Die besten Dramen der 80er Jahre I

Wir nähern uns dem Ende der 80er Jahre Retrospektive. Und wie auch bei den zuvor untersuchten Jahrzehnten werfen wir einen Blick auf das Schwergewichtsgenre, und zugleich das Genre, in das alles gepackt werden kann, was sonst kein so richtiges Zuhause findet. Im ersten Teil werfen wir einen Blick auf Die Unzertrennlichen und David Cronenberg in ungewohnten Gefilden, aber dann doch mit seinen klassischen Trademarks. Wir untersuchen Den Zufall möglicherweise, schauen im Club der toten Dichter vorbei, signieren Das letzte Testament, erleben einen letzten unschuldigen Sommer in Stand by me und blicken mit Ariel auf den Kampf der untersten Klassen ums Überleben. Wie immer in diesem Genre sind die Themen vielfältig wie die Erzählhaltung: Von düster über tragisch, von nostalgisch über akademisch, vom großen Optimismus bis zum verzweifelten Pessimismus ist alles drin.

Die Unzertrennlichen [David Cronenberg]

(Kanada 1988)

Eigentlich ist das klassische menschliche Drama nicht das Genre, in dem sich David Cronenberg zu Hause fühlt. Viel mehr wilderte das kanadische Enfant terrible in den 70er und 80er Jahren in Genres wie dem Body- und Monsterhorror, dem düsteren Science Fiction oder der surrealen Parabel. In Dead Ringers aus dem Jahr 1988 nimmt er all das, was er in diesen Genres gelernt hat und packt es in ein fesselndes Drama über ein ungleiches Zwillingspaar (Jeremy Irons in einer grandiosen Doppelrolle). Obwohl Die Unzertrennlichen primär eine Tragödie ist, ist er doch durchflutet von alptraumhaften Momenten, Szenen und Szenarien, spielt mit Mitteln des Thrillers, des absurden Horrors und des surrealen Experimentalfilms. Die Unzertrennlichen ist ebenso traurig wie beängstigend, ebenso konkret wie abstrakt, ebenso vage experimentell wie menschlich morbide. Dank der exquisiten Inszenierung und dem starken Spiel funktioniert das tadellos, auch wenn das Publikum hier für ein Drama ungewöhnlich starke Nerven braucht. Der Kampf mit dem Film und der eigenen Wahrnehmung lohnt sich aber. Vielleicht ist Dead Ringers sogar, klammheimlich, der beste Film seines Regisseurs.

Der Zufall möglicherweise [Krzysztof Kieślowski]

(Polen 1987)

Wie sehr ist das Schicksal determiniert, wie sehr gehorcht es dem freien Willen und wie sehr entscheiden kleine Zufälle über den Lauf der persönlichen Geschichte? Anhand dieser Fragestellung erzählt das polnische Drama Przypadek vom Leben des Medizinstudenten Witek, der sich nach dem Tod des Vaters auf den Weg nach Warschau macht. Ob er den Zug rechtzeitig erreicht, ist die offene Frage anhand deren Beantwortung drei verschiedene Varianten von Witeks zukünftigem Leben erzählt werden. So wird Witek im Polen der späten 70er und frühen 80er Jahre mal Oppositioneller, mal Parteifunktionär und mal Privatmensch. Wie der Titel bereits andeutet ist der Zufall mächtig in der hier entworfenen Welt, und der Mensch kann sowohl alles und nichts werden, ziemlich unabhängig davon wie sein Lebensentwurf zuvor ausgesehen hat. Aber der Mensch ist immer noch ein Mensch, mit allen Stärken und Schwächen, ambivalent in seinem Charakter und seiner Moral. Die Stärke von Przypadek liegt vor allem darin, dass er nicht wertet, sondern beobachtet, den Menschen Menschen sein lässt, während er sich zugleich messerscharf mit der Gesellschaft und dem politischen System auseinandersetzt.

Der Club der toten Dichter [Peter Weir]

(USA 1989)

Ein Film, bei dem durchaus die Frage gestellt werden kann, ob er überhaupt in diese Liste gehört (aber dazu an anderer Stelle mehr). Denn fernab von möglicher Kritik an seiner manipulativen Machart, seinem eindimensionalen Blick auf den Schüler/Lehrer-Konflikt, seine Schwarzweiß-Zeichnung, seiner Schuld an der Popularisierung des Carpe Diem (dem Arschgeweih unter den Sinnsprüchen) und seiner antiintellektuellen Fixierung auf die Poesie der Romantik ist Dead Poets Society ein wunderbar bewegendes Drama mit einem bärenstarken Robin Williams und bärenstarken Nachwuchsschauspielern, allen voran Ethan Hawke, der mit diesem Film einen entscheidenden Grundstein für eine lange Karriere setzen sollte. Der Club der toten Dichter ist ein rührseliges und pathetisches und dennoch zutiefst befriedigendes Drama, in dem wilde und freie Gedanken mit dem engen System des Internatslebens der ausgehenden 50er Jahre kollidieren. Eine äußerst erwachsene Coming of Age Geschichte und ein Lobgesang auf die Kraft der Poesie und Lebensfreude. Grund genug über so manchen problematischen Aspekt dieses Meisterwerks hinwegzusehen.

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

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Das letzte Testament [Lynne Littman]

(USA 1983)

Im Grunde genommen könnte Das letzte Testament auch bei den zivilen Kriegsfilmen der Dekade auftauchen, ist er doch ganz ähnlich wie sein Bruder im Geiste – The Day after – ein Film, der sich mit den Schrecken eines verheerenden Nuklearangriffs auseinandersetzt. Testament macht jedoch mehr als das: Anstatt sich an Bildern der zentralen Katastrophe zu ergötzen, beobachtet er ganz zurückhaltend die Folgen des Krieges an der Peripherie. Nicht das große San Francisco steht in seinem Fokus sondern eine fiktive Kleinstadt, nicht Chaos und Verwüstung sind seine narrativen Werkzeuge, sondern die zunächst unsichtbaren, kleinen Verheerungen, die dafür umso mächtiger wirken. Das letzte Testament erzählt die Krise als unscheinbare, apokalyptische Macht, als etwas, das kaum wahrgenommen wird und dennoch zerstörerisches Potential besitzt. Vielleicht ist der Film mit dieser Herangehensweise sogar der mächtigere zivile (Anti-)Kriegsfilm, weil er nicht der destruktiven Faszination des Krieges erliegt, sondern sich ganz und gar auf den zivilen Aspekt konzentriert und damit zur bedrückenden humanistischen Tragödie wird.

Stand by Me [Rob Reiner]

(USA 1986)

Ich habe in der Vergangenheit hin und wieder über die mangelhafte Qualität von Stephen-King-Verfilmungen, insbesondere den Horrorminiserien fürs TV gelästert. Es gibt zwei Möglichkeiten für eine King-Verfilmung, den zahllosen Fallstricken zu entkommen, die ihre Prämissen mit sich führen. Erste Möglichkeit, so wie es Stanley Kubrick mit Shining getan – und damit einen der besten Horrorfilme der 80er Jahre kreiert – hat: Sich so weit es geht, von der Vorlage entfernen. Zweite Möglichkeit, sich explizit einen Nicht-Horrorstoff des King of Horror aussuchen. Die erste King-Verfilmung, die genau das gemacht hat, ist Stand by me, das Geheimnis eines Sommers von Regieveteran Rob Reiner. Als mal komische, vor allem aber melancholische, nostalgische Erzählung einer unbeschwerten, durch bestimmte Ereignisse plötzlich beschwerte, Kindheit – und der Übergang von dieser in die Jugend – ist er eine wunderbare Hommage an das Erwachsenwerden, ein fantastische Fabel über Freundschaft, Abenteuerlust und Abenteuerfrust und darüber hinaus ein universelles menschliches Drama, das nie in Kitsch oder zu starke Sentimentalität abdriftet. Die Geschichte von einer Gruppe von Kindern, die nach einer Leiche sucht, wird in einnehmenden Bildern erzählt, ist herausragend gespielt (mit dabei sind unter anderem die jungen Whil „Wesley Crusher“ Wheaton, River Phoenix, Kiefer Sutherland und Corey Feldman) und schafft genau den richtigen Spagat zwischen Humor, Nostalgie und Tragik. Eine Kinder/Teenie-Film, der keiner sein will, und der dadurch genau den richtigen Nerv von sowohl jungem als auch altem Publikum trifft.

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

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Ariel [Aki Kaurismäki]

(Finnland 1988)

Anders als die großen Hollywood-Blockbusterdramen funktioniert das dramatische Kino Europas, erst recht das Skandinaviens und erst recht das von Aki Kaurismäki. Er erzählt nie zu pathetisch, nie zu sentimental und nie zu melodramatisch. Das bedeutet allerdings im Umkehrschluss nicht, dass Kaurismäkis Filmkunst eine inhaltlich leichte oder thematisch oberflächliche wäre. Ganz im Gegenteil: Kaurismäki greift sich ein schweres Thema – in diesem Fall Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg, vermeintlich determinierte Kriminalität – und erzählt dieses ebenso kompakt und minimalistisch wie trocken und lakonisch. Ariel ist damit auch ein bisschen so was wie die Blaupause des Kaurismäki’schen Kinos der 90er und 2000er Jahre, ein ebenso berührendes wie sensibles, ebenso unaufgeregtes wie fesselndes, ebenso episches wie nüchternes Drama, das subtil daherkommt und dabei ungemein mächtig ist.

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