Kritik (an) der praktischen Vernunft – Rezension zu LIEBE von Michael Haneke
In seinem zweiten großen Hauptwerk, der Kritik der praktischen Vernunft (1788) versucht sich Immanuel Kant an der Frage „Was soll ich tun?“ und entwirft dabei eine ethische Theorie, in der der vernunftbegabte Wille zur zentralen Maxime für moralisch richtiges Handeln wird. Mit seinem Fokus auf dem Willen zur Beurteilung der Sittsamkeit spezifischer Handlungen gehört Kant zu den berühmtesten Verfechtern der Deontologie in der Geschichte der Moralphilosophie. Gut ist, was aus gutem Willen entsteht, am schärfsten vermutlich formuliert in der Einleitung zu seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785), in der es heißt: „„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ Handlungen, die einzig und allein auf Liebe, auf bedingungsloser Zuneigung zu einem anderen Menschen basieren, können demzufolge nur gute, richtige Handlungen sein, vollkommen gleich wie ihr Ergebnis aussieht. Genau diese radikale Konsequenz aus einer deontologischen Ethik stellt Michael Haneke in seinem neuen Film Liebe (2012) dar: Eine Geschichte, die primär von absoluter Liebe handelt und deren Konsequenzen bis zum bitteren Ende verfolgt, darstellt und kritisch reflektiert.
Die Feuerwehr bricht die Wohnung in einem gut bürgerlichen Altbau auf. Es ist aufgeräumt, ordentlich eingerichtet, ein Hauch von kultureller Bildung weht durch die Räumlichkeiten. Einzig auffällig sind die komplett mit Klebeband versiegelten Türen zum Schlafzimmer. Darin befindet sich eine tote Frau, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet, auf Blumen gebettet. Wie es dazu kommen konnte, erzählt Liebe in einem ausführlichen, narrativ geradeaus zum Tod hin führenden Rückblick. Die um die 80jährigen Georges und Anne sind seit vielen Jahren verheiratet, sich aber immer noch in einer hingebungsvollen – hin und wieder von Flirts aufgebrochenen – von Rücksicht und zärtlicher Distanz bestimmten Liebe verbunden. Nach einer missglückten Operation ist Anne halbseitig gelähmt und es beginnt ein schleichender, jedoch unaufhaltsamer Verfall. Sie ringt Georges das Versprechen ab, sie nicht mehr ins Krankenhaus zu bringen. Stattdessen pflegt er sie zu Hause, zuerst noch unterstützt von Pflegerinnen schließlich ganz allein, überfordert aber aufopferungsvoll, sie nach wie vor bedingungslos liebend. Und so leben die beiden gemeinsam Annes langsamem Tod entgegen.
Dass ein solches Sujet, das die Liebe und das sich trotz aller widrigen Umstände zueinander hingezogen Fühlen im Alter thematisiert, ein besonders schweres ist, dürfte auf der Hand liegen. Umso größer ist es Haneke anzurechnen, dass er bei der Darstellung der Beziehung der beiden Protagonisten vor der Krankheit Annes weder in romantische Plattitüden noch allzu großen Pathos verfällt. Stattdessen sind es die kleinen Gesten, die ruhigen Momente, die die innige Liebe der beiden zueinander greifbar machen. Dass dies funktioniert liegt zu großen Teilen an den beiden Hauptdarstellern Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. Es verdient schon verdammt viel Respekt, wie es ihnen gelingt in minimalsten Gesten und fragmentarischen Dialogen das Bild einer Ehe aufzubauen, der scheinbar weder Zeit noch Tod etwas anhaben kann. Ebenso, wie sie im ersten Viertel diese Liebe transportieren, arbeiten sie im Großteil des Films schließlich am Rande menschlicher Kapazitäten: Krankheit, Starrsinn, Altersschwäche, Angst und Hilflosigkeit… so wie Haneke seine Protagonisten in Extremsituationen führt, so glaubhaft werden deren Auswirkungen von den beiden Darstellern umgesetzt. Trotz aller emotionaler Fallhöhen verlassen sie nie die Bahnen eines realistischen – mehr noch naturalistischen Spiels – und setzen stattdessen auf eine glaubwürdige Mischung aus Stoizismus und innerer Spannung, die sich nur in wenigen Momenten entlädt. Besonders sticht hier natürlich das Spiel Rivas heraus. Wie sie Lähmung, Krankheit, Verwirrtheit und Paralyse in jedem Moment ihres Spiels überzeugend transportiert, verdient mehr als nur Hochachtung. Es ist ein beispielloses Gehen an die eigenen körperlichen Grenzen, ein direktes Einschreiben des Todes in den noch lebenden Körper, wie es erschreckender, tragischer, einfühlsamer und schlicht effektiver nicht sein könnte.
Getragen wird diese furiose Schauspielleistung von der gewohnt akribischen Inszenierung Hanekes, insbesondere in Kombination mit der exquisiten Kamerarbeit Darius Khondjis (Delicatessen, Sieben), der es versteht die Tragik des Geschehens in ruhige, einsame Bilder zu kleiden. Trotzdem fällt von Beginn an auf, dass sowohl er als auch Haneke nicht der Versuchung des visuellen Stagnierens erliegen. Obwohl die Inszenierung von der gewohnten Ruhe und den langwierigen Planaufnahmen Hanekes mitgeprägt ist, begeht sie dennoch nicht den Fehler, den schleichenden Zerfall des Lebens in quälend schleichende Bilder zu tauchen. Wo zahllose andere Arthaus-Regisseure wohl kaum auf eine andere Idee kämen, als die Ruhe des Alters in monotonen, statischen Aufnahmen widerzuspiegeln, entzieht sich Haneke geschickt einer solchen simplen Symbolsprache, indem er fragmentiert, schneidet und episodisiert. Szenen beginnen mitten in Dialogen, Begegnungen werden radikal abgeschnitten, Momentaufnahmen zur Seite gefegt. Dadurch verliert der Film zwar nicht seinen andächtigen, erhabenen Rhythmus, bleibt aber auch weit von arthausiger Langatmigkeits-Koketterie entfernt, auch wenn Hanekes Verliebtheit in „stehende“ Szenen immer wieder durchschimmert.
In diesem Kaleidoskop der inneren Spannung entsteht so ein Film, dessen emotionale Wucht schon beinahe beängstigend ist. Haneke und sein Team wissen einfach, wie sie mit kleinen Momenten größte Emotionen wecken können. Liebe ist bewegend bis zu dem Punkt, an dem man als Zuschauer einfach glaubt, es nicht mehr aushalten zu können. Liebe umgarnt den Zuschauer mit zurückhaltenden, fast schüchternen Einstellungen bedingungsloser Zärtlichkeit und wirft ihn direkt im nächsten Moment in eine Sphäre radikaler, menschlicher Entwürdigung oder zumindest den Kampf des Menschen wenigstens ein Rest Würde zu bewahren. Dass er dabei nie den Boden unter den Füßen verliert, liegt einfach daran, dass er in seinen ruhigen Momenten immer wieder zu seiner eigenen Würde und der seiner Protagonisten zurückfindet. Diese werden knapp dafür aber umso effektiver inszeniert: Der distanzierte, ironische und spitzbübige Georges, die selbstbewusste, würdevolle Anne. Ihre Charaktere folgen nie dem Selbstzweck, sondern sind immer lebendig, erfahrbar und mitfühlbar. Der Schmerz wird dadurch permanent abgefedert, eingeschlossen und eingerahmt von Momenten purer, wunderschöner Menschlichkeit.
Haneke war ja immer schon der große Didaktiker, der Moralist des europäischen Kinos. Und so überrascht es auch nicht, dass er sich für Liebe wieder einmal ein ethisches Sujet gewählt hat. Überraschend hingegen ist, wie sehr er im Gegensatz zu seinen früheren Werken dabei auf eine eindeutige, belehrende Positionierung verzichtet. Während Funny Games keinen Zweifel daran ließ, dass er den Voyeurismus des Kinopublikums verurteilte, während Das weiße Band dem Zuschauer praktisch die Lesart aufzwang, er sei eine Allegorie auf die Entwicklung des spezifischen deutschen Faschismus, bleibt Liebe angenehm ambivalent und differenziert. Trotzdem baut er eine klare Bipolarität auf, in der er dem Zuschauer die Wahl lässt (mal) diese oder (mal) jene Position einzunehmen. Wie bereits gesagt handelt Liebe im Grunde von der praktischen Vernunft, von einer Ethik, die ihre Fundierung im autonomen Willen zum Guten und in der Tugend verortet. Jene Tugend ist in diesem Fall die Liebe, aus der Handlungen erwachsen, die sich sowohl negativ als auch positiv bewerten lassen.
In der negativen Lesart erscheint Georges als der radikale Egoist, der seinen Egoismus gleichwohl transzendiert, indem er nicht das tut, was er für sich am besten hält, sondern für sich und seine Frau, quasi als geschlossenes System in der Verteidigung gegen die Außenwelt. Die gemeinsame Wohnung ist zuerst ihr Rückzugsort, wird schließlich zu ihrem Tempel und am Ende zu ihrem Grab. In seiner Liebe zu Anne ist Georges nicht in der Lage, ihr den Wunsch abzuschlagen, sie nie wieder in fremde Hände zu geben. Mit der radikalen Abwehr alles Äußeren errichten sich die beiden ihr eigenes Gefängnis, spätestens wenn Anne immer mehr den Bezug zum Jetzt verliert, ist Georges der allein Verantwortliche, Wärter und Gefangener in Personalunion. Die beiderseitige Liebe wird in dieser Lesart zur lebensvernichtenden Kraft, die auch dazu führt, dass Anne auf Hilfe verzichten muss, die ihr womöglich einen schmerzfreieren besser umsorgten Tod ermöglicht hätte. Georges wird dadurch ohne es zu bemerken in seiner Liebe zum Tyrannen, sowohl gegenüber seiner Frau als auch sich selbst. In einem seiner wenigen Ausbrüche schreit er seine Tochter (herausragend gespielt von Isabelle Huppert) an, er könnte es nicht mehr ertragen, wie alle von Anne reden und wird im nächsten Moment damit konfrontiert, dass vor allem er es ist, der nicht ständig über Annes Zustand nachdenken will. Für ihn ist sie immer noch die Frau, die er liebt, er will um jeden Preis ihre Würde wahren, sie vor den besorgten Blicken der Außenwelt schützen. Er untertreibt bei der Darstellung ihres Zustands, schließt das Schlafzimmer ab, versteckt den Schlüssel… Die Liebe wird zum letzten Anker für die Menschlichkeit, obgleich ihrer unmenschlichen Konsequenzen. In einer der stärksten Szenen gegen Ende des Films fängt er eine Taube, indem er eine Decke über sie wirft. Die in ihrem samtenen Verlies aus Todesangst flatternde Taube wird von ihm fürsorglich gestreichelt, so als könne er damit seine Liebe bewahren und erhalten. In einem der wenigen surrealen Interruptionen in der ansonsten naturalistischen Narration, wandelt Georges durch einen beklemmenden Alptraum, an dessen Ende bereits seine eigene Selbstversklavung allegorisiert wird: Ein kurzer Moment, indem er – aufgeschreckt durch einen Einfluss von außen – die sichere Festung der Wohnung verlässt, und nur kurz darauf wird er von einer kalten, ergrauten Hand zurückgezogen: Ein intensiver Moment der antizipierten Selbstaufgabe.
Aber Liebe bietet eben auch die andere – positive – Lesart, in der die Zuneigung und Liebe Georges das ist, was Anne ihre Würde und Menschlichkeit ureigentlich zurückgibt. Der Film konzentriert sich ganz auf Georges Wahrnehmung und ist dabei so empathisch, dass dem Zuschauer gar keine andere Wahl bleibt, als sich in seine und Annes Position hineinzuversetzen. Dabei ist die Liebe der letzte Schutz Annes vor der Außenwelt, die sie pathologisiert und in mitleidigen, verzweifelten oder pragmatischen Blicken immer weiter entwürdigt. In einer ergreifenden Szene beobachtet Georges, wie Anne von einer Pflegerin ruppig, unmenschlich hart gewaschen und gekämmt wird. Später wird er diese Pflegerin entlassen. Dem ständigen, scheinbar reflexartigen „Hilfe“-Rufen seiner Frau (im Original erklingt hier das weitaus stärkere „mal, mal“) begegnet er mit einer aufopferungsvollen Ruhe, setzt sich zu ihr, streichelt ihre Hand, erzählt ihr aus seinem Leben, damit sie wieder zu sich selbst findet. In diesen Momenten gewinnt Anne vollends ihre Würde zurück. Nicht die Medikamente, nicht die pflegerischen Maßnahmen, der Blick Georges auf und für sie ist es, der sie trotz ihrer annähernden Besinnungslosigkeit wieder Mensch sein lässt. Sein Blick wird zum Blick des Zuschauers, Anne ist nicht mehr Patient, nicht mehr hilflose Greisin und Pflegefall sondern Geliebte, Ehefrau und Mensch mit Eigenschaften. Dabei ist die Liebe stärker als jede entwürdigende Paralyse, jede Inkontinenz und jede geistige Umnachtung. Letzten Endes ist das was wir in dieser Lesart sehen, nichts weiter als zwei Menschen die sich bedingungslos lieben und vollkommen nach den Prämissen ihrer Liebe als ureigenstem Wert handeln. Wir haben nicht das Recht, diese Form der Lebensgestaltung zu werten oder gar zu verurteilen.
Der Titel des Films ist also im wahrsten Sinne des Wortes programmatisch zu verstehen: Haneke zeigt die Liebe als Tugend in ihrer radikalsten Form, als absolute, bedingungslose Prämisse für das Handeln des Menschen, als Urgrund einer praktischen Vernunft, deren Auswirkungen im Alltag wir beiwohnen dürfen, sollen und müssen. Ob Liebe dabei eine Kritik der praktischen Vernunft im Kant’schen Sinne und damit eine affirmative Reflexion des moralischen Handelns seiner Protagonisten ist, oder ob es sich um eine anti-deontologische Kritik an der praktischen Vernunft handelt, bleibt offen. Möglich sind beide Herangehensweisen: Die Liebe als Gefängnis, als egomanische Ignoranz gegenüber jeglichem Außen oder eben die Liebe als radikale Form der Menschlichkeit, die sich über das Defizitäre des Seins erhebt und zu einer ganz eigenen Form der Erhabenheit und Würde führt. Gerade diese Offenheit, diese Bipolarität ist es, die den Film von anderen Werken Hanekes angenehm abhebt. Zum ersten Mal fühlt man sich von dem Meisterregisseur nicht belehrt, nicht angestupst, nicht altklug zurechtgewiesen. Stattdessen wird die ganz eigene Empathie angeregt, man wird mit seiner persönlichen emotionalen Offenheit aber auch seiner persönlichen Urteilskraft, seiner eigenen praktischen Vernunft konfrontiert.
Liebe ist im besten Sinne des Wortes empathisch, schmerzhaft nahe an der Realität des Menschen und macht dennoch das Angebot dessen Handeln zu hinterfragen, obwohl und gerade weil er von einem guten Willen und einer unbedingten Tugend geleitet ist. Das Resultat ist ein bewegendes Meisterwerk, eine emotional und intellektuell tiefgründige Reflexion, die in ihrer radikalen Geschlossenheit weitaus offener ist, als alle Filme, die Haneke zuvor gedreht hat. Selbst eine der letzten Szenen, in der die Romantik im kinematographischen Sinne zu siegen scheint, zerstört nicht den ambivalenten, mitreißenden, und unendlich nahe gehenden Gesamtton des restlichen Films. Am Ende ist nur noch Stille. Wir sehen die leere Wohnung, die zum Hort, zum Tempel, zur Gruft geworden ist. Grabesschweigen liegt über dem Geschehen, keine Musik, kein Atmen, kein Leben, während langsam die Credits hereinrollen. Haneke hat wieder einmal ein Meisterwerk erschaffen… und dieses Mal dürfen wir, müssen wir danach sogar mit unseren eigenen Gedanken allein sein, ohne die belehrende Stimme des Regisseurs im Hintergrund zu hören. Ein Ende, das genau so ist wie der Rest des Films, so unfassbar gut, dass es wehtut.
Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.