Die besten Filme 2017: The Wild Boys von Bertrand Mandico

Also gut, reden wir über den Experimentalfilm. Ein Genre das, zumindest wenn es nach der deutschen Wikipedia geht, gar nicht existiert (dort wird der englische Artikel zum Experimentalfilm immer noch ziemlich schnodderig mit Avantgardefilm übersetzt). Experimentelle Filme gehen über das hinaus, was übliche Sehgewohnheiten betrifft, sie transzendieren das Medium, zerreißen es, und stellen so eine Herausforderung für ihr Publikum dar. Wen oder was man zum Experimentalfilm zählen könnte, darüber lässt sich vermutlich lang und breit diskutieren. Genügt es schon, eine surreale Handlung aufzubauen, wie dies zum Beispiel David Lynch tut? Oder ist dieser mit seinen düsteren Mysterythrillern doch zu konventionell, um hier einen Spot zu verdienen? Muss es gleich die komplette Zertrümmerung des Mediums sein, wie zum Beispiel in den Kurzfilmen des 80er Jahre Transgressive Movies, oder gibt es doch irgendwas dazwischen? Ist Tarkowski ein Experimentalfilmregisseur, ist Bergman einer? Was ist mit den Nouvelle Vague Autorenfilmern oder den Ikonen des Neuen Deutschen Films? Ist gleich alles experimentell, was neu und ungewohnt ist? Dann könnten ja sogar Filme wie Blairwitch Project in der Kategorie landen. Nee, irgendwie kann es das nicht sein, und vielleicht ist eine Stärke der Schublade Experimentalfilm, dass sie ebenso wie die ihr zugehörigen Filme vage und abstrakt bleibt, dass sich vieles und gar nichts in sie hineindeuten lässt. Fest steht jedenfalls, dass experimentelle Filme nur selten ein größeres Publikum erreichen, sind sie doch einfach zu anstrengend, zu konfus, zu unorthodox, um über die Nische hinaus Eindruck zu hinterlassen. Dieses Schicksal blüht wohl auch Bertrand Mandicos Langfilmdebüt The Wild Boys (2017), der so ziemlich alle Zutaten für einen abgehobenen Film zwischen Experiment und Avantgarde besitzt. Ihn in dieser Nische zu lassen, täte diesem mitreißenden Meisterwerk allerdings Unrecht…

Also gut, reden wir über Einflüsse. Denn diese sind bei all der Originalität von The Wild Boys nicht von der Hand zu weisen. Als erstes wäre da der Griff ganz tief in die Vergangenheit des avantgardistischen Kinos. The Wild Boys ist beseelt von der Ästhetik des Expressionismus. Gerade einige der überzeichneten Szenen zu Beginn des Films atmen den Geist expressionistischer Werke im frühen 20. Jahrhundert: Das Spiel mit extremen Helligkeitskontrasten, die verzerrten, abstrakten Kulissen, die Thematik zwischen Atavismus und Anarchismus. Konsequenterweise präsentiert sich The Wild Boys dann auch größtenteils in schwarz-weiß, bricht diesen historischen Stil nur hin und wieder auf, um mit radikalen Farbtupfern seine Kontrastfreude noch stärker zu betonen. Konsequenterweise kommt er dann sowohl in den ersten Minuten als auch in späteren Montagen fast wie ein Stummfilm daher, der auf der Leinwand Performanz und Musik inszeniert, um diese mit einer fabulierenden Erzählerstimme aus dem Off zu ergänzen. Neben dem Rückgriff auf den Expressionismus bedient sich The Wild Boys auch exzessiv beim Surrealismus, vor allem der Gestalt, die von der Psychoanalyse eines Carl Gustav Jung inspiriert war: Immerhin geht es hier auch um Archetypen, um das Unbewusste, um Persona und Schatten. Und schließlich sei als letzte Inspiration der fantastische Exploitationfilm genannt, ist The Wild Boys doch auch ein fantastischer Ritt durch Absurdes, Groteskes und Bizarres, irgendwo zwischen den Pforten des Himmels und den weit geöffneten Toren der Hölle. Und diese drei Haupteinflüsse sind nur die Spitze des Eisberges: Dazwischen tummeln sich Melville und Musil, Golding und Verne, Burroughs und Woolf… und wahrscheinlich noch unzählige andere Inspirationen.

Also gut, reden wir über die Geschichte. Denn so sehr Wild Boys experimentell, avantgardistisch, bizarr und eigen ist, besitzt er in seinem Kern doch einen Plot, der im Gegensatz zu vielen seiner Genregeschwistern auch eine Handlung vorantreiben, ein Geschehen abbilden will. Im Mittelpunkt stehen fünf heranwachsende Jungs, allesamt gespielt von Darstellerinnen (Vimala Pons, Anaël Snoek, Diane Rouxel, Mathilde Warnier und Pauline Lorillard). Diese sind in ihrem ungezähmten Hedonismus, in ihrer archaischen Ausübung dämonischer Rituale zu weit gegangen. Sie haben ihre geliebte Literaturlehrerin ermordet. Zur Strafe und Läuterung werden sie mit einem wilden, atavistischen und zivilisationskritischen Kapitän (Sam Louwyck) aufs Meer geschickt. Beim harten und entbehrungsreichen Reisen auf dessen Kutter sollen sie geläutert und resozialisiert werden. Der Kapitän führt die wilden Jungs, die permanent zwischen hündischer Unterwerfung und Meutereifantasien pendeln, zu einer entlegenen, fantastischen Insel. Die Flora dieser Insel ist ein einziger libidöser Reigen, beherrscht wird sie von der mysteriösen Séverine (Elina Löwensohn). Und die Jungs beginnen schließlich tatsächlich sich zu ändern, weit über das Mentale und Psychische hinaus.

Also gut, reden wir über Geschlecht. Immerhin ist dies das zentrale Thema des Films. Genauer genommen die Fluidität und potentielle Dekonstruktion der Geschlechter. The Wild Boys erzählt in seinem Zentrum die Geschichte von Jungs, die alle Merkmale einer hypermaskulinen Spezies besitzen und plötzlich ihre gesamte Maskulinität verlieren. Aus den heranwachsenden Männern werden Frauen. In der Darstellung dieses Prozesses ist The Wild Boys weder abstrakt noch zurückhaltend. Wir sehen gewachsene Brüste und abgefallene Penisse, wir sehen Männlichkeit die zerrissen wird und sich selbst zerreißt. Wir sehen die Auflösung der Kategorien und damit einhergehend die Befreiung der Sexualität. Dabei ist es nicht nur die männliche Physiognomie, die hier herausgefordert wird, The Wild Boys stürzt sich Mitten in den Diskurs um Geschlechterklischees und Geschlechterrollen, Gender und Sex, Männlichkeit und Weiblichkeit und hat dabei seine Hausaufgaben gemacht, seine Judith Butler und seinen Michel Foucault gelesen und weiß, um die Macht der dekonstruktiven Auflösung. So wird das zerstörerische, mörderhafte Moment der wilden Jungs zu Beginn des Films nicht als toxisch maskulin, sondern in seiner Literarizität, in seiner Poesie und Ästhetik beinahe weiblich geschildert, kontrastiert mit einer augenzwinkernden Referenz an die Droogs aus Clockwork Orange. Der raue, bärtige Kapitän, der fast wie eine Karikatur auf Ahab wirkt, weist alle Merkmale eines traditionellen Männerbildes auf, besitzt aber keine primären, männlichen Geschlechtsmerkmale, und die Pflanzenwelt der fantastischen, zügellos geschlechtlichen Insel, ist ebenso phallisch wie vulvisch, ist ebenso aufreizend wie abstoßend, hypersexuell in alle erdenklichen Richtungen, ohne sich auf irgendeine Geschlechtlichkeit festzulegen.

Also gut, reden wir über Erotik. Denn The Wild Boys ist ein verdammt erotischer Film, bis hin zum Pornografischen. Dabei sind es nicht nur die halbnackten und nackten Körper der jugendlichen Jungs, später Mädchen, die einen bisweilen verstörenden hebephilen Beigeschmack besitzen, spätestens auf der Reise über das fantastische Eiland Séverines wird alles sexualisiert, was sich der Kamera in den Weg stellt. Bäume wollen gemolken werden, Pflanzen öffnen aufreizend ihre Schenkel, die Natur lädt zum großen orgiastischen Rausch ein. Schließlich kann sich nichts mehr dem erregten Blick des Films entziehen, der Sexualität komplett von der Geschlechtlichkeit entfesselt, universalisiert und damit von jeder starren Ordnung befreit. Das ist dann nicht nur erotisierend, sondern gerne auch mal schockierend, in seinem obskuren erotischen Pantheismus sogar abstoßend, aber zu jeder Zeit zutiefst faszinierend, losgelöst von jeder Konventionalität. Dabei spielt nicht einmal das zwischenmenschliche Sexuelle eine große Rolle, viel zentraler wird die Erotisierung der Welt. Das Fantastische ist in The Wild Boys auch immer das Erotische, das Erschreckende ist auch immer das Erregende, die Abstoßung ist auch immer die Verführung.

Also gut, reden wir über das, was kaum in Worte gefasst werden kann. Die Rolle von The Wild Boys als Film. So sehr dem experimentellen Kino immer der Verdacht anhängt, sein Medium nicht ernst zu nehmen, keine Filme zu gestalten sondern abstrakte Kunstwerke, so sehr entzieht sich The Wild Boys diesem Avantgarde-Klischee. Bertrand Mandicos Film ist ein Film durch und durch. Mehr noch, er ist ein Paradebeispiel dafür, wofür das Medium geschaffen wurde: Um Realität zu transzendieren, zu erweitern und zu zerstören, zu verformen und neu zu denken. The Wild Boys ist ein wunderbarer fantastischer Ritt durch menschliche Abgründe und übermenschliche Höhenflüge: Er kulminiert Topoi des Fantastischen, Feministischen, Surrealen, Expressionistischen in einer ganz eigenen wüsten, dekadenten Vision. Er ist grotesk, bizarr und abstoßend, laut, euphorisch und wunderwunderschön. Er ist nicht einfach nur ein Experiment, er ist nicht einfach nur eine Fingerübung, sondern eine rohe, anarchische Offenbarung, ein Höllenwerk, ein ungezügeltes Fest der Auflösung von Kategorien und Strukturen, ein Tanz mit Teufeln und Teufelinnen, und mit Sicherheit eines der aufregendsten filmischen Werke des ausgehenden Jahrzehnts.

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