Die besten Thriller 2017: The Killing of a sacred Deer von Yorgos Lanthimos

Stark aber arrogant, so wird Agamemnon in der griechischen Mythologie beschrieben: Oft impulsiv und herrisch, aber auch jemand, der es versteht, Entscheidungen zu treffen und eine Armee zu führen. Als Familienmensch war Agamemnon stets zwiespältig oder gar negativ besetzt. Seine Frau eroberte er, indem er ihren vorherigen Gemahl tötete. Er zog in den trojanischen Krieg und ließ seine Kinder zehn Jahre allein zurück. Und dann gibt es da natürlich noch die Geschichte um seine Tochter Iphigenie, die er bereit ist zu opfern, um einen zuvor von ihm gemachten Fehler – der Mord an einer heiligen Hirschkuh der Artemis – zu büßen. Wie ein postmoderner Agamemnon wirkt der Herzchirurg Steven Murphy (Colin Farrell): Mit seinem überwältigenden Bart, seinem stattlichen Auftreten. Wie die griechische Sagenfigur hat er sich auch von seiner Familie entfremdet, begegnet seiner Frau (Nicole Kidman) und seinen beiden Kindern mit einer kalten, distanzierten Strenge. Ganz anders jedoch ist sein Umgang mit dem mysteriösen 16jährigen Martin (Barry Keoghan): Er trifft ihn im Geheimen und beschenkt ihn mit Zuneigung und wertvollen Gegenständen. Er lädt ihn in das Haus seiner Familie ein und besucht im Gegenzug Martins Mutter. Dieser will jedoch immer mehr und entwickelt sich schließlich in seinem Eifern nach Zuneigung zur dunklen Bedrohung für die gesamte Familie Murphy.

Es kommt selten vor, dass ein europäischer Arthaus-Regisseur im US-Kino ankommt, ohne dass es wirkt, als müsse er sich für den amerikanischen Markt verbiegen. Dem Griechen Yorgos Lanthimos ist dies gelungen: Nachdem er mit dem dunklen Familiendrama Dogtooth 2009 einen beachtlichen Durchbruch unter Filmliebhabern hatte – der Film spielte immerhin das vierfache seines kleinen Budgets ein – ging es für ihn aufwärts und Richtung Amerika: Die surreale Parabel The Lobster (2015) war seine erste große Produktion mit großen Darstellern (auch damals arbeitete er bereits mit Colin Farrell zusammen). Und mit The Favourite (2018) durfte er im letzten Jahr sogar einen waschechten Historienschinken drehen; mit einem – für seine Verhältnisse – fetten Budget und mehreren Oscar-Nominierungen. Dazwischen steht dieser merkwürdige Film aus dem Jahr 2017. The Killing of a Sacred Deer ist schwer zu greifen, noch schwerer zu lieben und doch ganz und gar ungewöhnliches Kino.

The Killing of a sacred deer ist praktisch das Gegenteil von Feel-Good-Kino, ein Feel-Bad-Film, wenn man denn so will. Unterstützt von einem mitunter quälend langsamen Pacing und einer brutalen Kälte, die man bereits aus vorherigen Lanthimos-Werken kennt, wälzt der Film mit seiner parabolischen Geschichte über sein Publikum. Diese besteht lange Zeit – bis zum schaurigen Finale – vor allem aus Episoden, Andeutungen von Handlungsläufen, ohne dass diese vollendes auserzählt werden würden. Stattdessen sind es vor allem Motive und Bilder, die den Film sachte aber gewaltig nach vorne treiben: Ständige körperliche Grenzüberschreitung in Verbindung mit größtmöglicher emotionaler Distanz, Kälte im Dialog und in den Handlungen, eine radikale Stagnation in der charakterlichen Entwicklung sowohl vor als auch nach als auch im Filmgeschehen. Dies sind die brutalen Werkzeuge mit denen der Film sehr erfolgreich maximales Unwohlsein bei seinem Publikum evoziert. Wie bei Dogtooth sind auch hier wieder eindeutig Bezüge aus dem europäischen Autoren- und Experimentalkino auszumachen. Pier Paolo Pasolini lugt um die Ecke, der frühe Lars von Trier scheint mit dem Kopf zu nicken und auch Ingmar Bergmans Spät- sowie Francois Ozons Hauptwerk dürfen sich geehrt fühlen. Aber zu den Europäern gesellen sich auch viele Einflüsse des (US-)amerikanischen Kinos. In seiner parabolischen Form zitiert The Killing of a sacred deer ganz gerne auch ganz klassische Revengethriller wie zum Beispiel Martin Scorseses Cape Fear (1991). Mit seiner epischen Verfolgerkamera und den harten Schnitten zwischen transzendierenden Totalen und unangenehm persönlichen Nahen, scheint Lanthimos auch das aktuelle Kino eines Aronofskys sehr zu schätzen.

Trotzdem wird The Killing of a sacred Deer nie zum traditionellen Psychothriller der amerikanischen Bauart. Dafür ist er einfach zu kalt, zu distanziert und vor allem zu parabolisch. Nicht wenige Kritiker haben vollkommen zurecht auf die Nähe des Agamemnon- und noch viel mehr Iphigenie-Stoffes hingewiesen. Wie in der mythischen Erzählung geht es auch in diesem Film letzten Endes um die Schuld eines herrischen, arroganten Vaters, die auf seine Familie abgewälzt wird. Auch hier müssen die leiden, die am wenigsten für vergangene Ereignisse können. In seiner ersten Ebene ist The Killing of the sacred Deer eine Parabel auf Schatten der Vergangenheit, auf Schuld und Verdrängung, auf das qualvolle Aussitzen von Schuld und das ebenso qualvolle sich dieser Schuld Stellen. In seiner zweiten Ebene – im brutalen Finale – kommt eine Ebene hinzu, die den Fokus vom Schuldigen ganz und gar auf die Unschuldigen verschiebt und deren aussichtslosen Kampf ums Überleben schildert. Plötzlich wird der Film zu einer Parabel auf kindliche – und jugendliche – Verlustängste, auf den Kampf um die Liebe der Eltern, auf den verzweifelten Wunsch zu gefallen, geliebt oder zumindest akzeptiert zu werden. In dieser Ebene erhält The Killing of a sacred Deer seine schmerzhaftesten Momente. Er bewegt sich aus dem vorherigen abstrakten, parabolischen Raum und entwickelt sich zur deprimierenden Tragödie. Zuerst wird Mythos und Determinismus permanent mit wissenschaftlichem Geist und Ratio kontrastiert. Plötzlich jedoch kämpft sich so etwas wie Emotion nach vorne, wohlgemerkt nicht in der eigentlichen Narration, sondern viel mehr in deren Konflikt mit dem Zuschauer. Dieser muss dabei ohnmächtig mitansehen, wie die wenigen Funken Menschlichkeit innerhalb der Geschichte zerrieben werden zwischen Utilitarismus und Mystizismus, bis zum düsteren Ausgang, der ebenso wie in einer klassischen griechischen Tragödie und durch und durch determiniert scheint.

The Killing of a sacred Deer ist kein leichter Film, weder emotional noch intellektuell. Und Dank dieser Charakteristika ist er eben auch ein Film, den man so schnell nicht vergisst, ein Film, der die schmerzhafteste und stärkste Seite der antiken Tragödie ins 21. Jahrhundert hievt, und der universelle Motive ebenso universell und zeitlos erzählt.

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