The Painted Bird (2019) – Allegorie und brutaler Realismus

Ein kleiner Vogel wird von einem Menschen gefangen genommen und mit Farbe bemalt. Nachdem sein Gefieder komplett anders aussieht als das seiner Artgenossen, wird er wieder frei gelassen. Er fliegt in die Wolken zu seinen Geschwistern. Und diese stürzen sich unmittelbar auf ihn. Sie erkennen ihn nicht mehr als ihresgleichen an, halten ihn für einen Eindringling oder Feind. Und sie reagieren. Innerhalb kürzester Zeit hat sich ein riesiger Schwarm um den vermeintlichen Sonderling gebildet. Sie kämpfen, rupfen, hacken. Und am Ende dieses bizarren Schauspiels fällt der angemalte Vogel tot zu Boden. Es wäre beruhigend, in diesem gewalttätigen Bild eine Parabel zu erkennen. Eine Allegorie, die den akademischen Verstand kitzelt, das Herz aber unberührt lässt. Es handelt sich aber bei der Hoffnung nach diesem Ausweg um einen Trugschluss. Dieses Geschehen ist nicht nur ein Symbol, ist nicht nur eine Geschichte, es geschieht tatsächlich vor unseren Augen. Wir sehen die Natur brutal zuschlagen, wir wollen uns in Spiegelungen und deren Interpretationen flüchten, wir müssen aber auch einsehen, dass dies die Realität ist; kein hermeneutisches Rätsel, keine analytische Fingerübung, sondern die schonungslose Realität. Am Ende ist der kleine Vogel tot. Daran ändert auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit, nach dem Subtext des Geschehens nichts.

Als Jerzy Kosiński seinen Roman The Painted Bird (1965) veröffentlichte, beschrieb (und verkaufte) er diesen als eine Autobiographie: Die Geschichte seiner Kindheit, die Geschichte eines polnischen, jüdischen Kindes, das sich in den 40er Jahren vor den Nazis verstecken musste und auf seiner Reise durch das vom Krieg und Faschismus tyrannisierte osteuropäische Hinterland Schreckliches erlebte. Schon bei der Veröffentlichung dieses brutalen Epos‘ wurden Stimmen laut, die dem Autoren eine reißerische Ausschlachtung von Kriegsgeschichten vorwarfen. Das Werk sei feindselig gegenüber der einfachen polnischen Landbevölkerung. Es sei ein Flickenteppich aus Grausamkeiten. In der Folgezeit wurde immer mehr auf stilistische Diskrepanzen, narrative Ungereimtheiten hingewiesen; Ähnlichkeiten der Geschichte zu Zeitzeugenberichten anderer Überlebender, Übertreibungen und Unstimmigkeiten. Und schließlich musste der Autor – der sich 1991 das Leben nehmen wird – zugestehen, dass es sich bei dem bemalten Vogel nicht um eine Autobiografie handelte, sondern um Autofiction, um eine Vermengung von Selbsterlebtem und Gehörtem, von Gelesenem und Fiktionalen. Das Buch ging in die Geschichte ein als einer der großen epischen Schwindel, vielleicht sogar der größte epische Schwindel des 20. Jahrhunderts. Irgendwann in den späten 2000er Jahren entdeckte der tschechische Filmemacher Václav Marhoul den Stoff für sich. Und auf einer kulturindustriellen Odyssee gelang es ihm, die Nachlassverwalter von Kosiński davon zu überzeugen, ihm die Verfilmungsrechte an dem kontroversen Buch zu übertragen. 2011 war das. Und es dauerte dann nochmal fast zehn Jahre, bis der fertige Film stand. The Painted Bird (2019) ein Alptraum in schwarzweißem Cinemascope, gefeiert bei diversen Filmfestspielen, mit Standing Ovations ebenso bedacht wie mit fluchtartigem Verlassen der Filmvorführung ob der kaum auszuhaltenden Bilder. Gefeiert, kontrovers diskutiert, von viel zu wenigen Menschen gesehen… Dank dem Label Bildstörung auch mit einer DVD/Blu-Ray-Veröffentlichung in Deutschland bedacht. Und auch wenn dieses Mammutwerk jede Sekunde wert ist, so muss die Warnung derer, die den Film vorzeitig verließen, doch stehen bleiben. Das hier zu sehende ist harter Tobak, sowohl als Allegorie, als auch als realistisches Porträt; ganz so wie der namengebende Vogel.

Der Protagonist, ein namenloser noch nicht zehnjähriger Junge, der von seinen jüdischen Eltern aufs Land irgendwo in Osteuropa geschickt wurde, um vor den Nazis in Sicherheit zu sein. Dort lebt er bei der Bäuerin Marta, die sich zwar nicht liebevoll aber zumindest pflichtbewusst um ihn kümmert. Das alles ändert sich, als die „Tante“ eines Tages unerwartet stirbt und der Hof bis auf die Grundmauern abbrennt. Der Junge beschließt nach Hause zu gehen, oder zumindest etwas zu finden, was ein zu Hause sein könnte. Und so begibt er sich auf eine Odyssee durch das vom Zweiten Weltkrieg erschütterte Osteuropa. Auf seinem Weg begegnet er abergläubischen Bauern, die ihn für eine Inkarnation des Bösen halten, er begegnet brutalen Menschen, deren letztes bisschen Humanität vom Überlebenskampf aufgezehrt wurde. Er begegnet verruchten, infamen Menschen, die seine Not für schreckliche Taten auszunutzen wissen. Er beobachtet Leid und Zerstörung, Hass und Gewalt, und vor allem Ohnmacht angesichts einer grausamen Wirklichkeit, einer Menschheitsdämmerung im Angesicht des Krieges. Und jedes Mal wenn er glaubt einen Unterschlupf, ein Stück Menschlichkeit gefunden zu haben, wird dies kurz darauf wieder zerrissen von der schieren Dunkelheit dieser grauenhaften Welt.

„Ich möchte nur nach Hause!“ schreit der Junge, während die abergläubischen Dorfbewohner ihn mit Schimpf und Schande verjagen. Ein ebenso naiver wie wahrer Moment, nur ein kurzer Augenblick, ein Ausschnitt aus einem großen Panorama, aber ein Moment, der sich wie ein verzweifeltes Aufbegehren über die gesamte restliche Handlung legt. Er möchte nur nach Hause, und im Gegensatz zu ihm wissen wir, dass dieses Zuhause in der Form, wie er es sich vorstellt, wahrscheinlich nicht mehr existiert. Ohnehin wird Zuhause im Laufe der Handlung eher zu einer fixen Idee, zu einem abstrakten Sinnbild, hat der Junge doch, wie wir später erfahren, so ziemlich jede Erinnerung an sein früheres Leben verloren. Haltlos mäandert er von Episode zu Episode, ohne festen Halt, ohne irgendwas, worauf er sich verlassen könnte. Erzählt werden uns diese Episoden in einer nicht enden wollenden Reihung von Kapiteln. Jedes Kapitel eingeleitet mit einer kurzen Texttafel, auf der nur der Name der aktuellen Bezugsperson unseres Protagonisten steht. Ob es sich um eine gute oder schlechte Bezugsperson handelt, wissen wir genau so wenig wie der Junge. Im Zweifel lauert aber immer das Böse, auch hinter noch so schutzversprechenden Händen. The Painted Bird ist nicht nur eine Odyssee, sondern auch eine Tortur, ein Stolpern von einem schrecklichen Erlebnis zum nächsten. Sei es der gewalttätige Müller, der bösartige Päderast, die herrische Heilerin oder gleich eine ganze grausame Dorfgemeinschaft. Es gilt viel auszuhalten, sowohl für den Protagonisten als auch für uns. Und zwischendurch fragt man sich immer wieder, wie es sein kann, dass er nicht einfach aufgibt: So viele Ohnmachtserfahrungen, so viel Leid, so viel ungefilterter Schrecken. Aber er zieht weiter, immer auf der Suche, irgendwie angepasst an dieses Meer aus Grausamkeit, das er irgendwann voll und ganz als seine Realität akzeptiert hat.

Erzählt wird dies in einer ungeheuren – so vielleicht gar noch nie gesehenen – Mischung aus Symbolismus und Realismus. Wie der namengebende Vogel ist auch Marhouls Film beides: Allegorie und brutale Wirklichkeit. Manche Szenen wirken traumhaft überhöht, beziehungsweise alptraumhaft übersteigert. Wir bewegen uns in einem Land, das mit seinem Mystizismus, seinen Geistergeschichten, seinen bizarren Ritualen kaum dem 20. Jahrhundert entsprungen scheint. Erinnerungen an Cate Shortlands Lore (2012) werden wach, auch ein Film, der die Schrecken des Zweiten Weltkrieges durch einen fast märchenhaften Filter beobachtet. The Painted Bird ist aber wie dieser nicht nur Märchen, nicht nur Allegorie, nicht nur Exempel. Er befasst sich auch mit tatsächlichem Geschehen. Brutal und ungefiltert. Der Tod kommt hier ohne Spannung, ohne Pathos daher und ist dadurch umso erschreckender. Gewalt geschieht mitunter beiläufig, beinahe unaufgeregt, ist aber allgegenwärtig. Es ist Marhoul hoch anzurechnen, dass er dabei fast immer auf jede reißerische Ausschlachtung des Geschehens verzichtet. Manches findet in der Unschärfe statt, manches wird narrativ oder visuell nur gestreift, anderes wird mit einer schonungslosen Beiläufigkeit erzählt, vor allem die Exekutionen durch die deutsche Wehrmacht und SS. Durch diese nicht lakonische, aber sehr wohl dokumentarische Haltung gewinnt The Painted Bird eine ungeheuerliche Immersivität. Gerade weil er sich nicht an der dargestellten Gewalt ergötzt, diese aber auch nicht im larmoyanten Pathos einer gewaltigen Tragödie kommentiert, hat diese jede Möglichkeit sich in ihrem Schrecken zu entfalten. Marhouls Film ist ein Werk der Langsamkeit, der – so paradox es bei all dem Gezeigten scheinen mag – leisen und zurückhaltenden Töne. Und umso brutaler wirken die Magenschläge die er dabei immer wieder austeilt.

Die Doppelbödigkeit von Allegorie und Realismus spiegelt sich auch in der exquisiten Inszenierung wider. Gedreht auf 35mm in monumentaler Cinemascope-Breite präsentiert sich The Painted Bird als gewaltiges Epos über Leben und Tod, Gut und Böse. Die Kamera arbeitet mit totalen Panoramen, die gewaltige Landschaften zum Leben erwecken. Ähnlich wie ein Tarkowskij oder Bergman beherrscht Marhoul die Sprache der gigantischen Arthaus-Bilder, die immer ein mehr zu versprechen scheinen, als gerade auf der Leinwand zu sehen ist. Daneben gibt es aber auch die erschreckend banalen Aufnahmen, meistens immer dann wenn Gewalt und Tod zu sehen sind. Hier wird nichts durch die Brille der Kunst gefiltert, stattdessen gibt es nackten und dreckigen Naturalismus zu sehen. Musik setzt Marhoul dabei kaum ein, meistens lässt er die ruhigen Bilder für sich selbst sprechen. Dies macht den Einbruch von Lautstärke und Chaos umso effektiver. In einer radikalen Szene, die fast an ein Hieronymus Bosch Gemälde erinnert, fallen Kosaken in ein Dorf ein, morden, brandschatzen, vergewaltigen und foltern… nur um kurz darauf von anrückenden Rotarmisten angegriffen zu werden. In diesem Moment versinkt die ganze Welt im Chaos, bis zu dem Punkt, an dem wir nicht mehr erkennen, wer hier gerade wen ermordet. Das gesamte Schauspiel ist plötzlich nur noch ein Schauspiel aus Gewalt und Hass. Die Wechsel zwischen ruhiger, poetischer Betrachtung, kühl dokumentarischem Ton und höllischen Eruptionen von Gewalt und Chaos kommen immer abrupt und erzeugen eine Atmosphäre permanenter Unsicherheit. Wie der Protagonist kann sich auch das Publikum niemals sicher sein, was hinter der jüngsten Begegnung lauert: Scheinbare Sicherheit? Kurzes Erholen? Oder doch wieder menschliche Abgründe und unmenschliche Bedrohungen?

Ähnlich wie Bild und Ton sind auch Schauspiel und Schauspielregie exzellent. Der junge Petr Kotlár in seinem Leinwanddebüt ist eine Entdeckung. Er spielt seinen Protagonisten mit einer überzeugenden Mischung aus kindlichem Trotz und ohnmächtiger Lakonik. Dabei macht unser namenloser Junge eine subtile – aber dennoch offensichtliche Wandlung – durch. Kämpft er zu Beginn noch mit Gefühlsregungen gegen das höllische Chaos um sich herum, so wandelt sich seine Mimik im Laufe der Handlung mehr und mehr zu einem deprimierenden Stoizismus, der schließlich zu radikaler Gefühlskälte wird. Gerade Kotlárs Spiel im letzten Drittel ist dabei nochmal mehr als beeindruckend. Sichtlich gealtert (der Dreh dauerte wie auch die Handlungszeit im Film gute zwei Jahre) ist er kalt und unnahbar geworden. Jemand der schreckliches gesehen, schreckliches erlebt und schreckliches getan hat. Unser Protagonist ist nicht nur älter geworden sondern auch härter, hat sich seinen Lebensbedingungen angepasst. Umso bewegender sind dann schließlich die Bilder einer unerwarteten Wiederbegegnung und seines Umgangs damit. Kotlár spielt das Ergebnis dieses Wandels als gebrochenen Menschen, in dem doch auch immer noch ein Funke Hoffnung vorhanden ist, selbst das einst so verheißungsvolle Wort „Zuhause“ eine leere Phrase geworden ist. Unterstützt wird unser junger Hauptdarsteller von einem illustren Cast, teilweise ziemlich prominenter Schauspieler*Innen. Während Udo Kier seine Rolle – für ihn typisch – ziemlich drüber spielt (und auch für eine der reißerischen, unrealistischeren Episoden verantwortlich ist), agieren unter anderem Stellan Skarsgård, Harvey Keitel und Julian Sands mit einer angenehmen Zurückhaltung. Besonders hervorzuheben sei noch Júlia Valentová Vidrnáková, die in ihrer Rolle als Labina eine ebenso beängstigende wie beeindruckende Vorstellung abgeibt, irgendwo zwischen falschem Engel und echter Dämonin.

Aber, bei all der Klasse von Inszenierung, Bildsprache und Schauspiel muss doch noch mal explizit hervorgehoben werden: Leicht ist das alles nicht. The Painted Bird ist ein heftiger Brocken von einem Film. Sowohl wegen seiner allegorischen als auch realistischen Seite. Es geht fast drei Stunden lang um das Böse in der Welt. Wir sehen Menschen, die wirklich schreckliche Dinge tun, das alles durch die Augen eines unschuldigen Kindes, dem seine Unschuld mit jeder Sekunde mehr geraubt wird. Das alles in teils heftig brutalen Bildern, manchmal verstörend naturalistisch, manchmal beängstigend verträumt. The Painted Bird ist ein Horrortrip in die Dunkelheit der menschlichen Seele, ein Kaleidoskop dessen, was Menschen Menschen antun können. Und das ein so junges Kind sowohl Opfer als auch Täter wird, macht das Ganze umso schwerer zu verdauen. Oft fühlt sich Marhouls Film wie ein Schlag in die Magengrube an… nein, nicht nur ein Schlag, es gibt viele davon. Und sie ziehen sich über die gesamte Laufzeit. The Painted Bird will wehtun. The Painted Bird will das Böse zeigen, das Böse spürbar machen, das Böse reflektieren. Und alles drei gelingt ihm. Und alles drei dient dazu, dem Publikum wehzutun. Daher sei die Empfehlung für dieses absolute Meisterwerk eines (zivilen) Kriegsfilms mit einer fetten Triggerwarnung versehen: Der Film steckt voller Szenen von sexueller Gewalt, Folter, Sadismus, Mord und vor allem Ohnmacht. Er ist die Beiwohnung eines kindlichen Traumas, dem man sich kaum entziehen kann. Absolutes Verständnis für alle, die den Film vorzeitig abbrechen, den Kinosaal verlassen, den Fernseher ausschalten. Und trotzdem ist es gut, dass es diesen Film gibt; gerade weil er wehtut, weil er sowohl als Spiegelbild als auch realistisches Porträt funktioniert, gerade weil er in seiner Radikalität die Frage nach Authentizität und Fiktion transzendentiert und damit als Verfilmung Jerzy Kosińskis Roman auch ein wenig rehabilitiert.

Das was wir sehen, ist alles Fikltion. Das was wir sehen, ist alles Bild. Das was wir sehen, ist alles echt. Und damit müssen wir leben.

 

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

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