Die besten Filme 2019: Porträt einer jungen Frau in Flammen von Céline Sciamma

Können wir nochmal festhalten, dass das Filmjahr 2019 unfassbar stark war? Gut, 2020 war cineastisch gesehen – aus Gründen – ein komplettes Fiasko, aber das Vorjahr hat derart überzeugend abgeliefert, dass die derzeitige Kino-Nullrunde zumindest dem Publikum fast nichts ausmachen sollte. Ich habe es jedenfalls immer noch nicht ganz geschafft, all die großartigen Filme zu schauen, die letztes Jahr die Lichtspielhäuser zum ersten Mal beglückt haben. Einer dieser Filme ist Céline Sciammas Porträt einer jungen Frau in Flammen (2019), von der Kritik hochgelobt und auch den Kinokassen mindestens mit einem Achtungserfolg – zumindest für dieses Genre – gesegnet: Portrait de la jeune fille en feu, so der wunderschöne Originaltitel, ist ein Historical Period Drama wie es im Buche steht. Weit entfernt von Pomp und Glamour eines Kostümfilms, aber auch weit entfernt vom globalen Blick eines Historienepos‘ erzählt der Film vor der Kulisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine Geschichte um Liebe und Begehren und einen sehr spezifischen Blick, der den Mythos des Orpheus aus den Angeln hebt.

Vier Frauen, mehr Personen braucht der Film nicht, um seine Geschichte zu erzählen. Und zwischendurch reicht es ihm auch, sich komplett auf die beiden Protagonistinnen zu beschränken, indem er seine Handlung mehr und mehr auf ihre gemeinsamen Augenblicke verdichtet. Da wäre als erstes die Malerin Marianne (Noémie Merlant), die zu einem kleinen Eiland an der Küste der Bretagne reist, um dort einen ebenso lukrativen wie ungewöhnlichen Porträt-Auftrag anzunehmen. Wir erfahren nicht viel über die Hintergründe dieser Marianne, aber wir erfahren, dass sie eine selbstbewusste Frau ist, die sehr genau weiß, wo sie in der Gesellschaft steht und wie sie das bekommt, was sie erreichen möchte. Und da wäre als zweites die junge frisch verlobte Héloïse (Adèle Haenel), die zusammen mit ihrer Mutter auf einem üppigen Wohnsitz auf diesem Eiland lebt. Héloïse ist die Frau von der Marianne das Porträt anfertigen soll, ohne deren Wissen. Denn Héloïse ist alles andere begeistert von der bevorstehenden Vermählung mit einem Mailänder, den sie nie zuvor gesehen hat, und den sie auch nur heiraten soll, weil die ihm zuvor Versprochene – Héloïses Schwester – den Freitod wählte, um diesem Schicksal zu entfliehen.

Aber eigentlich geht es nicht um diese bevorstehende Hochzeit, es geht nicht um die Zukunft in Mailand und es geht auch nicht sonderlich um die engen gesellschaftlichen Grenzen der damaligen Zeit. Im Mittelpunkt dieses Liebesfilms steht der Augenblick, stehen die Augenblicke sowohl im direkten als auch indirekten Sinne. Da Héloïse nichts von der Entstehung ihres Porträts wissen darf – den ersten Maler hat sie mit ihrem radikalen Widerstand vergrault – gibt Marianne vor, als Gesellschafterin für sie auf der Insel zu sein. Sie begleitet Héloïse auf ihren Spaziergängen an der steilen Bretagneküste und versucht dabei genug Blicke auf ihren Körper und ihr Gesicht zu erhaschen, um das Porträt vollenden zu können. Es sind diese Augenblicke zwischen den beiden, die einen großen Teil des Films ausmachen. Mit vorsichtigen, unauffälligen Beobachtungen versucht Marianne Héloïses Aussehen zu ergründen, um anschließend in ihrem Zimmer am Porträt weiter zu zeichnen. Der Male Gaze – der männliche Blick – ist ein wiederkehrender Topos feministischer Filmtheorie. In diesem Film – in dem Männer vollkommen abwesend sind – wird ihm ein dezidierter Female Gaze entgegengestellt. Mariannes Blicke sind zu Beginn noch von ihrer Professionalität, ihrem künstlerischen Vorhaben getrieben, sie wandeln sich aber im Laufe der Handlung zuerst zu ehrlich interessierten, neugierigen und schließlich zu leidenschaftlichen Blicken. Sie degradieren Héloïse nicht zum Objekt – obwohl dies ihre ursprüngliche Intention ist – sondern decken ganz im Gegenteil viel mehr Schicht um Schicht ihre Menschlichkeit auf. So wie der Male Gaze eine Reduktion der Beobachteten auf das Objekt der Begierde darstellt, so evoziert der hier porträtierte Female Gaze eine Befreiung der Frau aus ihrer gesellschaftlichen Rolle. Und in dieser Befreiung entsteht dann auch sehr natürlich die emotionale wie physische Anziehung zwischen den beiden Protagonistinnen.

Dies ist der Punkt, an dem der Orpheus-Mythos ins Spiel kommt: Orpheus Frau Eurydike starb durch einen Schlangenbiss und gelangte so in die Unterwelt. Orpheus wollte seine Frau jedoch nicht aufgeben und überzeugte den Fürsten der Unterwelt, Hades, Eurydike zurück ins Leben holen zu dürfen. Dieser stellte jedoch eine Bedingung. Beim Weg zurück zur Erde sollte Orpheus voranschreiten ohne sich nach Eurydike umzudrehen. Orpheus, der auf dem Weg in die Freiheit seine Frau plötzlich nicht mehr hören kann, dreht sich zu ihr um, und sie wird daraufhin vor seinen Augen von den Höllenpforten verschluckt. Einer Dekonstruktion dieser antiken Sage durften wir bereits vor kurzem in Alexander Kluges Orphea (2020) beiwohnen. Auch das Porträt einer jungen Frau in Flammen ist vor allem an der weiblichen Kehrseite dieses Mythos interessiert. Gleich mehrmals referieren die Protagonistinnen auf den Stoff, immer mit der Frage, warum Orpheus sich umdrehen musste, obwohl er wusste, dass sein Blick das Schicksal Eurydikes besiegeln würde. Eine definitive Antwort kann und will Céline Sciamma auf diese Frage nicht geben. Stattdessen entwirft sie einen radikalen Gegenentwurf zu jener männlichen Höllenvision.

Im Laufe des Films verlässt die Gräfin für einige Tage die Insel. In dieser Zeit entwickelt sich das ganze Szenario zu einem fast irrealen weiblichen Eden. Zu den immer intimer miteinander werdenden Marianne und Héloïse gesellt sich die Hausangestellte Sophie (Luàna Bajrami), die zuerst nur Gesellschaft schließlich enge Freundin für das Liebespaar ist. Von jeglichem Ballast der Außenwelt befreit entwerfen die drei so etwas wie eine weibliche Utopie, einen Safe Space (um es mit den Worten des 21. Jahrhunderts zu sagen), dem selbst äußere Einflüsse wie die ungewollte Schwangerschaft Sophies nichts anhaben können. In dieser Utopie erzählt Portrait de la jeune fille en feu die Geschichte von Frauen, die unter sich frei und sie selbst sein können. Diese Geschichte ist zwar durch ihren historischen Kontext eingerahmt in eine von Männern dominierte Welt, diese ist aber als eindeutiges Außerhalb nur hin und wieder, nur temporär und nur latent zu spüren. Im Mittelpunkt steht dann ganz und gar die leidenschaftliche Liebe zwischen Marianne und Héloïse, sowie das enge freundschaftliche Band zwischen den drei Protagonistinnen.

Céline Sciamma nimmt sich viel Zeit dieses Zentrum zu umkreisen, unterstützt ihre weibliche Utopie durch meditative Bilder, lange Kameraeinstellungen und eine mitunter fast schon meditative Atmosphäre. Porträt einer jungen Frau in Flammen wird nie zum hitzigen, lauten Liebesfilm. Seine Romantik wie seine Erotik kommen oft akademisch daher, sein Anspruch ist ein Künstlerischer, seine Erzählstrategien sind Langsamkeit und Zurückhaltung. Aber er ist dabei nicht ohne Leidenschaft. Gerade in seiner kargen Umgebung, in seiner Zurückhaltung findet der Film seinen ganz eigenen Bezug zu Schönheit und Leidenschaft. Er ist bisweilen ausgesprochen eskapistisch, in einer ungewöhnlichen Szene sogar traumwandlerisch, er kostet die Liebe zwischen seinen Protagonistinnen aus, indem er ihnen immer wieder besondere Augenblicke tiefer gegenseitiger Blicke schenkt. Wo der sich vergewissernde Blick im Orpheus-Mythos fatale Konsequenzen hat, tut Sciamma alles dafür, seine Offenheit, Ehrlichkeit und seinen Zauber einzufangen. Wie Marianne ihr Porträt anfertigt, geht auch Sciamma mit vorsichtigen Pinselstrichen vor. Der Film selbst wird zum Porträtgemälde, das versucht mit viel Sorgfalt in kleinsten Details eine größere Geschichte zu erzählen.

Mit seiner bedächtigen, vergeistigten Art wird Porträt einer jungen Frau in Flammen nicht jedem gefallen. Manchen wird er zu langsam, zu verkopft und zu akademisch sein; andere dürften sich an seinem Eskapismus, sowie dem großteiligen Verzicht auf Sozialkritik und dramatische Konfrontation stören. All das ist aber nicht der Punkt dieses vorzüglichen Gemäldes: Sciammas Porträt ist eine zurückhaltende und zugleich wirkmächtige weibliche Utopie, eine Befreiung des Historiendramas von jedem störenden Ballast, und nicht zuletzt eine wunderschöne, friedliche Liebesgeschichte, die den Augenblick in Augenblicken einfängt, den Augenblick in Augenblicken feiert, und den Augenblick in Augenblicken transzendiert und auf eine Ebene hebt, die stärker ist als alle historische Wirklichkeiten. Wenn Orpheus sich umdreht ist seine Geliebte durch den Blick in alle Ewigkeit verdammt, wenn Marianne sich umdreht, ist ihre Geliebte zumindest für einen Augenblick für alle Ewigkeit gerettet.

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