Die besten Filme 2018: Capernaum – Stadt der Hoffnung
„Was aber das Leben des Einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte: denn jeder Lebenslauf ist, in der Regel, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle, die zwar jeder möglichst verbirgt, weil er weiß, daß andere selten Teilnahme oder Mitleid, fast immer aber Befriedigung durch die Vorstellung der Plagen, von denen sie gerade jetzt verschont sind, dabei empfinden müssen; — aber vielleicht wird nie ein Mensch, am Ende seines Lebens, wenn er besonnen und zugleich aufrichtig ist, wünschen, es nochmals durchzumachen, sondern, eher als das, viel lieber gänzliches Nichtsein erwählen.“
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Man kann dem philosophischem Pessimismus vieles Nachsagen: Dass er ein frühes Dekadenzphänomen der verwöhnten, westlichen Philosophie ist. Dass er einem romantischem Überdruss entspringt, dass er vor allem eine Philosophie der Larmoyanz ist, dass er mit kitschiger Koketterie einhergeht, die sich von Schopenhauer über Nietzsche und Spengler bis zum Emorock des 21. Jahrhunderts viel zu hartnäckig in Philosophie, Kunst und Kultur eingenistet hat. Wenn man aber den westlichen Blick auf diese (zugegeben sehr westliche) Philosophie beiseite schiebt, kommt man nicht umhin festzustellen, dass der Pessimismus einen Punkt hat. Und das nicht nur damals sondern auch heute: Das Leben als Leiden, das Leben als Jammertal, das Leben als Seinszustand, der besser nie stattgefunden hätte, mag aus dem Mund eines wohlständigen Europäers bizarr klingen, in anderen Regionen der Welt kann es jedoch ganz anders aussehen, so zum Beispiel im Libanon, der erst kürzlich wieder von einer verheerenden Katastrophe heimgesucht wurde.
Zain, der Protagonist von Nadine Labakis Tragödie Capernaum – Stadt der Hoffnung (2018) hat sich mit Sicherheit nie mit Arthur Schopenhauer oder der pessimistischen Tradition auseinandergesetzt. Wie sollte er auch. Er ist 12 Jahre alt, Analphabet, Sohn syrischer Flüchtlinge im Libanon, konnte nie geregelt eine Schule besuchen und hatte erst Recht keine Zeit sich mit der Philosophie des Pessimismus zu beschäftigen. Dennoch und gerade deswegen hat er das Grundkonzept des Lebens als Leidensweg in der Praxis mehr als einmal erfahren müssen. Und genau deshalb steht er nun auch vor Gericht, zum zweiten Mal bereits. In seiner ersten Verhandlung war er Angeklagter, weil er einen Mann niedergestochen und fast getötet hatte. Nun ist er Kläger, gegen seine eigenen Eltern: „Sie haben mich auf die Welt gebracht.“ ist seine Begründung. Regisseurin Nadine Labaki versucht zu verstehen, was in einem solchen Menschen, in einem solchen Kind vorgeht, und erzählt chronologisch die jüngste Lebensgeschichte des Jungen, der fast zum Mörder geworden wäre und sich wünscht, nie geboren worden zu sein. Wir begleiten Zain während seiner harten Arbeit auf den Straßen Beiruts, wir leiden mit ihm, als seine 11jährige Schwester Sahar von der Familie an einen älteren Mann verheiratet wird. Wir folgen ihm, wenn er versucht aus seinem Gefängnis zu fliehen: Ein Gestrandeter, ohne Papiere, ohne Hoffnung, allerdings mit dem bedingungslosen Willen, etwas besseres im Leben zu finden. Und wir können peu à peu besser nachvollziehen, wie ein derart junger Mensch bereits derart gebrochen sein kann.
Nadine Labaki hat sich auch selbst eine Rolle in dem Film gegeben; ausgerechnet als Anwältin des jungen Zain. Diese Rolle hat sich im Laufe der Produktion stetig verringert, bis sie kaum noch Präsenz in dem fertigen Film hat. Der Zeit verriet Labaki, dass sie sich im Laufe der Dreharbeiten von der Anklägerin zur verständnisvollen Beobachterin entwickelt hat, und dies merkt man nicht nur ihrer Rolle sondern auch der gesamten Erzählhaltung an. Im Zentrum von Capernaum steht ganz und gar der Protagonist Zain, unfassbar gut gespielt von einem jungen Darsteller gleichen Namens, der ähnliche Schicksale wie seine Rolle erlebte. Die Wertungsfreiheit erreicht Capernaum ironischerweise durch einen fast schon aufdringlichen Voyeurismus. Die Kamera ist immer dicht an Zain, immer auf seiner Augenhöhe, folgt ihm unerbittlich durch die engen Gassen Beiruts, durch die Slums am Stadtrand, erhascht immer wieder einen Blick auf die Verlorenen und Ausgestoßenen, auf die, die ebenso wie unser Protagonist jeden Tag erneut ums Überleben kämpfen. Die Kombination aus Verfolgung, radikaler Annäherung und permanenter Ablenkung durch die unerbittliche Straßenrealität führt zu einer ungemeinen Intensität. Verstärkt wird dies durch die herausragende Präsenz Zains, der seine Rolle nicht einfach nur spielt, sondern auch lebt, als Kind, das viel zu früh gezwungen wurde, erwachsen zu werden.
Erst in der zweiten Hälfte des Films wird diese gnadenlose Nähe zum Protagonisten aufgebrochen, indem eine zweite Sympathieträgerin eingeführt wird. Die aus Äthiopien stammende Rahil (ebenfalls unfassbar gut: Yordanos Shiferaw) wird kurzfristig zu so etwas wie einer Verbündeten Zains, vielleicht sogar zu einer Art Ersatzmutter, in erster Linie aber zu einer Mitstreiterin im täglichen Kampf ums Überleben. Im Zusammenspiel mit ihrem einjährigen Sohn Yonas erlebt Zain zum ersten Mal so etwas wie Menschlichkeit in einer Welt, in der jeder nur sich selbst der Nächste zu sein scheint. Aber auch diese kurzfristige Geborgenheit ist nicht von Dauer und erst Recht nicht frei von Gefahr. Gleichzeitig ist dies auch der Beginn eines Bruches der filmischen Dramaturgie. Ist Capernaum in seinem ersten Drittel noch stark von einer naturalistischen (vielleicht auch voyeuristischen) Haltung geprägt, wird diese nun immer wieder mit theatralischen und melodramatischen Momenten verknüpft. Es fällt nicht schwer, wie in manchen Kritiken implizit oder explizit vorgeworfen, hier eine gewisse Armutspornographie am Werk zu sehen: Insbesondere in den im letzten Drittel ausgedehnten Montagen von verlorenen, umherirrenden Kindern den libanesischen Slums ist vom ursprünglichen Realismus nicht mehr viel übrig. Stattdessen mäandert der Film zwischen Traum, Alptraum und Wirklichkeit, zwischen Fakten und Fiktionen.
Fair enough. In der vorsichtigen Abkehr vom düsteren Realismus und in der Annäherung an melodramatische Inszenierungsmuster findet Capernaum nämlich zu seiner universellen, philosophischen – zu Beginn des Films aufgeworfenen – Thematik zurück. Zum einen die Frage nach der eigenen Lebenswertigkeit im Leid. „Bring mir irgendeinen Beweis, dass du lebst!“ fordert der Menschenschmuggler Aspro irgendwann im Laufe der Handlung Zain auf. Es geht natürlich um Papiere, um Ausweisdokumente, aber gerade in der Papierlosigkeit Zains spiegelt sich auch seine theoretische Ungeborenheit wieder. Zains Leben ist in der modernen Gesellschaft zumindest nach sozialen Anforderungen ein Nicht Geschehendes Leben, mindestens aber ein nicht gesehenes Leben. Zum zweiten wäre das die Schuldfrage. Diese wird zum Ende der Verhandlung und der Handlung des Films vom Individuum auf das System transferiert. Zains Eltern stehen vor Gericht, als Angeklagte. In einem beeindruckenden Moment werden Sie schließlich auch selbst zu Klägern, nicht gegen einen anderen Menschen sondern gegen die allgemeinen Umstände. Und auf dieses Klagen, kann die vorherige Klägerin – sowohl als gespielte Anwältin als auch als Regisseurin und Dokumentaristin – nur mit Schweigen reagieren. Bei aller Empathie, bei allem Mitleid für und allem Mitleiden mit Zain wird seine Verlorenheit in den Kontext einer allgemeinen Verlorenheit eines gesamten Milieus gestellt. Das Leid des Einzelnen wird zum Leid einer ganzen Gesellschaftsschicht, das individuelle Drama transzendiert zur sozialen Tragödie.
Genau in dieser Transzendenz bewahrt sich Capernaum trotz aller Melodramatik, trotz aller Sentimentalitäten und Leid-Romantisierungen sowohl Naturalismus als auch Ambivalenz und Ambiguität. Potentielle Wertungen werden in der Luft zerrissen, die Erzählung bleibt (oder wird wieder) Beobachtung, teils schockierte, teils ohnmächtige, teils emotionale Beobachtung, aber den Rahmen der wertfrei Teilnehmenden nicht verlassend. Das lässt uns dann auch über so manche Sentimentalität und sogar so manchen hoffnungsvollen Feel Good Moment hinwegblicken. Capernaum ist in seiner Ganzheit ein beeindruckendes und intensives Drama zwischen sozialer Wirklichkeit, philosophischer Reflexion, zwischen dokumentarischem Naturalismus und verträumter Dramatisierung. Am Ende siegt zumindest ein Stück weit die Hoffnung, nicht nur für die Protagonisten sondern auch die realen Schauspieler hinter ihnen. Der echte Zain lebt mittlerweile in Norwegen, wo er zum ersten Mal in seinem Leben eine Schule besuchen kann.