Sehenswertes aus dem Jahr 2021: Die Ausgrabung von Simon Stone

Die Ausgrabungen von Sutton Hoo aus dem Jahr 1939 gehören zu den großen archäologischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Der Fund eines angelsächsischen Schiffgrabs mit zahllosen kulturellen Schätzen hatte einen enormen Einfluss auf unser Verständnis des Frühmittelalters. Dass mit Basil Brown ein engagierter Amateur-Ausgräber für den Fund verantwortlich war, war zudem ein starkes Exempel dafür, dass Leidenschaft und Hingabe beim Forschungsdrang eine traditionelle Hochschulkarriere aufwiegen können. Außerdem zog der Fund eine traurige Geschichte der Nichtbeachtung seines Hebers durch die museale Öffentlichkeit nach sich. Erst viele Jahrzehnte nachdem die Fundstücke dem British Museum gespendet wurden, wurde Brown als Finder anerkannt und entsprechend in der Ausstellung dieser Stücke namentlich genannt und gewürdigt. John Preston verarbeitete in seinem Roman The Dig (2007) diese Geschichte, natürlich mit diversen dramaturgischen Ausschmückungen, einer besonderen Fokussierung, die damit zusammenhing, dass eine der Ausgräberinnen Prestons Tante war, und nicht zuletzt einem gewissen Pathos, der dem Gewicht dieses archäologischen Ereignisses gerecht werden sollte. 2019 schon hat sich die BBC der Verfilmung des Stoffes angenommen. Diese ist im Laufe der vergangenen Jahre (wie so viele Filmprojekte) zu Netflix gewandert, und das Ergebnis ist Die Ausgrabung (2021), ein Drama, das wie seine Vorlage darum bemüht ist, Realität und poetische Verarbeitung in die Balance zu kriegen.

England, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges: Die Witwe Edith Pretty (Carey Mulligan) beauftragt den Amateur-Archäologen Basil Brown (Ralph Fiennes) die Hügel auf ihrem Landsitz zu untersuchen. Dieser findet schnell heraus, dass es sich nicht nur um Grabstätten handelt, sondern auch seine Vermutung, dass diese angelsächsisch sind, scheint sich mehr und mehr zu bestätigen. Als sich einer der Hügel als Grab entpuppt, das ein gigantisches Schiff beinhaltet und deutlich älter ist als ähnliche Funde, ist die Sensation perfekt. Die Fachwelt wird aufmerksam und der führende Cambridge-Archäologe Charles Phillips (Ken Stott) reist mit mehreren seiner Mitarbeiter (u.a. Lily James als Peggy Piggott) an, um die Aufsicht der Ausgrabung zu übernehmen. Auch wenn dessen Arroganz Basil Brown in seinem Stolz verletzt, bleibt dieser als Mitarbeiter bei der Ausgrabung, nicht zuletzt auch, weil sich zwischen ihm und Edith eine zarte Romanze entwickelt hat und weil er für ihren Sohn (Archie Barnes) zu so etwas wie ei Ersatzvater geworden ist.

Erzählt wird diese Geschichte irgendwo zwischen nüchternem Realismus, der sehr darum bedacht ist, nicht zu melodramatisch zu werden, und einer gewissen poetischen Grundüberzeugung, die eben doch versucht mehr aus dem Stoff herauszuholen als bloße historische Wahrheit. Dass die Faktizität nicht zwingend das wichtigste Momentum von The Dig ist, liegt bereits in seiner Vorlage begründet: Der Autor des gleichnamigen Romans, John Preston, ist ein Neffe von Cecily Margaret Guido, beziehungsweise Peggy Piggot, die an den Sutton Hoo Ausgrabungen beteiligt war und deren Anteil an den historischen Funden nie sonderlich gewürdigt wurde. Und so legen Buch wie Verfilmung einen kleinen Fokus auf diese Figur, vielleicht auch einen größeren als ihre Rolle eigentlich hergibt. Das ist aber noch nicht alles. Menschen zu würdigen, die im Schatten großer historischer Leitfiguren stehen, ist ein grundsätzliches Motiv, das sich durch den gesamten Film zieht. So geht es nicht nur darum, Basil Brown den Respekt zu zollen, der ihm viel zu lange von der Archäologie und Museumsszene verwehrt wurde, sondern grundsätzlich die Frage nach der angemessenen Erinnerung an kleine und große Menschen aufzuwerfen. Am Beispiel des Protagonisten wird dies selbstverständlich am deutlichsten: Basil Brown ist angetrieben von dem Wunsch, für seine Arbeit und Leistung gesehen zu werden. Dass er als vermeintlicher Laie und Stümper für seine Arbeit nicht genug geschätzt wird, ist so auch nicht einfach eine persönliche Kränkung sondern eine existenzielle Bedrohung. Besonders spannend wird diese Sehnsucht nach Würdigung, wenn sie durch die Bedeutsamkeit des Fundes selbst gespiegelt wird, ist dieser doch ein direkter Beweis dafür, dass es sich bei den vormittelalterlichen Angelsachsen nicht um einfache Barbaren hielt, sondern um ein selbstbewusstes Volk, das eine eigenständige Kultur und Gesellschaft hervorgebracht hat.

Komplettiert wird dieses Leitmotiv der späten Gerechtigkeit von den zahllosen „kleinen“ Figuren, die sich am Rande der Ausgrabung bewegen. So ist Edith Pretty eben nicht nur eine reiche Erbin, die mal untersuchen lassen will, was sich auf ihrem Land befindet, sondern eine stolze Frau, die die Funde mit ähnlicher Leidenschaft betrachtet wie die Profis und sich sehr wohl deren Wertes bewusst ist. Sie ist es dann auch, in der die Sehnsucht nach Veränderung mit dem zweiten großen Leitmotiv des Filmes verknüpft wird: Dem omnipräsenten Tod. Der zweite Weltkrieg steht kurz vorm Ausbruch und jeder der Beteiligten weiß, was dies für ihr zukünftiges Leben bedeutet. Ediths Cousin Rory (Johnny Flynn) steht kurz davor für die Royal Airforce eingezogen und in tödliche Konflikte verstrickt zu werden, mit seiner Lage an der Ostküste Englands ist Suffolk ein Ort, der ohne jeden Zweifel eine große Rolle im Zweiten Weltkrieg spielen wird, und unabhängig von diesen äußeren Bedrohungen kämpft Pretty schon seit langer Zeit mit einer Krankheit, die ihr nur noch wenige Jahre zu leben gibt (die reale Edith Pretty starb drei Jahre nach den Ausgrabungen an einem Blutgerinnsel im Kopf). In Die Ausgrabung geht es nicht nur um den Wunsch erinnert zu werden, sondern auch um diesen Wunsch angesichts eines nahenden Todes. Eine tiefe Melancholie, eine stille Verzweiflung zieht sich dadurch durch die gesamte Geschichte. Die Kürze und der Wert des Lebens werden dem Publikum stets vor Augen gehalten, die Unsicherheit über das danach, das blinde Verlangen, das beste aus dem Gegebenen herauszuholen, aber auch die Gewissheit, dass dies immer zu wenig sein wird.

Diese existenzialistische Komponente scheint dem Film aber nicht zu genügen, um genug emotionalen Impact zu haben. Und so greift er zu einem zweiten Mittel der Emotionalisierung des Stoffes, die allerdings als Spiegelbild der realen Geschichte deutlich schwächer ist: Zur Liebe. Und das nicht, indem er eine einzelne Liebesgeschichte erzählt, sondern gleich mehrere Romanzen in seine Geschichte einflechtet. Da sind die frisch Vermählten Peggy und Stuart Piggott (Ben Chaplin), deren Ehe aber bereits zu Beginn unter keinem guten Stern steht. Während Stuart daran scheitert, seine Homosexualität vor seiner Frau, der Außenwelt (aber vor allem sich selbst) verborgen zu halten, beginnt Peggy eine zarte Romanze mit Ediths Cousin Rory. Da ist die zart aufglühende Romanze zwischen Edith Pretty und Basil Brown, die vor allem als vorsichtiger langsamer Tanz zweier erwachsener Menschen umeinander erscheint. Zugleich ist da die Geschichte zwischen Basil und seiner Ehefrau, eine Liebe, die erloschen scheint, im Laufe des Films allerdings mehr und mehr Kraft gewinnt. Das Liebesmotiv wird im Laufe des Films merkwürdig stark nach vorne gekehrt, beinahe so als wolle es um das Todes- und Erinnerungsmotiv um Aufmerksamkeit ringen. Und doch wirkt es immer ein wenig deplatziert, die Zeit und Aufmerksamkeit, die ihm gewidmet werden, stehen in keinerlei Verhältnis zu der Tiefe, die die eigentlichen Romanzen erreichen. Ausgerechnet der spannendsten Beziehung, die von Stuart zu einem weiteren Ausgräber, wird kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Die sich anbahnende Affäre von Peggy mit Rory dagegen erhält deutlich zu viel Leinwandzeit, und kommt allzu sentimental, ja fast schon soapesk daher. Das ist umso unbefriedigender, weil die Figur der Peggy damit deutlich entwertet wird. Sollte es nicht gerade darum gehen, ihre Leistungen in den Fokus zu rücken? Ihr nicht gewürdigter Anteil an den Ausgrabungen? Stattdessen scheint ihre Geschichte plötzlich auf eine Romanze reduziert, die ebenso gut im ARD Vorabendprogramm stattfinden könnte.

Dass Die Ausgrabung dennoch sehenswert ist, verdankt er nicht nur der Stärke seines ersten Motivs, sondern auch seiner herausragenden Inszenierung. Kameramann Mike Eley taucht die Geschichte in nachdenkliche, bezaubernde Bilder, über denen immer ein wenig der der Ungewissheit wabert. Wie die Geschichte nehmen sie sich die tatsächlichen Ereignisse und verwandeln sie in ein kleines Gedicht, ohne jedoch den Bezug zur Realität zu verlieren. The Dig ist sowohl technisch sauber als auch ästhetisch höchst ansprechend. Selbes gilt für die Schauspielleistungen. Insbesondere Carey Mulligan und Ralph Fiennes geben ihren Charakteren eine ebenso plausible wie bewegende Mischung aus Schwäche und Stärke, sie sind teilweise gebrochen, müssen sich gegen eine in vielerlei Hinsicht feindliche Umwelt behaupten, geben aber nicht auf in ihrem Kampf um die Zukunft. Mulligan und Fiennes spielen diesen stillen Kampf ohne großen Eifer, ohne übertriebene Verzweiflung und lassen ihn stattdessen in kleinsten Nuancen zu Tage treten. Neben ihnen sticht vor allem Ken Stott hervor, der dem versnobbten Ausgrabungsleiter Charles Phillips mehr subtile Ambivalenz abringt, als man einer solchen antagonistischen Figur auf den ersten Blick zumuten würde. Auch hier gewinnt der Film viel von seiner Unaufgeregtheit und Nachdenklichkeit zurück, der dann auch die sentimentalen Liebesgeschichten nicht mehr allzu viel anhaben können. Und so bleibt es trotz mancher Holprigkeiten bei einem positiven Gesamteindruck. Wie sein Thema ist The Dig ein leiser Film, der auch ein wenig von seinem Publikum erwartet, seinen tieferen Gehalt auszugraben. Es lohnt sich, erhält man doch hierfür eine wundervolle Auseinandersetzung mit dem Leben, dem Tod und der Suche nach Unsterblichkeit, nicht im überambitionierten, größenwahnsinnigen Sinne, sondern einfach in der so schlichten und so nachvollziehbaren Sehnsucht, etwas auf dieser Welt zurückzulassen, was von Bedeutung ist. Nicht nur den damaligen Ausgrabungen ist dies gelungen, sondern ebenso allen Beteiligten an diesem unscheinbaren, unaufgeregten und gerade deshalb bewegenden Film.

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