Die besten Filme 2017: Der seidene Faden von Paul Thomas Anderson

Paul Thomas Anderson gehört zu den großen Regisseuren des amerikanischen Kinos unserer Zeit, ist vielleicht sogar derzeit der einzige Regisseur, der den Gedanken des modernen dramatischen Kinos made in USA am Leben hält. Es ist kein Zufall, dass sein erster Film Last Exit Reno (1996) professionelles Glücksspiel als Thema besitzt. P.T. Anderson ist ein Filmemacher, der mit seinen Filmen immer auf die ein oder andere Weise all in geht: Seien es gigantische Dioramen über die Pornobranche, komplexe Ensemblegeschichte, Epen über Ölunternehmer, monumentale Sektenfabeln oder zuletzt eine psychedelische Detektivgeschichte. Anderson gibt immer alles, denkt seine Sujets groß, als sei es ein persönlicher Zwang. Selbst wenn er intim und klein erzählen will, selbst wenn er subtil ist, so kommt doch immer Großes dabei heraus, Gigantomanisches im dramatischen Gewand. Aber klar, wenn man das Erbe eines Orson Welles oder Robert Altman auf seinen Schultern trägt, dann braucht man ein wenig unfreiwilligen Größenwahn. Das ist auch in seinem jüngsten Film Der seidene Faden (2017) nicht anders. Dabei schreit – oder flüstert viel mehr – die Prämisse eigentlich nach einer kleinen, intimen, zurückhaltenden Geschichte. Aber wie gesagt, Anderson ist Erzähler von Großem, und so wird auch diese Liebesgeschichte zwischen einem exzentrischen Modeschöpfer und seiner Muse zu einem existenziellen Melodram, das die ganz wichtigen menschlichen Themen auslotet.

Der eigensinnige und neurotische Schneider Reynolds Woodcock (Daniel Day-Lewis) gehört zu den großen Stars der Londoner Modeszene der 50er Jahre. Ohne seine Schwester Cyril (Lesley Manville), mit der er zusammenlebt und die im Hintergrund seine Geschäfte managt, wäre er jedoch kaum in der Lage seine kreativen Schöpfungen geschweige denn sein Leben zu organisieren. Sie kümmert sich nicht nur um die wirtschaftliche Seite seiner Arbeit, sondern sorgt auch dafür, dass in seinem Leben alles seine Ordnung hat. Und falls Reynolds mal wieder von einer aktuellen Liebschaft gelangweilt oder überfordert ist, sorgt seine Schwester kurzerhand dafür, dass diese aus der gemeinsamen Wohnung und dem gemeinsamen Leben fliegt. Reynolds jüngste Woman of Interest ist die Kellnerin Alma (Vicky Krieps). Er ist fasziniert von ihrem Körper und ihrer Ausstrahlung und macht sie kurzerhand zu seinem Model, seiner Muse und seiner Geliebten. Alma ist aber deutlich sturer und selbstsicherer als seine vorherigen Frauen. Unzufrieden mit der kalten Atmosphäre des Woodcock-Haushaltes und unglücklich mit ihrer Rolle am Rand von Reynolds Leben beginnt sie alles nach ihrem Willen umzukrempeln. Ihr gelingt es sogar ein leichtes freundschaftliches Band zu Cyrill aufzubauen, da diese sie wegen ihrer kämpferischen Art stärker respektiert als die vorherigen Affären ihres Bruders. Reynolds jedoch ist alles andere als glücklich damit, dass seine Gewohnheiten und sein Lebensstil in Frage gestellt werden. Obwohl er von seiner neuen Geliebten sehr eingenommen ist, scheint ein Konflikt unausweichlich. Alma jedoch will sich nicht damit abfinden, bloß eine weitere Trophäe des großen Modemachers zu sein. Sie beginnt zu kämpfen, mit allen erdenklichen Mitteln…

Das wirklich faszinierende an diesem Setup ist, dass es eigentlich fast bis zu seinem Ende unmöglich ist zu verorten, wo Phantom Thread (so der Originaltitel) denn nun eigentlich hin will: Ist er ein Sittengemälde der Modewelt der 50er Jahre? Ein nuanciertes, psychologisches Drama über ein ungewöhnliches Beziehungsgeflecht? Ein Liebesfilm über unterschiedliche Menschen, die doch auf eine ungewöhnliche Art zusammenfinden? Oder gar ein Thriller über eine Romanze, die einem düsteren Ende entgegengeht? Anderson macht es sichtlich Spaß, das Publikum darüber im Dunkeln zu lassen. Mit subtil eingeflochtenen Referenzen, von Kenneth Branagh über Woody Allen bis zu Alfred Hitchcock, legt er immer wieder Fährten, führt dabei aber mindestens genau so oft auf Irrwege und freut sich diebisch, seine Zuschauer mit unerwarteten Wendungen überraschen zu können. Von seinem Grundgehalt scheint Der seidene Faden zuerst ein edles Kammerspiel zu sein, nimmt er sich doch sehr viel Zeit, die Begebenheiten in dem Haus der Woodcocks zu durchleuchten, Tischarrangements mit Bedeutung aufzuladen, Räume in symbolische Gemälde zu verwandeln und das Interieur selbst zur Herausforderung für seine Charaktere zu machen. Woodcocks Haus scheint dabei fast ein selbständiger Protagonist zu sein, eine Art Geisterschloss ohne Gespenster, in dem der Spuk von der kalten, durchchoreografierten Lebensweise der Geschwister ausgeht. Das Setdesign ist dabei schlicht atemberaubend. Wie gesagt, klein kann Anderson nicht, und so arbeitet er mit einer nahezu erschlagenden Detailfülle um die Umgebung der modischen Welt der 50er Jahre lebendig werden zu lassen.

Ohne Zweifel ist Der seidene Faden auch ein wunderschön anzusehendes Historical Period Drama, ein Kostümfilm, in dem die Kostüme und Ausstattung im wahrsten Sinne des Wortes im Mittelpunkt stehen. Kleidungsstücke erzählen hier Geschichten, sind Katalysatoren für Beziehungen und Ausdruck von deren aktuellem Status. Wenn Reynolds zu Beginn Almas Maße nimmt und ihr erstes Kleid aussucht ist dies mehr als ein bloßes Ankleiden, es ist ein erotischer und romantischer Tanz, der zwischen Anziehung und kalter Abstoßung pendelt. Wenn dann seine Schwester in die Szenerie einbricht, wird der Akt nicht einfach nur gestört sondern erweitert zu einem komplexen Dreiecksgeflecht, in dem Rollen festgelegt und in Zweifel gezogen werden. Anderson war schon immer gut darin Geschichten nach dem Prinzip „Show, don’t tell!“ auf die Leinwand zu bringen, und diesbezüglich macht auch Der seidene Faden keine Ausnahme: Seine exzellenten Bilder (Anderson ist selbst für die Kameraarbeit verantwortlich) dienen immer der Geschichte, fangen ein und verschleiern, was passiert, sind mal intim nah, mal opulent ausladend und tragen in sich immer die Emotionen der Charaktere, die Dynamik der Handlung, das was unausgesprochen bleibt und sich dem Publikum dennoch entfaltet. Auch der Cast leistet ganze Arbeit im Spiel zwischen Subtilität und Exaltation. Daniel Day-Lewis, mit dem Anderson schon in There will be Blood (2007) zusammengearbeitet hat, verzichtet meistens auf großes Overacting und lässt Reynolds Ticks und Neurosen stattdessen in kleinen, subtilen Gesten lebendig werden. Lesley Manville spielt seine Schwester mit einer einnehmenden Strenge und glänzt vor allem in jenen Momenten, in denen ihre oberflächliche Kälte aufgebrochen wird um ihre Fürsorglichkeit und Intelligenz zu offenbaren. Das größte Wunder von Phantom Thread ist allerdings Vicky Krieps. Sie bringt genau die richtige Mischung aus naiver Unschuld, unsicherer Hörigkeit, verborgener Stärke und unheimlicher, kalter Berechnung mit aufs Tableau, um ihre Alma zu einer spannenden, ambivalenten Protagonistin werden zu lassen, mit der man abwechselnd mitfiebert, Mitleid hat oder ihr den Pest an den Hals wünscht.

Und dann kommt die Unberechenbarkeit mit ins Spiel: Der seidene Faden verbirgt in sich eine herzerweichende Liebesgeschichte, in deren Zentrum das Überwinden gesellschaftlicher Rollen und Klischees steht. Aber er verbirgt in sich auch das universelle Panorama einer toxischen Beziehung, in der unterschiedliche Erwartungen und Bedürfnisse, fehlende Kommunikation, tiefgreifende Missverständnisse und brutale Abhängigkeit in düstere Gefilde führen. Obwohl im ungelenken Umgang der Liebenden miteinander eine Menge skurriler Komik verborgen liegt, so ist der Horror doch immer nur einen Katzensprung entfernt. So oft man über die Ängste und Neurosen Reynolds schmunzeln kann, so traurig können sie auch machen, wenn sie in Almas Reaktion gespiegelt werden. So oft man Alma auch bewundert für ihren unbedingten Willen, die harte Schale Reynolds aufzubrechen, so unheimlich wird sie, wenn sie dabei schließlich alle moralischen Grenzen überschreitet. So zentral das menschliche Drama für dieses Gesellschaftsporträt und diese intime Liebesgeschichte auch ist, der Krimi, der Thriller und der bizarre Gruselfilm lauern hinter jeder Ecke. Dennoch verliert Paul Thomas Anderson nicht den Überblick, lässt sich nie zu einfachen Schocks und Thrillermomenten verleiten. Selbst in seinen Grausamkeiten besitzt Der seidene Faden immer ein Stück Menschlichkeit, selbst in seiner brutalen Sezierung der erfolgreich scheiternden (oder im Scheitern erfolgreichen) Beziehung von Alma und Reynolds hat er eine Menge Liebe und Warmherzigkeit zu verschenken. Eigentlich dürfte man nicht so ergriffen sein von dem, was später Grausames vor sich geht. Man ist es aber, weil der Film einen nie vergessen lässt, das ungewöhnliche Menschen ungewöhnlich handeln können.

Der seidene Faden ist ein intimes und zugleich opulentes Drama. Er seziert die Psyche seiner Figuren in schmerzhafter Nähe, transzendiert aber das kleine Beziehungsgeflecht zu einer gewaltigen, gewalttätigen Tragödie. Wie gesagt, klein kann Paul Thomas Anderson – wie die Figuren, die er entwirft – einfach nicht. Genau dafür kann man ihn aber, ebenfalls wie seine Figuren, einfach nur lieben.

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