Ich seh Ich seh (2014) – Post Horror made in Austria

Es ist nicht so, dass wir Mitteleuropäer Genrekino nicht könnten, wir tuen es einfach zu selten. Es gibt eine gewisse Angst vor dem Genrefilm, insbesondere dem Horrorkino, die die deutsche und österreichische Filmlandschaft schon seit Jahrzehnten heimsucht. Dabei gibt es mit den expressionistischen Ikonen wie Wiene und Murnau eigentlich eine sehr ruhmreiche deutschsprachige Horrorfilmvergangenheit und auch Regisseure der Nachkriegszeit wie Werner Herzog haben bewiesen, dass wir Deutschen durchaus Horror auch in seiner fiktionalen Form können. In den letzten zwei, drei, wahrscheinlich eher vier Jahrzehnten begnügt sich der deutschsprachige Horrorfilm allerdings damit US-Vorbilder zu kopieren (z.B. der 2000er Slasher „Anatomie“) oder strebt mit bizarren Splatterorgien à la Jörg Buttgereit komplett vom großen Publikum weg. Dazwischen gibt es praktisch nichts. Entweder Indie-Trash, dem man sein fehlendes Budget in jeder Sekunde ansieht, oder platte Hollywoodkopien, die in jeder Sekunde „Love me, mainstream!“ zu schreien scheinen „Look, how I american I am!“. Irgendwie logisch, dass ein Gegenentwurf zu diesem trostlosen Genrebild aus einer anderen Ecke kommen muss, nicht von einem großen Studio mit ner Menge Budget in der Hinterhand, nicht aus einem kargen Hinterhof mit viel Kunstblut und einer „Leckt mich“-Attitüde. Und diese Erkenntnis ebnet dann den Weg für den Auftritt der österreichischen Filmemacherin Veronika Franz und ihrem Langfilm-Regiedebüt Ich seh Ich seh (2014), ein düsterer Horroralptraum vermählt mit Psychothriller, Familientragödie und bizarrem Arthaus-Tohuwabohu.

Gehässige Zeitgenossen könnten auf die Idee kommen, Franz als Schülerin oder gar als Anhängsel Ulrich Seidls zu bezeichnen. Dieser Ulrich Seidl, der mit seinen bizarren Sittengemälden die österreichische Filmlandschaft schon sehr lange wach und lebendig hält und mit der Paradies-Trilogie vor kurzem ein eindrucksvolles Triptychon gebaut hat. Aber damit würde man Veronika Franz nicht im geringsten gerecht werden. Immerhin schreibt sie schon lange zusammen mit Seidl die Drehbücher für seine außergewöhnlichen Filme, ist schon lange keine bloße Regieassistentin mehr, sondern eine Visionärin, die nicht nur Seidls Filmen eine Menge gibt, sondern auch – wie sie hier eindrucksvoll unter Beweis stellt – eigene Geschichten auf eigene Weise erzählen kann. Denn mit den Bizarrerien und Dramen des Partners und Seelenbruders hat „Ich seh ich seh“ nur wenig gemein. Da wo Seidl soziologisch seziert, seziert Franz psychologisch und – soviel darf verraten werden – ab einem gewissen Punkt auch physiologisch. Statt eines – schnell überheblich wirkenden – auktorialen Blicks, wählt sie eine durch und durch personale Perspektive, und anstatt ihr Publikum mit radikalen Brüchen abzustoßen, springt sie mitten hinein ins Genrekino, gerade so als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Und das Ergebnis ist dann – auch irgendwie logisch – der wahrscheinlich faszinierendste deutschsprachige Horrorfilm seitdem die jungen Wilden des Neuen Deutschen Films Horrortopoi kurz wiederentdeckt und ebenso schnell wieder verworfen hatten.

Im Mittelpunkt von „Ich seh Ich seh“ stehen die beiden zehnjährigen Zwillingsbrüder Elias und Lukas (gespielt von Elias und Lukas Schwarz). Sie leben gemeinsam mit ihrer Mutter (Susanne Wuest) in einem abgelegenen Haus irgendwo in der österreichischen Natur. Die Mutter kehrt nach einer komplexen Gesichtsoperation nach Hause zurück, fast vollständig bandagiert und verhält sich äußerst merkwürdig den beiden Geschwistern gegenüber. Sie isoliert die beiden fast vollkommen von der Außenwelt, gibt sich zeitweise brutal streng, dann wiederum komplett ignorant gegenüber den Kindern. Langsam wird Elias und Lukas bewusst, dass hier etwas nicht stimmen kann. Was hat es mit ihren bizarren Visionen auf sich? Warum verheimlicht ihre Mutter, dass sie eine Zwillingsschwester hatte? Wieso nimmt sie nie ihre Bandagen ab und warum springt sie so grausam mit den beiden um? Ein schrecklicher Verdacht entsteht: Handelt es sich bei der Frau, die hier nach Hause gekommen ist gar nicht um ihre Mutter sondern eine dämonische Doppelgängerin?

Dass dieser Geschichte eine tiefere Komplexität innewohnt, dürfte dem belesenen Zuschauer relativ schnell in den Sinn kommen. Und wer einen ganz bestimmten südkoreanischen Horrorfilm der frühen 2000er gesehen hat, dürfte schnell bemerken, dass sich „Ich seh Ich seh“ deutlich von diesem hat inspirieren lassen. Mit seinen surrealen Verzerrungen, der Internalisierung des Schreckens und die Zerstörung des Urvertrauens zieht Goodnight Mommy (so die wirklich okaye Übersetzung des Titels für das internationale Publikum) ohnehin eine Menge Inspiration aus dem asiatischen Horrorfilm der späten 90er und frühen 2000er Jahre. Das ist nicht nur eine angenehme Abwechslung zum sonst häufig angetroffenen Inspirationsherd USA, sondern bleibt auch genug im Rahmen, als dass „Ich seh Ich seh“ sich nie wie ein bloßer Epigone anfühlen muss. Dafür legt Franz genug eigene Ideen mit auf den Horrortisch, Ideen, die sich vor allem von dem europäischen – insbesondere dem skandinavischen – Arthauskino des 20. Jahrhunderts speisen. Aber auch hier wird sie nie zur bloßen Bergmann-Nachahmerin, sondern schafft es geschickt dessen psychologischen Fingerspitzengefühl in ein originäres Post-Horror-Szenario zu übersetzen.

Besondere Beachtung verdient dabei die titelgebende Perspektive. Diese ist (fast) den gesamten Film über radikal die persönliche Perspektive der beiden Zwillingsbrüder. Die Kamera von Martin Gschlacht fängt dabei auf herausragende Weise den Schrecken ein, der in der Wahrnehmung von Elias und Lukas liegt. Dem Vertrauen in ihre wichtigste Bezugsperson beraubt versuchen die beiden aus der erzwungenen kindlichen Ohnmacht zu entkommen, versuchen zu sehen und zu begreifen, was mit ihrer vermeintlichen Mutter beziehungsweise deren bösartigen Doppelgängerin vor sich geht, und erhaschen doch immer Ausschnitte des Gesamtgeschehens. Wir, die Zuschauer, sind dazu verdammt, diesem rudimentären Blick beizuwohnen und erleben dadurch die Ohnmacht de jungen Protagonisten am eigenen Leib. Vieles bleibt verborgen, Wahrnehmungen werden nur angeschnitten, Kommunikationsakte werden abgebrochen, Erklärungen maximal angerissen. So wie Elias und Lukas in ihrer Angst verloren sind, verliert sich die Handlung in ihrem reduzierten Blick, in dem die innere Perspektive das einzige ist, was bleibt. Das titelgebende „Ich seh Ich seh!“ ist dabei weniger Bestandsaufnahme als viel mehr verzweifelte Selbstvergewisserung: Wir sehen eben nicht alles, hören nicht alles, verstehen nicht alles. Aber wie die Zwillinge wollen wir uns davon überzeugen, dass es mehr zu sehen gibt, wollen dem Geheimnis auf den Grund gehen, uns vom Schrecken erlösen. Wer dieser Erlösung im Weg steht ist die omnipräsente, ebenso mächtige wie unheimliche Mutterfigur, grandios gespielt von Susanne Wuest. Sie verkörpert Mensch und Monster zu gleichen Teilen: Die Menschlichkeit des Monsters und die Monstrosität des Menschen. Sie bleibt undurchschaubar, verborgen unter ihren dicken Bandagen, die auch stets eine grausame, außerweltliche Erscheinung zu verstecken scheinen.

Erst gegen Ende wird dieser rudimentäre Blick aufgelöst und zumindest das Publikum bekommt alles zu sehen, was nötig ist, um das Ende der Geschichte fassen zu können. Das ist dann vielleicht auch der schwächste Schachzug des Films. In sehr klassischer Mysterytradition rauscht im Finale ein bitterböser Plottwist heran, der zwar konsequent und auch folgerichtig ist, aber auch ein wenig ein kleines Sakrileg an der zuvor so dominanten uns im Ungewissen lassenden Perspektive darstellt. Seiner Vagheit beraubt wird „Ich seh Ich seh“ zum traditionellen Horrorkino, das jeden Stein noch einmal umdrehen muss, um bloß nicht zu viele Fragezeichen zu hinterlassen. Ein mehr an Ungewissheit hätte dem Finale sicherlich gut getan. Er gewinnt zwar an Bösartigkeit und Zynismus, verliert dabei aber viel seiner ungeheuerlichen Atmosphäre. Der Perspektivwechsel hin zum Auktorialen inszeniert sich dabei als kleiner Zaubertrick, der aber auch ein Betrug sowohl am Publikum als auch den Protagonisten darstellt. Denn so viel wir am Ende sehen, so sehr verlieren wir die für den Film zuvor so wesentliche Perspektive. Das ist dann in diesem Fall in der Tat zu viel Katharsis, zu viel Erlösung und zu viel klassische Erzählkonvention. Doch auch mit diesen Schwächen ist Veronika Franz‘ Langfilmdebüt einer der aufregendsten Horrorfilme der deutschsprachigen Filmgeschichte; nicht nur der letzten Jahre, sondern viel mehr der letzten Jahrzehnte und ganz generell. Ein beeindruckender Post Horror Trip, der – wenn es noch so etwas wie Gerechtigkeit in dem Genre gibt – auch international Aufmerksamkeit erhalten sollte.

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