Zwischen Thriller und Drama: Galveston – Die Hölle ist ein Paradies (2018)

Südöstlich von der texanischen Hauptstadt Austin, am Golf von Mexiko, liegt das Strand- und Naherholungsgebiet Galveston. Im 19. Jahrhundert war die auf einer Insel liegende Stadt noch einer der wichtigsten ökonomischen Knotenpunkte des Bundesstaates, zeitweise sogar die größte Stadt in Texas. Spätestens durch die Öffnung der Schifffahrtswege nach Houston zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlor Galveston jedoch seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung. Heutzutage sind sowohl Galveston County und Galveston City als auch Galveston Island primär als Naherholungsgebiete am Wasser für die Einwohner des südöstlichen Texas‘ von Bedeutung. Durch die Lage am Meer ist Galveston auch immer potentiell von Hurrikanen bedroht, der berüchtigtste schlug 1900 zu, der letzte große – Ike – 2008. Nicht nur deswegen liegen an diesem Ort Hölle und Paradies dicht beinander. Über ein Fünftel der Bevölkerung gilt als arm, bei den Kindern sind es sogar mehr als 30%. Galveston ist auch ein Ort der Gestrandeten, der Ausgestoßenen, manchmal auch der Geflohenen aus den großen Städten Houston, San Antonio und Austin. In ihrem Thrillerdrama Galveston – Die Hölle ist ein Paradies (2018) betrachtet Mélanie Laurent genau jene Geflohenen, die hoffen, in Galveston eine Art Paradies zu finden, die Hölle jedoch im Gepäck haben.

Texas, Ende der 80er Jahre. Beim Auftragsschläger und kriminellen Söldner Roy (Ben Foster) wurde Lungenkrebs diagnostiziert. Und er hat noch ganz anderen Ärger am Hals. Der jüngste Job, den er von seinem Boss (Beau Bridges) erhalten hat, läuft nicht wie geplant. Am Auftragsort warten zwei Killer auf Roy und versuchen ihn umzubringen. Außerdem findet er dort die minderjährige Prostituierte Rocky (Elle Fanning), die anscheinend gefangen gehalten wurde. Roy gelingt es die auf ihn angesetzten Mörder zu töten und gemeinsam mit Rocky zu fliehen. In Roys Heimatort Galveston wollen sie untertauchen, damit er in Ruhe eine mögliche Rache an seinem Boss planen kann, der wie es scheint für den nur knapp vereitelten Mordversuch verantwortlich ist. Aber auch Rocky hat Pläne. Bei einem Zwischenstopp an ihrem Elternhaus erschießt sie ihren Stiefvater und entführt ihre drei Jahre alte Schwester. Gemeinsam schafft es das ungleiche Trio in das Küstchenstädtchen. Ihre Verfolger und Probleme können Sie jedoch nicht hinter sich lassen.

Galveston oszilliert wie so viele ähnlich gelagerte Genrefilme der letzten Jahre zwischen Thriller und Tragödie, jedoch ohne dabei den rauen Naturalismus eines Hell or High Water (2016) oder die poetische Intensität eines You were never really here (2017) zu erreichen. Dafür ist er gerade zu Beginn zu klischeehaft, zu stereotyp und alles in allem zu wenig originell. Abgehalfterter Ganove mit geringer Lebenswerwartung rettet eigentlich unschuldiges aber in Probleme geratenes Mädchen… das ist dann doch ziemlich überraschungsarm und vorhersehbar und hat in diesem Setup erst einmal nicht viel neues zu erzählen. „Ja, die Welt ist böse und die Unschuldigen müssen beschützt werden. Wir haben es verstanden!“ möchte man Regisseurin Mélanie Laurent ständig zurufen, während die Geschichte ihren erwartbaren Gang geht. Es gibt zwei Dinge, die den Film in seinen ersten beiden Dritteln am Leben halten und weit über den Durchschnitt heben: Die solide und zugleich ungemein intensive Inszenierung, sowie das herausragende Schauspiel.

Ben Foster und Elle Fanning liefern als Protagonisten und unfreiwillige Schicksalsgemeinschaft die Hölle von einem Job ab. Foster spielt seinen Roy als gebrochenen und sich dennoch irgendwie am Leben haltenden Kriminellen mit einer spröden Mischung aus Stoizismus und Cholerik: Alles andere als ein Sympathieträger, viel mehr das Publikum durch zahllose amoralische Handlungen herausfordernd, zugleich aber stets plausibel und nicht ohne Empathie. Der wahre Triumph des Films ist aber – wieder einmal – Elle Fanning, die bereits in The Neon Demon (2016) und Young Ones (2015) unter Beweis stellen durfte, dass sie weitaus mehr ist als bloß eine einfach junge, jung aussehende Nachwuchsschauspielerin. Ihre Rocky steckt voller Ambivalenz, voller Zerrissenheit, zwischen Überlebenswillen, purer Verzweiflung, einer immer wieder aufblitzenden Kaltschnäuzigkeit wenn es um die eigenen Vorteile geht, und zeitgleich viel Herzenswärme, insbesondere im Umgang mit ihrer kleinen Schwester, für die sie – so viel wird ziemlich schnell deutlich – eine Mutterrolle übernimmt. Sind Fanning und Foster einzeln schon überragend, gewinnen sie noch einmal im Zusammenspiel: Ihre Beziehung hat Chemie, ist aber nicht frei von Brüchen und Zerwerfungen. Mélanie Laurent scheint hier sehr viel Energie in die Schauspielführung gelegt zu haben, gelingt es ihr doch diese ungewöhnliche, fragile Beziehung in realistischen und subtilen Details, mit kaum wahrnehmbaren Nuancen zu erzählen, ohne dass diese je ihre Glaubwürdigkeit verlieren würde.

Die Inszenierung besticht vor allem durch ihren schroffen Pathos, der mit ein wenig Neo Noir hier, sehr viel New Hollywood da und ein wenig Prekariatspanorama obendrauf die richtige Mischung aus sozialem Drama und Thriller findet. So wenig originell das ist, so solide ist es doch umgesetzt: Wie die beiden Protagonisten irrt die Kamera manchmal umher, die Paranoia Roys spiegeln sich in ängstlichen und nervösen, nur Ausschnitte der Umgebung erheischenden Schwenks, die Liebe Rockys zu ihrer Schwester und die Hoffnung auf ein besseres gemeinsames Leben wird in verträumten Strandaufnahmen, die im Kontrast zur sonstigen unwirtlichen Inszenierung stehen, erzählt und transzendiert. Auch hier gilt, das ist alles nicht vollkommen originell, scheint mitunter sogar direkt dem Thrillerdramen-Handbuch zu entstammen, ist aber derart pointiert und dicht umgesetzt, dass sich der Mangel an Eigenständigkeit verschmerzen lässt. Vor allem weil Galveston genau diese Eigenständigkeit im letzten Drittel dann doch noch findet: Gegen Ende weiß der bis dahin zielsicher scheinende Thriller mit einigen düsteren narrativen Twists zu überraschen. Statt weiter auf seinem festgefahrenen Weg zu bleiben, traut sich Galveston doch plötzlich auf ruppigeren, rumpeligeren Pfaden die ein oder andere Abkürzung zu nehmen, die so nicht vorhersehbar war und dementsprechend das unvorbereitete Publikum mit harten Nackenschlägen trifft.

Plötzlich ist Galveston überraschend wie erschreckend unkathartisch, scheint sich fast gegen seine eigene Geschichte aufzulehnen und wird sowohl dieser als auch dem Publikum gegenüber äußerst wiederborstig. Manche Plot-Entscheidung, die er dabei trifft, mag unbegründet, allzu hart, vielleicht sogar wie bloßer Shock Value zu wirken, aber man kommt nicht umhin, ihm für seinen Mut Respekt zu zollen. Eine derartig gemeine Abkehr von klassischer Klimax und Katharsis war das letzte Mal in der Konsequenz wahrscheinlich in No Country for old men zu sehen, und selbst das Coen’sche Meisterwerk war nicht ganz so drastig in seiner Kombination aus narrativer Auslassung und Befriedigungsverweigerung. Galveston ist ein die gesamte Laufzeit über solider, in seinem Schlussdrittel exzellenter Hybrid aus Thriller und Drama, mit deutlichem Schwerpunkt auf letzterem. Er mag nicht ganz so originell, nicht ganz so intensiv wie einige Konkurrenzwerke sein, er weiß aber, wann er die Daumenschrauben ansetzen muss, er weiß wie Hoffnung und Hoffnungslosigkeit in einer zerrissenen Inszenierung zu erzählen sind, und er weiß welch grandiose Schauspieler er an Bord hat, und gibt ihnen alle Möglichkeit ihr Können zu demonstrieren. Vielleicht nicht das beste Thrillerdrama der letzten Jahre, aber ein durch und durch sehenswerter Film.

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