Sequenz/Verknüpfung/Anarchie – Orphea von Alexander Kluge und Khavn
Wer Alexander Kluges Œuvre in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, weiß, dass er sich schon vor längerer Zeit vom traditionellen cineastischen Erzählen entfernt hat. Unzweifelhaft beeinflusst von seinen Fernseharbeiten mit der dctp ist sein Stil schon lange fragmentarisch, zwischen Fakten und Fiktionen pendelnd und angelehnt an Sehgewohnheiten, die sich im Fernsehen der 80er Jahre entwickelt haben: Kluge liebt den Schnitt zu etwas völlig anderem, er liebt die Verknüpfung von Dokumentation und Fiktion, er liebt die Reihung und das Offenlassen. Kluges segmentierte Filme lesen sich auch immer wie eine Reihung von Cliffhangern, die aufeinander aufbauen, aber nie zu einem Abschluss kommen. Prinzip Serie als Film. Das ist auch bei Orphea (2020) der Fall. Der größte Unterschied zu seinen letzten Werken: Mehr als jemals zuvor muss sich Kluge mit seinem Regiepartner – dem philippinischen Experimentalregisseur und Künstler Khavn – und seiner Hauptdarstellerin, der Schauspielerin und Sängerin Lilith Stangenberg, auseinandersetzen. Denn diese haben ähnliche und doch ganz andere Ziele als die Ikone des neuen deutschen Films.
Orpheus hat versagt. Er wollte seine Geliebte Eurydike aus der Unterwelt retten, drehte sich aber im letzten Moment der Flucht – entgegen allen Warnungen – um, und muss so miterleben, wie die bereits gerettet Scheinende zurück in den Hades gezogen wird. Jahrtausende alt ist diese Sage und Jahrtausende lang mussten wir ihrem Misserfolg beiwohnen. Angesichts dieser Schmach kann es nur einen Ausweg gehen. Orpheus wandelt sich. Aus ihm wird sie. Aus dem Orpheus wird die Orphea (Lilith Stangenberg), die sich zum letzten Mal auf den Weg begibt, mit ihrer Musik, mit ihrer Kunst ihren Geliebten Euridiko (Ian Madrigal) aus der Unterwelt zu befreien. Der Weg führt sie nicht in eine klassische Hölle, sondern in die philippinischen Slums: Zu dekadenten Partys auf der Straße, in die dichte Atmosphäre heruntergekommener Freudenhäuser und zu allerhand traurigen, lebenslustigen, verwegenen und suspekten Personen. Was Orphea aber auf diesem Weg bei sich hat, ist die Musik. Und die Erinnerung. Und die Macht des Filmischen.
Orphea tanzt. Nicht auf den philippinischen Straßen, sondern in einem Studio. Genau genommen tanzt sie auf einem Greenscreen. Vielleicht scheint es für einen kurzen Moment so, als würde sie tatsächlich auf Steinen tanzen, aber die fehlende Räumlichkeit des Bildes, das in den Greenscreen gepackt wurde, wird bereits nach wenigen Sekunden offensichtlich. Orphea spricht mit der Stimme von Alexander Kluge. Vielleicht ist es in dieser Szene auch Lilith Stangenberg, die mit der Stimme von Kluge spricht. Denn im Laufe des Films wird die Schauspielerin immer wieder aus der Rolle heraustreten. Irgendwann kommentiert sie auch den klassischen Text, den sie rezitieren soll. Und das nicht sehr schmeichelhaft. Irgendwann stürzt sie und reißt die halbe Kulisse mit sich. Orphea tanzt. Auf den Straßen der philippinischen Slums. Nervös versucht die Kamera sie einzufangen und scheitert dabei doch immer wieder. Die Kamera ist sich selbst nicht ganz sicher, wo oder wer sie sein will. Mal breitbildig cineastisch, mal verwackelt, fast quadratisch. Mal analog, die raue Luft des Szenarios atmend, mal digital, verloren in der Dunkelheit der Straßen und Plätze, auf denen Khavn sie jagt. Orphea bricht mit den Regeln. Sie schreit ihre Filmemacher an, verkriecht sich in den Kulissen des sterilen Düsseldorfer Studios, sie versteckt sich vor der Kamera in den Gassen Manilas, Sie wechselt ihre Persönlichkeit, wird zur Schauspielerin, zur Sängerin, Rock, Oper, plötzlich wird sie ganz persönlich, dann wieder unnahbar. Orphea besiegt nicht nur das Totenreich sondern auch die filmischen Konventionen. Sie rettet nicht nur Euridiko, sondern die ganze Welt: Gestrandete Flüchtlinge an der griechischen Küste, Kinder in den beiden Weltkriegen, Menschen, die von giftigen Schlangen gebissen wurden, und Künstler, die allzu sehr in ihr Sujet verliebt sind.
Möglicherweise ist es noch nicht deutlich geworden, aber Alexander Kluge macht in Orphea das, was er schon die Jahre zuvor in seinen Kinofilmen gemacht und was bei gar nicht so wenigen avantgardistischen Regisseuren des 20. Jahrhunderts (u.a. Godard) mittlerweile sehr in Mode ist: Er segmentiert und verknüpft seine Segmente, ohne Rücksicht auf klassische Narrations- und Inszenierungstechniken. Orphea ist eine Collage. Scheinbar unzusammenhängende Szenen reihen sich aneinander. Versuchen einen Kosmos zu eröffnen, ein großes Ganzes zu erzählen. Das ist tatsächlich erst einmal nichts neues. Jeder, der die letzten Kinofilme – oder TV-Arbeiten – Kluges kennt, kennt das Prinzip und fühlt sich wahrscheinlich auch, trotz experimentellen Charakters relativ schnell darin zurecht. Spannend wird dieses Prinzip indes durch den Kontrast zwischen Kluge und dem ebenfalls experimentell arbeitenden Regisseur Khavn, aus dessen Feder gut 50% der Segmente Orpheas stammen. Während Kluge wie gehabt in Bruchstücken assoziiert aber eben auch wie gehabt in den Bruchstücken immer nach Struktur und Verknüpfungen sucht, arbeitet Khavn komplett wild, frei assoziativ und anarchisch: Ohne Sinnsuche, mit radikal wechselnden Bildern, Jump Cuts, Dissoziationen. Harmonie entsteht so nicht. Die Beiträge Kluges und Khavns ergänzen sich nicht, sondern beharken sich, scheinen im Clinch miteinander zu liegen. Im Grunde genommen sind das hier zwei Interpretationen des Orpheus-Mythos: Zum einen die Unterwelt als nicht abreißender Strom von Aufnahmen aus den philippinischen Slums, zum zweiten als dialektische Kette von Musik, Gedanken und Interpretationen. Kluge durchbricht ständig die vierte Wand (wenn zum Beispiel Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg einen klassischen Text bewertet, die Kulisse zertrümmert oder von persönlichen Erlebnissen betritt), Khavn zieht den Zuschauer in seine Welt hinein, saugt ihn auf, zermürbt ihn, ohne irgendeinen emotionalen Filter. Hinzu kommt Stangenberg, die eben auch nicht nur für ihre Regisseure spielt, sondern ihren eigenen ästhetischen Willen durchsetzt. Spricht sie zu Beginn des Films noch – im wahrsten Sinne des Wortes – mit Kluges Stimme, bricht sie irgendwann aus, schreit die Regisseure und das Publikum zusammen, singt Opernklassiker mit einer verlorenen Rockstimme oder weigert sich einfach, weiter in diesem Tumult mitzuspielen.
Auf diesen Kampf dreier Kunstschaffender muss man sich einlassen wollen. Orphea ist experimentelles Kino: Mehr Kunst als Film. Eine geradlinige Handlung gibt es ebenso wenig, wie eine Sinnstruktur, an der sich der Zuschauer festklammern könnte. Dafür gibt es aber immer wieder die Segmente, die einen fesseln und so schnell nicht mehr loslassen. So unmöglich es ist, Orphea als Ganzes zu greifen und zu verstehen, so beeindruckend sind doch seine Einzelteile. In einer Sequenz erzählt Stangenberg, wie sie auf Sardinien eine Schlange sah und im Versuch mit einem Einheimischen Kontakt zu knüpfen, diesem die Schlange zeigte. Der Sarde jedoch dachte, sie würde sich vor der Schlange fürchten und hat das Tier totgeschlagen. Während Stangenberg diese Anekdote erzählt, ändert sich der ganze Rahmen. Ihre Schuldgefühle wirken nicht mehr als Teil einer Inszenierung, sondern als persönliches, authentisches Bekenntnis. Wahrscheinlich kommt man der Künstlerin Lilith Stangenberg in diesem Moment näher, als in jedem anderen Interview, das sie je gegeben hat. In einer anderen Sequenz erfahren wir durch Schrifttafeln von hungernden Kindern im Weltkrieg, die einen Hund losschicken, um Hilfe zu holen. Der Hund stirbt. Im anschließenden Triptychon werden die berüchtigten Bilder von ertrunkenen Flüchtlingskindern an der europäischen Küste gezeigt. Es sind diese Momente, die mit voller emotionaler Wucht zuschlagen und dem Zuschauer im kryptischen Gesamtwerk einen gewissen Halt geben. Ja, Orphea zermürbt mit seiner Sequenzierung von scheinbar Unzusammenhängendem, aber er entschädigt auch mit Momenten von großer emotionaler Kraft.
Womit die Frage im Raum stünde: Für wen ist eigentlich Orphea etwas? Mit Sicherheit nicht für den Cineasten, der kohärente Handlungen und straight forward erzählte Geschichten liebt. Auch nicht für den Freund surrealer Epen eines Luis Buñuel, David Lynch oder Alejandro Jodorowsky. Dafür ist Orphea selbst für dieses Genre zu zerfasert zu wenig handlungsgetrieben. Nein, man muss schon ein Faible für experimentelles Kino oder gar Anti-Kino haben, um diesen Film mit Freude genießen zu können. Orphea ist ein mosaikhafter Trip, eine experimentelle Wundertüte; Orphea ist aber auch ein Musical, eine Oper, ein Rock N Roll Klassik Bastard; nicht allein dadurch, dass es eine Menge Tanz- und Gesangseinlagen gibt, sondern auch wie er die Kraft der Musik besingt, sowohl in der Tradition als auch in der Progression. Insofern ist Orphea auch ein Film für Musikliebhaber, denen die Liebe zur Musik wichtiger ist als Erzählung, Dramaturgie und Inszenierung. Jedenfalls handelt es sich trotz seines kryptischen Charakters, trotz seiner Zerfahrenheit und Disharmonie um einen Film, der nicht so schnell vergessen wird.
Disclaimer: In meiner redaktionellen/technischen Arbeit habe ich bis zum heutigen Tag in diversen Projekten mit der dctp und Alexander Kluge zusammengearbeitet.
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