zu. Und irgendwo dazwischen (und zugleich komplett ab vom Schuss) bewegt sich das herrlich naive Fantasypanorama Doctor Snuggles. Und wenn wir damit durch sind, können wir uns endlich der erwachsenen TV-Unterhaltung der 80er Jahre widmen. Und diese ist ebenfalls – wie das Kinderprogramm – deutlich abwechslungsreicher und qualitativ hochwertiger als gemeinhin erinnert wird.

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Die besten Dramen der 80er Jahre II

In der letzten 80er Dramen-Retrospektive habe ich es bereits erwähnt: Die Gefühle, die in Dramen vermittelt werden, können ebenso vielfältig sein wie die Motive, mit denen sich die Filme beschäftigen. Das Genre – wenn es denn überhaupt ein eigenständige Genre ist und sich zu anderen Filmgenres nicht viel eher verhält wie schwarz und weiß zu bunten Farben – erlaubt vieles und ist daher nie so ganz zu greifen. Daher darf auch in dieser Liste ein nostalgischer Feel Good Movie wie Cinema Paradiso neben einer depressiven fast schon dystopischen Tragödie wie Verdammnis auftauchen. Deshalb kann ein Thema wie eine ungewöhnliche, erschreckende äußere Erscheinung warmherzig und farbenfroh behandelt werden wie in Die Maske oder eben auch elegisch und melodramatisch wie in Der Elefantenmensch. Deshalb darf ein Loblied auf das Leben und den Genuss – Babettes Fest – neben einer Auseinandersetzung mit der Trostlosigkeit des Lebens am Rande der Gesellschaft stehen. Vielleicht ist es auch das, was das Genre des Dramas so auszeichnet: Nirgendwo sonst zeigt sich, innerhalb eines einzelnen Films und über dessen Grenzen hinweg im Zusammenspiel mit anderen Filmen, die Ambivalenz des Lebens und der Welt so gut wie in diesem Nicht-Genre. Begrüßen wir sie mit offenen Augen:

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Die besten Tragikomödien der 80er Jahre I

„Mit einem Lächeln und vielleicht mit einer Träne“ …Mit seinem Eingangszitat zu The Kid (1921) hat es Charlie Chaplin auf den Punkt gebracht und im Grunde genommen alles gesagt, was zum Genre der Tragikomödie gesagt werden muss. Dass sich die 80er Jahre nicht 100% daran halten würden, konnte er ja nicht voraussehen. Der tragikomische Film sollte in dieser Dekade nämlich in vielen Fällen ein besonderer Film sein, einer der Grenzen sprengte und Genres vermischte. Seine besten Auswüchse waren gut 60 Jahre nach Chaplins Genreverortung nicht einfach nur Kombinationen von Lächeln und Tränen, sondern ebenso Vermischungen mit dem Thriller (King of Comedy), dem magischen Realismus (Arizona Junior), dem Surrealismus (Stardust Memories) dem Biopic (Garp wie er die Welt sah) oder dem anekdotisch Literarischen (Hotel New Hampshire). Vielleicht waren sie in ihrer amerikanischen Iteration sogar die letzten würdigen Erben des New Hollywood, gepflegt von Altmeistern wie Martin Scorsese und Woody Allen und bereits unterwandert von jungen aufstrebenden Talenten wie den Coen Brüdern, die dem lahmenden Mainstream- und Blockbusterkino den Kampf ansagten. Genau diesen Genresprengern soll in dieser ersten Retrospektive gedacht werden …with a smile — and perhaps, a tear.

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Die kontroversen, extremen und polarisierenden Filme der 80er Jahre

Wie immer gilt für diese spezielle Liste: Prämiert werden nicht die besten kontroversen und polarisierenden Filme des Jahrzehnts, sondern die, die am extremsten waren, die am meisten polarisieren konnten, die am kontroversesten aufgefasst wurden und werden. Wirklich erstklassiges filmisches Material gibt es in diesem speziellen Fall, dann auch tatsächlich kaum zu finden. Abgesehen von Die letzte Versuchung Christi (der die Kontroverse auch nicht wirklich suchte, sondern dem sie viel mehr aufgezwungen wurde), sind die restlichen Vertreter im besten Fall Durchschnittsware, im schlimmsten Fall kompletter Schund, der einzig durch seinen Shock Value einen Platz in der Filmgeschichte gefunden hat. Das war bei den kontroversen Filmen der 90er und 2000er Jahre durchaus anders. Und noch eine Premiere, je weiter wir uns in die Vergangenheit bewegen aber umso folgerichtiger: Mit den Rape Culture Teeniestreifen hat es nicht nur ein Film, sondern gleich eine ganze Filmreihe (wenn nicht sogar ein ganzes Genre) hierhin geschafft, dessen kontroverse Natur vor allem durch den retrospektiven Blick entsteht; Filme, die damals nur ein mildes Lächeln ernteten, heute aber als filmische Sinnbilder für eine Kinoära stehen, in der auch Belästiger und Vergewaltiger Sympathieträger sein durften, deren Verbrechen gar verharmlost wurden oder im schlimmsten Fall zur Erheiterung des Publikums dienten. Ansonsten, auch 80er typisch, viel Zeug aus der Gore- und Splatterecke, immerhin ein genuin deutscher Blasphemiefall und ein wenig mehr der Vollständigkeit halber ein absolut sehenswertes Werk aus dem experimentellen New Yorker Untergrund.

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Die besten surrealistischen Filme der 80er Jahre II

Surrealismus, Nummer zwei. Man kann durchaus die Behauptung vertreten, dass nach der goldenen Ära des surrealistischen Films der Surrealismus ziemlich tot war. Genuin surreal waren schon die Filme der ersten 80er-Liste kaum, viel eher Genrehybriden, Experimentalfilme oder vom Surrealismus inspirierte Werke. Das ist auch im zweiten Artikel kaum anders. Mit Jodorowskys Santa Sangre hat sich zumindest eine unbestreitbare Ikone des surrealen Kinos hineingemogelt, wenn auch mit einem Film, der die meiste Zeit über anderen Vorbildern huldigt. Abgesehen davon gibt es Surrealismus im Gewand des Bodyhorrors (Videodrome), Surrealismus im Gewand des Mystery (Angel Heart) und Surrealismus im Gewand des fantastischen Avantgardekinos (Alice). Ist das Genre tot? Vielleicht, aber die Frucht aus diesem Schoß ist äußerst lebendig.

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Die besten Sportfilme der 80er Jahre

Sportfilme sind ein merkwürdiges Genre; in erster Linie natürlich für alle – wie mich – die kein sonderliches mediales Interesse an Sport haben. Aber Sportfilme können trotzdem funktionieren. Auch wenn man keine Ahnung von den Baseballregeln hat, auch wenn man sich nie im Leben freiwillig die Übertragung des Super Bowls im Fernsehen ansehen würde, auch wenn man an der sozialen Dynamik innerhalb eines Fußballteams maximal ethnologisch interessiert ist, kann man dennoch in große Verzückung geraten, wenn dem Held oder der Heldin einer Geschichte der entscheidende Homerum gelingt, kann mitfiebern, wenn ein Footballteam, das von ganz unten kommt, ein alles entscheidendes Spiel vor sich hat, oder kann sich einfach an den Träumen, der Komik und der Tragik auf und neben den Spielfeldern erfreuen. Sport ist auch ein offenes Genre, kann sowohl albern (Caddyshack), komisch (Die Indianer von Cleveland) verträumt eskapistisch (Feld der Träume), rau und realistisch (Wie ein wilder Stier) oder spannend, dramatisch (Die Stunde des Siegers, Der Unbeugsame) erzählt werden. Und es ist darüber hinaus auch gar nicht so leicht zu sagen, wann ein vermeintlicher Sportfilm überhaupt ein Sportfilm ist. Insofern mögen in diesem Artikel Filme fehlen, die man auch irgendwie hier reinpacken könnte (zum Beispiel Karate Kid, den ich trotz Trainingsmontagen und finalem Turnier bei den besten Teenagerfilmen eingeordnet habe). Und es mögen in diesem Artikel Filme vorkommen, die vielleicht bei den besten Komödien, Dramen oder Tragikomödien besser aufgehoben wären. Details, Details… Wer Freude am Wettkampf, an epischen Trainingsmontagen, an der Schönheit des Sports und an Sport als zentrales Handlungsmoment hat, der sollte mit allen Filmen, die folgen, sehr glücklich werden. Viel Spaß.

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Die besten Zeichentrickfilme der 80er Jahre IV

Die etwas obskureren, etwas erwachseneren, vielleicht auch etwas unterbewerteten Filme habe ich mir für den vorletzten Artikel der 80er Zeichentrickretrospektive aufgespart. So richtiges Familienkino bietet keiner der hier gelisteten Filme. Stattdessen viel musicaleske Weirdness (Rock & Rule), opulente Fantasy (Fire and Ice), tragische Kriegsverarbeitungen (Die letzten Glühwürmchen), und außergewöhnlichen surrealen Symbolismus (Gwen et le livre de sable). Die Familie muss heute zu Hause bleiben.

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Corona-Soforthilfe? – Der Schacht von Galder Gaztelu-Urrutia

Menschen brauchen in Krisenzeiten Kunst, die ihnen dabei hilft, die Dinge einzuordnen. Sie brauchen Kunst, um zu verstehen, warum die Gesellschaft, warum der Mensch in der Krise funktioniert, wie er funktioniert. Zumindest scheint dies eine einleuchtende Erklärung dafür zu sein, dass ausgerechnet eine spanische Dystopie – El Hoyo (2019) – derzeit so sehr im deutschen/europäischen Netflix trendet. Ohne Corona und all seine Folgen wäre der Schacht womöglich auf dem Streamingservice untergegangen, oder wäre zumindest dazu verdammt gewesen, in der Nische des SciFi-Symbolismus für Freunde von Cube zu verharren. So hat er es aber einmal auf die große Bühne geschafft und es wird fleißig über ihn geredet. Um das gleich vorweg zu nehmen: Um die Gesellschaft in Zeiten von Covid-19 zu verstehen, taugt dieses kleine abstrakte Thrillerdrama nicht. Aber er wirft Fragen auf. Und das sollte jedem Zuschauer auch bewusst sein: Fragen, keine Antworten. Sein Setup ist viel zu abstrakt und zugleich viel zu holistisch um als soziologischer Leitfaden durch das herrschende Chaos, beziehungsweise die herrschende Ordnung zu leiten. Seine Prämisse stürzt sich viel zu dezidiert eben gerade nicht auf die Krise sondern den Normalzustand, um die gesellschaftlichen Folgen von Corona begreifbar zu machen. Und seine Machart ist viel zu offen, viel zu ungestüm, um mehr zu liefern als Gedankensprünge. Aber in dem, was er ist, gelingt es ihm zeitlose Thesen zu entwerfen und diese in einem apltraumhaften Setting auszuloten.

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Die besten Filme 2017: Dave Made a Maze (Splatter/Horror/Fantasy/Comedy-Hybrid)

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir Gedanken über die Folgen des Videothekensterbens für die „Direct to DVD“ oder „Best Performance on DVD“- oder noch allgemeiner Indie-Filmkategorie mache. Und es wird mit Sicherheit nicht das letzte Mal sein. Ich glaube auch nach wie vor, dass die langfristigen Folgen dieses Prozesses noch nicht vollkommen zu überblicken sind, und dass ebenso noch nicht ausgemacht ist, ob es sich um positive oder negative Folgen (oder von beidem ein bisschen was) für diese Nische der Filmwelt handelt. Streaming ist die neue Realität, mit der sich alle „Direct to DVD“-Produzenten und darüber hinaus alle Filmproduzenten überhaupt auseinandersetzen müssen. Insbesondere, weil durch den Wegfall der Videotheken nicht einfach ein Verbreitungskanal wegfällt, sondern vor allem einer, der ganz bestimmten Gesetzen zu gehorchen schien, von denen viele Filme profitieren konnten. Manche, zum Beispiel die deren Hauptvermarktungsstrategie der „Fehlgriff“ im Videothekenregal zu sein schien (* Hust Asylum), etwas mehr, andere etwas weniger. Leid tun kann es einem vor allem um jene engagierten unabhängigen Werke, die – selbst wenn sie einen Kinorelease hatten – schon immer davon lebten, im Videothekenregal (wieder-)entdeckt zu werden und dort durch Mund-zu-Mund-Propaganda von der unbekannten Indie-Perle zum Kultfilm aufzusteigen: Filme wie Evil Dead oder Donnie Darko (wahrscheinlich einer der letzten dieser Art), die offene Videothekenbesucher brauchen, die auch mal neben die üblichen Verdächtigen greifen. Und genau ein solcher Film, dem ein Videothekenrelease mit Sicherheit extrem gut getan hätte, der nun aber in einer Streamingwelt um die Aufmerksamkeit des Publikums kämpfen muss, ist Dave made a maze (2017), der gut zwei Jahre brauchte, um überhaupt in Deutschland anzukommen.

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Die besten Filme 2018 – Das koreanische Mysterydrama Burning

Die Menschen in der Kalahari-Wüste kennen zwei Arten von Hunger, erklärt die ebenso mysteriöse wie verführerische Haemi dem Protagonisten Jongsu, während die beiden sich langsam näher kommen: Den kleinen Hunger, der einfach nur den klassischen, physischen Hunger repräsentiert. Und den großen Hunger, der so etwas ist wie der Hunger nach Leben und Überleben, der Hunger nach den großen Fragen des Seins und der Existenz. Und dann schweigen die beiden wieder. Es gibt viele solcher Momente in Lee Chang-dongs neuestem Meisterwerk Burning (2018). Stop and Go Dialoge, die scheinbar ins Nichts führen, zugleich aber essentiell sind, um die Handlung, oder viel mehr die Motive dieses Mysterydramas zu entfalten. Und auch diese Entfaltung kommt oft ins Stolpern, kommt oft zu einem abrupten Stillstand, so dass der Zuschauer sich nie ganz sicher sein kann, welches Genre er bei diesem Film eigentlich vor sich hat. Burning mäandert lange zwischen den Welten, zwischen den Bildern und zwischen den Motiven. Und als Zuschauer fragt man sich dabei immer: Was ist dieser Film denn nun? Welche Geschichte will er mir erzählen?

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Raw (2016) – Die böse Twilight-Zwillingsschwester

Ja, okay… so ein bisschen irreführend und clickbaity ist der Titel dieser Rezension ja schon. Passt damit aber auch hervorragend zum besprochenen Film. Raw (2016) machte nämlich keine halben Sachen, als es um seine Vermarktung ging. Da war von einem der schockierendsten Horrorfilme der letzten Jahre die Rede, da wurde von Menschen erzählt, die reihenweise das Kino verließen, weil sie mit dem Gezeigten nicht klarkamen, und es wurde sogar von Zuschauern berichtet, die während des Toronto Filmfestivals 2016 medizinisch behandelt werden mussten, da ihnen die expliziten Szenen zu heftig waren. Mit diesem Vorwissen in der Hand kommt man gar nicht drumherum, Julia Ducournaus Kinodebüt mit einer gewissen Portion Skepsis zu begegnen, zumal die Zeit der New French Extremity mittlerweile fast zehn Jahre zurückliegt und eine ihrer größten Ikonen – Gaspar Noé – in seinen letzten Filmen durchaus eine Abwendung vom Extremen um jeden Preis und eine Zuwendung zu metaphysischen und panoramischen Themen erkennen ließ. In der Tat lässt sich Raw in vielen Bereichen der New French Extremity oder Nouvelle Vague des französischen Horrors zuordnen. Zugleich ist er aber alles andere als eine extreme, kontroverse Gewaltorgie, wie es die derbsten Filme dieser Zunft waren. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er eine Menge aktuellerer Einflüsse mit an Bord hat, namentlich Mechanismen aus dem – Achtung, Buzzword! – derzeit so viel zitierten Post Horror, ganz konkret dem Slow Burning Horror amerikanischer Bauart. Und da das im Titel dieser Rezension zitierte Märchen auch schon über zehn Jahre alt ist, darf beruhigend hinzugefügt werden: Mit den Teenie/Fantasy/Romanzen der späten 2000er und frühen 2010er Jahre hat Raw ebenfalls wenig gemein, auch wenn ihm die Verquickung von Coming-of-Age und Fantastischem sichtlich am Herzen liegt.

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Der Babadook (2014) – Post-Horror-Camouflage

Gehen wir mal kurz davon aus – und es spricht einiges dafür – dass die Kategorie Post Horror wirklich eine Berechtigung hat und nicht bloß Erfindung gelangweilter Filmkritiker ist. Dann ist eine seiner größten Stärken, dass er eigentlich klassische Dramenstoffe als Horrorfilm camoufliert erzählen kann. Praktisch die beste Möglichkeit, den ästhetischen Horizont cineastisch eingeschränkter Genre-Kinogänger um Geschichten zu erweitern, die diese sonst nicht einmal mit der Kneifzange anfassen würden: Die Probleme einer alleinerziehenden Mutter? Eine dysfunktionale Mutter-Kind-Beziehung und der Kampf darum, diese zu retten? Klingt nicht gerade nach dem passenden Stoff für Conjuring- und Saw-Fans. Jennifer Kents Der Babadook (2014) erzählt genau diese Topoi und verkleidet sich dabei so schamlos als klassischer Jump Scare Horrorflick, dass er zum Releasezeitpunkt durchaus so manche Kinobesucher ratlos zurückgelassen haben dürfte. Menschen, die einen klassischen Spukfilm mit ner Menge Erschrecken und schön für alle dargelegter übernatürlicher Erklärung erwarten, haben hier eher das Nachsehen, wer allerdings eine – mitunter surreale – Kombination aus Tragödie und Horror zu schätzen weiß, darf hier einen der aufregendsten Horrortrips der 2010er Jahre erleben.

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Die besten Filme 2017: A Ghost Story

Der Philosoph und Filmtheoretiker Gilles Deleuze arbeitet in seinen Werken Kino I und II mit den Konzepten des Bewegungsbildes beziehungsweise des Zeitbildes. Ersteres sieht er im traditionellen Film aus der Frühphase des Kinos verwirklicht, während zweiteres seiner Ansicht nach im modernen und postmodernen Film wie dem italienischen Post-Neorealismus oder der französischen Nouvelle Vague umgesetz wird. Das Zeitbild steht dabei für eine Filmtechnik, in der Zeit nicht mehr einfach chronologisch erzählt wird, sondern als Panorama, „ein instabiles Ensemble von freischwebenden Erinnerungen und Bildern einer Vergangenheit im Allgemeinen, die in schwindelerregendem Tempo vorüberziehen, als ob die Zeit eine tiefgründige Freiheit gewinnen würde.“ Dabei würde eine anarchische Mobilisierung der Vergangenheit als Reaktion auf die Bewegungsunfähigkeit der filmischen Protagonisten stattfinden. Es darf an dieser Stelle durchaus kritisch hinterfragt werden, ob die europäischen Arthaus-Filmemacher der Moderne tatsächlich konsequent diesen Ansatz verfolgten, oder ob nicht viel mehr Deleuze als postmoderner, poststrukturalistischer Philosoph ihnen dieses Konzept aufdrückte. Was außer Frage steht, ist die Tatsache, dass viele Filmschaffende nach den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts (zu deren Beginn die beiden Bände erschienen waren) sich von diesem Konzept inspirieren ließen. Regisseure wie Béla Tarr, Terrence Malick oder Gus Van Sant versuchten dieses Konzept nicht nur zu verstehen, sondern auch zu radikalisieren, indem sie ihre – mitunter ohnmächtigen – Protagonisten vom Zeitfluss überwältigen ließen und diesen von allen filmischen Konventionen befreiten: Allerdings weniger im schwindelerregenden Tempo als viel mehr in radikal schmerzhafter Langsamkeit: In dieser Langsamkeit wird Zeit ihrer Dynamik beraubt und zu einem essentiellen, grausamen aber zugleich auch ungeordneten Vollstrecker. So wie sie stillzustehen scheint, so bewegt sie sich doch gnadenlos fort und begräbt alles unter sich, was in der Filmhandlung verborgen liegt. Dieses Zeitbild-Konzept scheint auch David Lowery mit seinem Fantasydrama A Ghost Story (2017) zu verfolgen; ein leiser poetischer und zugleich brutal erdrückender Film, in dem die Zeit wie ein zäher Mahlstrom dahinfließt.

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Die besten Fantasyfilme und Märchen der 80er Jahre: Paperhouse – Alpträume werden wahr

Dass ich zu Paperhouse (1988) jetzt doch noch ein paar Worte über die Kurzrezension der ersten 80er Retrospektive hinaus verlieren muss, liegt daran, dass mich dieser Film als Kind entscheidend geprägt hat. Er war nicht der erste „Horrorfilm“, den ich gesehen habe, aber mit Sicherheit der, der mir auf längere Sicht die meiste Angst eingejagt, ja mich sogar bis in meine Träume verfolgt hat. David Cronenbergs Die Fliege (1986)? Pustekuchen. Die Miniserie Es (1990), die bei so vielen Horror-Zuschauern meiner Generation Ängste ausgelöst und Traumata verursacht hat? Lachhaft. Nein, mein persönliches Grusel-Trauma ist dieser Fantasy/Märchen/Psychoanalyse-Hybrid von 1988, und wenn ich meine Filmrezipienten-Vita durchstöbere, komme ich wohl sogar zu dem Fazit, dass kein Film – davor und danach – mir eine solche Angst eingejagt hat, wie diese Auseinandersetzung mit Traum, Alptraum und der beginnenden Pubertät.

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Kurzrezensionen Die Haut in der ich wohne, Womb, Wrecked

Dreimal das Sujet Identität, jedes Mal auf vollkommen andere Weise verarbeitet: Während der Film von Pedro Almodóvar Die Haut in der ich wohne (2011) auf ästhetizistische, hocherotische Bilder setzt, bewegt sich Womb (2010) in den kargen, minimalistischen Gefilden klassischer Arthaus-Dramen. Und die Direct-to-DVD-Produktion Wrecked (2011) wiederum versucht sich in der Tradition, dunkler, verwobener amerikanischer Mindfuck- und Survival-Thriller. In welchem Genre hat die Thematik die Nase vorn, welchem Film gelingt es, dem Stoff neue Blickwinkel abzutrotzen, und welches Werk geht mit dem schweren Thema baden? Drei Filme, drei Rezensionen, ein Motiv: Cineastische Identitätssuche und Selbstfindung nach dem Klick…

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Die besten Horrorfilme 2017: mother! von Darren Aronofsky

So wirklich leicht hat es Darren Aronofsky einem nie gemacht, ihn einfach zu mögen. Dafür hat er sich seit jeher viel zu sehr dem großen Pathos, dem großen Symbolismus und der großen Erzählung verschrieben. So ganz ohne Welterklärung ging es nie bei ihm: Egal ob in seinem Low-Budget Mysterybastard Pi (1999) (die besten surrealen Filme der 90er Jahre), seinem epischen Sucht-Ensemblestück Requiem for a dream (2000) oder seinem opernhaften Balletthorror Black Swan (2010). Zuletzt schien er dann mit Noah (2014) vollends beim Religiösen und Spirituellen angelangt zu sein, dort wo er eigentlich von Anfang an hingehörte. Dabei offenbarte selbst dieses Bibelepos erstaunlich ansehnliche Seiten und war trotz allen Kitschs und aller unfreiwilliger Komik ein fantastischer Ritt durch den Weltuntergang. So wirklich leicht hat es Darren Aronofsky nämlich nie gemacht, ihn zu hassen. Der Mann versteht sein Handwerk, oszilliert gekonnt zwischen Mainstreamunterhaltung, Surrealismus und eben überambitioniertem Pathos und haut dabei dennoch immer wieder Filme heraus, die ebenso ärgerlich wie verführerisch sind. Und dann kommt jetzt dieser mother! (2017) daher, schon im Titel ein Schlag in die Fresse aller Aronofsky-Kritiker und zugleich wie eine Prophezeiung der Erfüllung aller schlimmsten Befürchtungen: Im Ansatz subtil kleingeschrieben, um dann gleich darauf mit einem Ausrufezeichen unerwartet zuzuschlagen. mother! ist groß, will groß sein, will wild, ungezügelt, over the top sein… mother! ist viel zu laut, viel zu groß, viel zu ambitioniert, unfreiwillig komisch, überdreht… und gerade in diesen Charakteristika eines der erfreulichsten Filmereignisse des Jahres 2017.

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…Wie im Himmel so auch auf Erden. – Rezension zu „The Tree of Life“ von Terrence Malick (2011)

Der Pathos, der Ästhetizismus und das Epische haben Einzug gehalten im internationalen Arthaus-Kino. Einen großen Anteil daran dürfte unter anderem Lars von Trier haben, der in den 00er Jahren erst sukzessive, später immer radikaler von seinem minimalistischen, naturalistischen Dogma95-Konzept abgerückt ist, zu Gunsten von großen Kamerafahrten, epischen Slow-Speed-Zeitlupen und großen Opern-Arien. Das Wunderkind des New Hollywood Terrence Malick indes war schon immer pathetisch. Egal ob in seinem elegischen 70er Jahre Klassiker Badlands (1973), in der schwelgerischen Gegenüberstellung von Krieg und Natur in Der schmale Grat (1998) oder zuletzt im metaphysischen Bilderbogen The New World (2005). Der mittlerweile fast 60jährige Regisseur kann in seiner Vita gerade mal sechs Langfilme aufweisen, die allerdings auch allesamt – jeder auf seine eigene Weise – eine Transzendentalisierung des Sujets, Mediums und Publikums versprechen. Da scheint es nur konsequent, dass er seinen neusten Streich, sein „persönliches Werk“ The Tree of Life (2011) mit einem metaphysisch, religiösen und holistischen Rahmen ausstattet, der wiederum alle Grenzen des traditionellen Erzählkinos sprengen soll. Ist er dieses Mal zu weit gegangen? Ist seine Religion/Natur-Exegese zu stilverliebt, zu metaphysisch, universalistisch? Im Gebet hoffen wir auf eine Antwort…

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Rezension zu Black Mirror, Staffel 5 (2019)

Zum größten Teil boten bis dato alle Black Mirror Staffeln großartige TV-Unterhaltung. Das „Zum größten Teil“ muss hier allerdings betont werden, einfach, weil es auch immer wieder Aussetzer gab. Irgendwie auch logisch bei einer Serie, die von Episode zu Episode ihr Setting, ihre Motivik, ihre Geschichte und sogar ihre Erzählhaltung ändert. Black Mirror hat sich immer viel gestaltersiche Freiheit herausgenommen. Lose zusammengehalten durch die Prämisse, Parabeln auf unsere technologisierte, digitalisierte und progressive Gesellschaft zu entwerfen, waren die Einzelfolgen mal sau witzige Satiren, mal düstere Symbolgeschichten, mal emotionale Dramen, spannende Science Fictioneers oder brutale Actionflicks. Gerade die fehlende Kohärenz machte dabei jede neue Folge erneut spannend. Und dazu gehörte auch immer die Frage: Wie der heurige Entwurf aufgehen? Meistens lautete die Antwort „Ja“. Aber über alle Staffeln hinweg gab es doch vereinzelte Episoden, bei denen die Antwort „Ja, mit Einschränkung“ oder ganz selten sogar schlicht „Nein!“ lautete. Kein Problem: Bei fast 20 Einzelteilen kann man sich ganz gut mit Rohrkrepierern abfinden. In der aktuellsten, fünften Staffel sieht es jedoch leider anders aus…

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Die besten Thriller 2017: The Killing of a sacred Deer von Yorgos Lanthimos

Stark aber arrogant, so wird Agamemnon in der griechischen Mythologie beschrieben: Oft impulsiv und herrisch, aber auch jemand, der es versteht, Entscheidungen zu treffen und eine Armee zu führen. Als Familienmensch war Agamemnon stets zwiespältig oder gar negativ besetzt. Seine Frau eroberte er, indem er ihren vorherigen Gemahl tötete. Er zog in den trojanischen Krieg und ließ seine Kinder zehn Jahre allein zurück. Und dann gibt es da natürlich noch die Geschichte um seine Tochter Iphigenie, die er bereit ist zu opfern, um einen zuvor von ihm gemachten Fehler – der Mord an einer heiligen Hirschkuh der Artemis – zu büßen. Wie ein postmoderner Agamemnon wirkt der Herzchirurg Steven Murphy (Colin Farrell): Mit seinem überwältigenden Bart, seinem stattlichen Auftreten. Wie die griechische Sagenfigur hat er sich auch von seiner Familie entfremdet, begegnet seiner Frau (Nicole Kidman) und seinen beiden Kindern mit einer kalten, distanzierten Strenge. Ganz anders jedoch ist sein Umgang mit dem mysteriösen 16jährigen Martin (Barry Keoghan): Er trifft ihn im Geheimen und beschenkt ihn mit Zuneigung und wertvollen Gegenständen. Er lädt ihn in das Haus seiner Familie ein und besucht im Gegenzug Martins Mutter. Dieser will jedoch immer mehr und entwickelt sich schließlich in seinem Eifern nach Zuneigung zur dunklen Bedrohung für die gesamte Familie Murphy.

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Die besten Filme der 90er Jahre: Gedanken zu David Finchers „Fight Club“

Normalerweise werden an dieser Stelle ja Filme ausgelagert, die ich eher nicht so prall fand. Filme, die meiner Meinung nach eben gerade nicht zu den besten Filmen der 90er gehören, für deren Abwesenheit ich aber vermeintlich irgendeine Form der Rechtfertigung abgeben muss. Das ist in diesem Fall anders. Fight Club gehört nicht nur zu den besten Filmen der 90er Jahre sondern steht auch in meiner Alltime-Best-Of-List ziemlich weit oben. Dass ich mit dieser Meinung nicht alleine stehe, beweisen verschiedenste Umfragen zu den besten Filmen aller Zeiten, bei denen Fight Club regelmäßig weit vorne rangiert… vollkommen zurecht. Der Grund für diesen „Sonderartikel“ ist ähnlich wie bei der Analyse von American Beauty ein anderer: Es gibt anscheinend ein Rezeptionsgefälle, das Fight Club nicht nur zu einem der besten sondern vor allem auch missverstandensten Filme aller Zeiten macht. Und eben genau jenes Missverständnis sorgt ironischerweise erst dafür, dass er so viele Anhänger für sich vereinen kann.

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Die besten Science Fiction Filme der 90er Jahre I

Viel Sehenswertes ist im Weltraum der 90er Jahre nicht geschehen. Dafür wie schon bei den besten Science Fiction Filmen der 00er umso mehr auf einer (potentiell) zukünftigen Erde. Das mag vor allem mit einem erneuten Endzeit- und Dystopienhype des ausgehenden 20. Jahrhunderts zusammenhängen (übrigens ganz ähnlich dem des ausgehenden 19. Jahrhunderts). Jedenfalls war der Blick in die Zukunft, den viele Filmmacher in den 90ern wagten, oft ein kritischer, skeptischer, einer, der relevante Themen der 90er aufgriff und in ein mögliches – von düsteres bis buntes – 21. Jahrhundert transformierte. Jedenfalls waren die gelungenen Prophezeiungen zahlreich genug vertreten, dass das Science Fiction Genre zwei Artikel spendiert bekommt… Den ersten Teil gibt es direkt hier…

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Ballettdrama/ Psychothriller/ Bodyhorror – „Black Swan“ von Darren Aronofsky

Verdammt noch eins! Ich war mir sicher, ich würde diesen Film lieben oder hassen. Ich war mir sicher ein Mittelding wäre nicht drin. Immerhin hat es Aronofsky schon immer geschafft mit seinen Filmen recht gut zu polarisieren. Da war „Requiem for a Dream“, für viele zu pathetisch, zu aufgesetzt in seinem düsteren Weltbild, für andere eine Offenbarung des Composite Film Genres. Da war „The Fountain“, für viele billiger, abgehobener Science Fiction Esoterik-Kitsch, für manche die postpostmoderne Antwort auf „2001 – Odyssee im Weltraum“ und ein Science Fiction Klassiker für das neue Jahrtausend. Okay… „The Wrestler“ hat allgemein positives Feedback erhalten, aber nach all den Ankündigungen, Trailern und Vorab-Kritiken musste eigentlich klar sein, dass Black Swan wieder so ein „Love it or hate it!“ Ding wird. Weit gefehlt. Ich bin voll in der „So la la“-Falle gelandet und stehe mit meiner Meinung auch offensichtlich nicht alleine da.

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Die besten Science Fiction Filme der 2000er Jahre

Wenden wir uns nach der epischen Vergangenheit und Gegenwart der Zukunft zu. Sie war schon ein bisschen mau im letzten Jahrzehnt. Die große Reanimation der Star Wars Franchise brachte allenfalls einen unterdurchschnittlichen, einen miesen und einen ganz netten Film hervor. Ansonsten gab es viel Massenware, einige ganz nette Fantasyhybriden und auch richtigen Trash wie den Scientology-Abkömmling „Battlefield Earth“. Aber immerhin ein paar wenige Perlen und Glanzlichter haben es dann doch auf die große Leinwandgeschafft. Wir haben sie rausgepickt und stellen sie hier vor…

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Die besten Epen der 2000er Jahre

Ein Genre, dessen filmische Einordnung äußerst schwierig ist, dessen Definitionsmöglichkeiten vielseitig und ambivalent sind… Traditionell ist ein Epos eine Versschöpfung, eine lyrische Erzählung im Stile der Ilias oder des Nibelungenliedes. Jedoch hat sich die Definition des Genres im Laufe der Zeit, der Geschichte der Medien gewandelt und erweitert. So definierte der Philosoph und Literaturkritiker Georg Lukacs das Epos als „die Gestaltung einer geschlossenen Lebenstotalität“, die sich von der privaten Sicht eines Romanes abgrenze. Die vorwiegend historischen und zugleich  universellen Topoi epischer Werke wurden besonders im klassischen Monumentalfilm der 50er Jahre vielfach bearbeitet (Ben Hur, Die zehn Gebote). Filmkritikguru Roger Ebert machte die Definition des epischen Kinos schließlich an seiner visionären Kraft fest (um im selben Atemzug ordentlich über Pearl Harbour zu lästern). Aber genug des Vorgeplänkels: Wir verstehen hier unter epischem Kino große, ausladende Filme: Sittengemälde, historische und aktuelle Panoramen, monumentale Gemälde, universelle Visionen und Gedanken und natürlich alles was irgendwie in diesen großen Rahmen, in diese schwammige Bezeichnung miteingeschlossen werden kann (Darin fallen übrigens auch einige bei den Fantasyfilmen, Tragikomödien oder Thrillern erwähnte Titel, die hier allerdings kein zweites Mal aufgeführt werden). Also dann die Besten des Jahrzehnts, wie immer mit kurzer Beschreibung und audiovisuellem Anschauungsmaterial unmittelbar nach dem Break.

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Virtuelle Schnitzeljagd: Rezension zu Jim Jarmuschs "The Limits of Control" (2009)

Der geheimnisvolle Fremde (Isaach De Bankolé) geht durch ein Flughafengebäude. Er trifft sich mit zwei Männern, wovon einer anscheinend der Auftraggeber ist, während der Andere die Funktion eines Dolmetschers erfüllt. Streichholzschachteln werden ausgetauscht. Der Auftraggeber hält einen Monolog über die Tatsächlichkeit und die Grenzen der Welt. Der geheimnisvolle Fremde hört kommentarlos zu. Dann verlässt er den Flughafen und beginnt eine Reise durch Spanien mit unbekanntem Ziel.

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Die besten Filme 2016: Nocturnal Animals

Okay, gleich mal eine Art Offenlegung: Ich musste Tom Ford googlen. Bei Nocturnal Animals (2016) handelt es sich zwar um den erst zweiten Film des Regisseurs nach A single man (2009), außerhalb des Kinouniversums ist er allerdings alles andere als unbekannt. Tom Ford ist Modedesigner, und allem Anschein nach ein verdammt erfolgreicher Modedesigner: Chefdesigner bei Gucci, Privatperson mit dem größten Gucci-Aktienanteil, Prêt-à-porter-Designer bei SYL und schließlich – nachdem er Gucci 2004 verlassen hatte – Gründer seines eigenen Modelabels, dass er ganz bescheiden Tom Ford International, LLC nennt. Der Mann hat offensichtlich ein Gespür für Mode und Modevermarktung und das sieht man auch seiner Verfilmung des Romans Tony & Susan (1993) an. Bleibt die Frage, ob der Film mehr zu bieten hat als die Schauwerte eines Fashion-Experten.

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Die besten Filme 2015 – The Lobster von Giorgos Lanthimos

Während im Tierreich die Fertilität üblicherweise mit dem Alter sinkt, stellen Hummer eine Ausnahme dar. Sie werden nicht nur fruchtbarer sondern auch stärker mit jedem weiteren Lebensjahr. Das liegt daran, dass sie in der Lage sind, ihre Zellen nahezu unbegrenzt zu erneuern. Wo die Zellen von anderen Tieren mit der Zeit sterben, nutzen Hummer ihre Telomerase, um permanent jung und frisch zu bleiben. Hinzu kommt, dass diese Tiere bis zu hundert Jahre alt werden können. Und dabei sowohl stark als auch sexuell aktiv bleiben. Das ist dann auch der Hauptgrund, warum sich David (Colin Farrell) dazu entscheidet, in dieses Tier verwandelt zu werden, sollte er bei seiner Partnersuche scheitern. Denn genau das ist das wesentliche Merkmal der Gesellschaft, in der David lebt: Du darfst kein Single sein, du musst einen Partner haben. Wenn du keinen Partner hast, musst du innerhalb von 45 Tagen einen finden. Wenn dir das nicht gelingt, wirst du in ein Tier deiner Wahl verwandelt. Um die Partnersuche zu erleichtern, werden alle Singles in ein Hotel am Strand verfrachtet, wo sie sich bei skurrilen Veranstaltungen bemühen, ein passendes Gegenüber zu finden. Um ihre Zeit bis zur tierischen Transformation zu verlängern, können die Hotelgäste zusätzliche Tage bei der Jagd gewinnen: Ein Tag pro gefangenem Loner (Stolze Langzeitsingles, die auf der Flucht vor der Obrigkeit in den Wäldern vor dem Hotel leben). Dem schüchternen und in sich zurückgezogenen David fällt die Partnersuche schwer und er sieht seine Zeit davon rinnen. Die letzte Hoffnung scheint in der Anbandelung mit der „Woman with no heart“ (Angeliki Papoulia) zu liegen. Eine Entscheidung, die Davids Leben radikal verändern wird…

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Die besten Filme 2015: Das bizarre Sittengemälde High-Rise von Ben Wheatley

Das Konzept der Wohnmaschine reicht fast 100 Jahre zurück. Bereits in den 1920er Jahren arbeitete der französische Architekt und Künstler Le Corbusier an den Plänen für einen Gebäudetypus, in dem vielen Menschen ein komfortables Wohnen ermöglicht werden sollte. Die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts waren schließlich die Zeit, in der das Konzept erprobt und massenhaft umgesetzt wurde. So genannte Unités d’Habitation sind Wohngebäude, in denen nicht nur viele Menschen auf engstem Raum zusammenwohnen, sie sollen als große Einheiten zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit Kleinstädte in Häuserform sein: Neben Wohnungen befinden sich in ihnen Supermärkte, Cafés, Schwimmbäder… der Gestaltung sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Das in Deutschland berühmteste nach diesem Konzept entstandene Gebäude dürfte das Corbusierhaus im Westen Berlins sein, das 1957 als bundesrepublikanische Antwort auf die DDR-Plattenbauten errichtet wurde und bis zum heutigen Tag bewohnt ist. Gut zwanzig Jahre nach dem größten Hype um Le Corbusiers Gebäude, verarbeitete der experimentelle Science Fiction Autor James Graham Ballard diese utopischen Wohnvorstellungen in dem dystopischen Roman Der Block (1975). Und wenn wir noch einmal 40 Jahre draufpacken, sind wir im 21. Jahrhundert angekommen und bei der Verfilmung von Ballards Roman High-Rise (2015) durch Ben Wheatley (Kill List, A Field in England). Es ist unbestreitbar, dass Le Corbusier, der 1965 gestorben ist, Zeit seines Lebens viel Kritik einstecken musste. Und seine Architektur zwischen freier Gestaltung, Brutalismus und holistischem Größenwahn gilt schon lange als überholt. Also bleibt die Frage ob die Verfilmung eines 1975 geschriebenen Buches über ein 50er Jahre Bauphänomen uns überhaupt etwas neues über unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben erzählen kann. Wie zeitgemäß kann eine solche Geschichte überhaupt sein? Und wenn sie es nicht ist, besitzt sie einen davon unabhängigen Wert?

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Der Nachtmahr (2015) – Deutscher Genrefilm als enervierender Horrortrip

Die große Gretchenfrage des deutschen Films ist und bleibt „Wie hältst du es mit dem Genre?“. Bei allem Lob für große Filmbewegungen, vom Neuen Deutschen Film der 70er Jahre bis zur Berliner Schule des letzten Jahrzehnts, bleibt sie virulent und wird wohl auch immer virulent bleiben. Es gibt zwei Geschichten zur Beantwortung dieser Frage. Die erste geht ungefähr so: Der deutsche Film kann keine Genres. Er kann es einfach nicht. Punkt. Die besten und erfolgreichsten Filme aus Deutschland waren immer Dramen oder Komödien. Jeder Versuch, Fantasy, Horror oder Science Fiction zu erzählen, ist krachend gescheitert. Und selbst wenn mal ein guter Film dabei herausgekommen ist, war das Ergebnis doch weitaus mehr Drama als irgendetwas anderes. Dann gibt es aber auch noch eine zweite Geschichte. Sie handelt von nicht gesehenen und vergessenen Perlen, von Genre-Meisterwerken, die sich nicht vor der amerikanischen oder internationalen Konkurrenz verstecken müssen. Filme die dezidiert deutsch sind und es dennoch schaffen, Fantastisches, Ungewöhnliches, Besonderes mit fantastischen, ungewöhnlichen, besonderen Mitteln zu erzählen. Eine wesentliche Protagonistin dieser Erzählung – zumindest in den 2010ern – dürfte AKIZ‘ Mysteryhorrordrama Der Nachtmahr (2015) sein. Ihm gelingt es eine fantastische, düster morbide Geschichte zu erzählen und sich zugleich ganz tief vor der Jugendkultur der 2010er Jahre zu verbeugen.

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