Die besten Filme 2015 – The Lobster von Giorgos Lanthimos

Während im Tierreich die Fertilität üblicherweise mit dem Alter sinkt, stellen Hummer eine Ausnahme dar. Sie werden nicht nur fruchtbarer sondern auch stärker mit jedem weiteren Lebensjahr. Das liegt daran, dass sie in der Lage sind, ihre Zellen nahezu unbegrenzt zu erneuern. Wo die Zellen von anderen Tieren mit der Zeit sterben, nutzen Hummer ihre Telomerase, um permanent jung und frisch zu bleiben. Hinzu kommt, dass diese Tiere bis zu hundert Jahre alt werden können. Und dabei sowohl stark als auch sexuell aktiv bleiben. Das ist dann auch der Hauptgrund, warum sich David (Colin Farrell) dazu entscheidet, in dieses Tier verwandelt zu werden, sollte er bei seiner Partnersuche scheitern. Denn genau das ist das wesentliche Merkmal der Gesellschaft, in der David lebt: Du darfst kein Single sein, du musst einen Partner haben. Wenn du keinen Partner hast, musst du innerhalb von 45 Tagen einen finden. Wenn dir das nicht gelingt, wirst du in ein Tier deiner Wahl verwandelt. Um die Partnersuche zu erleichtern, werden alle Singles in ein Hotel am Strand verfrachtet, wo sie sich bei skurrilen Veranstaltungen bemühen, ein passendes Gegenüber zu finden. Um ihre Zeit bis zur tierischen Transformation zu verlängern, können die Hotelgäste zusätzliche Tage bei der Jagd gewinnen: Ein Tag pro gefangenem Loner (Stolze Langzeitsingles, die auf der Flucht vor der Obrigkeit in den Wäldern vor dem Hotel leben). Dem schüchternen und in sich zurückgezogenen David fällt die Partnersuche schwer und er sieht seine Zeit davon rinnen. Die letzte Hoffnung scheint in der Anbandelung mit der „Woman with no heart“ (Angeliki Papoulia) zu liegen. Eine Entscheidung, die Davids Leben radikal verändern wird…

Keine Sorge, es macht schon alles Sinn. Keine Sorge, das wird schon alles Sinn ergeben… ist das Mantra Giorgos Lanthimos‘ erster internationaler Produktion. Der griechische Regisseur ist ja durchaus dafür bekannt, bizarr, hermetisch und surreal zu erzählen. Man denke nur an das groteske Familiendrama Dogtooth (2009), mit dem er international zum ersten Mal für Aufmerksamkeit sorgen konnte. Oder auch an den alles andere als realistischen Mysterythriller The Killing of a sacred Deer (2017), in dem Lanthimos klassische Horror- und Psychothriller-Topoi mit kafkaesker Tristesse verbunden hat. The Lobster (2015) dürfte jedoch ohne Zweifel sein surrealster, verwobenster und auch verschrobenster Film sein. Das beginnt bereits bei der Prämisse, eine dystopische Gesellschaft, in der das Singleleben nicht nur stigmatisiert sondern rundheraus verboten ist, hört dort jedoch noch lange nicht auf. Die Geschichte um obskure Datingrituale, Tierverwandlungen und abstruse menschliche Verhaltensweisen umarmt geradezu die Möglichkeiten des surrealen Geschichtenerzählens.

The Lobster ist aber nicht nur der surrealste Film von Giorgos Lanthimos, sondern vielleicht auch sein unterhaltsamster. Das liegt unter anderem daran, dass er bei weitem nicht so trostlos langsam erzählt ist wie seine anderen Werke. Ein großer Fokus in der gesamten Narration und Dramaturgie liegt auf absurdem, manchmal auch albernem, schwarzem Humor. Ja, auch wenn Lanthimos schon immer schwarzhumorige Momente in seine Filme hat einfließen lassen, waren diese doch nie so präsent und offensichtlich wie hier. Wenn David ein kleines Kind tritt oder auf erste Hilfe verzichtet, um die Frau ohne Herz zu beeindrucken, könnte einem das Lachen im Halse stecken bleiben. Diese Momente purer Bösartigkeit sind aber derart trocken erzählt, dass der Schrecken doch immer Platz macht für ein befreites Auflachen. The Lobster will an vielen Stellen albern und sogar infantil sein, will die Absurdität seines Szenarios gar nicht erst verbergen, sondern stolz präsentieren. Auch das mechanische – wäre man böse, könnte man auch sagen hölzerne – Acting, seit jeher ein Trademark der Lanthimos’schen Erzählweise, wirkt hier im Gegensatz zu anderen Filmen des Regisseurs nie aufgesetzt, nie artifiziell oder forciert, sondern passt perfekt zu der entworfenen Gesellschaft.

Die Menschen, die die Welt von The Lobster beherrschen sind nämlich Verzweifelte, die zugleich stets darum bemüht sind, ihre Verzweiflung zu verbergen. Von der Gesellschaft in absurde Balzrituale gezwungen, ertragen sie ihr Schicksal mit einem ruhigen, manchmal ein wenig larmoyanten Stoizismus, der aber nie zum großen Melodram ausholt. Der Blick unserer Gesellschaft auf Themen wie Romantik, Sexualität, Monogamie und Askese wird dabei herausragend gespiegelt. The Lobster ist auch so sau komisch, weil er sich gut darin versteht in seine bittersüße Fabel unzählige Wahrheiten einzuschreiben. Alles was hier passiert ist auf eine obskure Art und Weise schlüssig. Diese Welt mag uns auf den ersten Blick fremd erscheinen, wenn wir aber sehen, wie sie sich am Leben hält, macht doch plötzlich vieles Sinn, was in ihr an Fremdartigem geschieht. Der Surrealismus weicht einem erschreckenden wie amüsanten parabolischen Charakter, das Kryptische weicht einem gehässigen Symbolismus. Dies setzt allerdings – wie die meisten Filme des griechischen Regisseurs – eine große Bereitschaft des Publikums zur Suspension of Disbelief voraus. Wer sich von Grund auf schwer tut mit merkwürdigen, fremdartigen Szenarien, mit obskuren menschlichen Verhaltensweisen, wird mit diesem Film nicht glücklich werden. Es ist eben doch ein experimenteller, surrealer und auch merkwürdiger Film, der gerade durch seine Gehässigkeit eine mitunter unangenehme Kühle erhält.

Daran ändert auch die Emotionalität nichts, die im letzten Drittel etabliert wird. In diesem macht der Film einen faszinierenden 180° Schwenk und widmet sich ausführlich dem Gegenmodell der zuvor entworfenen Gesellschaftsordnung, indem er ihre Feinde in den Mittelpunkt rückt. Der verordneten strengen Monogamie wird die Alternative der strengen zwischenmenschlichen emotionalen und sexuellen Enthaltsamkeit entgegengeworfen, und wie zuvor versucht The Lobster nun auch diese zu unterminieren. Dadurch erhält seine Parabel eine gehörige Ambivalenz und zusätzlich darf er doch das tun, worum er sich davor so gekonnt gedrückt hat: Eine vermeintlich echte und wahrhaftige Liebesgeschichte erzählen. Von dieser darf man sich allerdings nicht aufs Glatteis führen lassen, bleibt The Lobster doch weiterhin makaber und unterkühlt und stellt so nicht nur die Subversion sondern auch die Subversion der Subversion in Frage. Spätestens das dürfte dann für viele Zuschauer eine Windung zu viel sein und es ist nicht schwer vorstellbar, dass The Lobster in seinem pessimistischen, nihilistischen und vor allem ausweglosen Drehen um sein Thema letzten Ende auch noch die verliert, die in der Hoffnung auf Katharsis lange ausgehalten haben. Aber was wäre schon ein gelungener Lanthimos ohne deprimierende, hoffnungslose Schlussminuten.

The Lobster ist ein faszinierender Hybrid aus Dystopie, Fabel und schwarzer Komödie. Ein Film, der alles andere als zugänglich ist und dennoch zu den zugänglicheren Filmen seines Regisseurs gehört. Wer keine Angst vor einer subversiven Erzählung, bitterbösem Humor und surrealem World Building hat, dürfte mit dieser makaberen Parabel sehr glücklich werden.

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