Old French Extremity – Der 2018er Horrorfilm Ghostland von Pascal Laugier
Unternehmen wir eine kleine filmische Zeitreise: Nachdem das Horrorgenre in den 90ern ziemlich orientierungslos vor sich hin vegetierte, kam es in den frühen 2000ern umso beeindruckender zurück. Neben dem Revival des Zombiefilms waren dafür vor allem die Horrorfilme der New French Extremity verantwortlich, die mit düsteren, dystopischen Geschichten, einem Mehr an Gewalt und ihrer brutalen Unerbittlichkeit gegenüber dem Publikum dem Genre die damals so notwendige Vitalisierung verpassten. Einer der großen Filme dieser Gattung war Martyrs (2008), der nicht nur zu den besten Horrorfilmen des Jahrzehnts sondern zu den besten Horrorfilmen überhaupt gezählt werden kann. Regisseur Pascal Laugier profitierte jedoch wenig von der Anerkennung, die sein Meisterwerk von Publikum und Kritik erhielt. Seine Beauftragung für ein Hellraiser-Remake scheiterte daran, dass Laugier seine eigenes Ding durchziehen, sich nicht den amerikanischen Horrorkonventionen beugen wollte, und abgesehen von dem Direct-to-DVD-Produkt The Tall Man (2012) verschwand der damals so vielversprechende Regisseur in der Versenkung. Ganze zehn Jahre mussten nach Martyrs vergehen, bis Laugier wieder mit einem Horrorfilm von sich reden machen durfte: Ghostland (2018) wurde vor allem von den Genrefans wohlwollend aufgenommen und durfte sogar auf dem Festival international du film fantastique de Gérardmer ordentlich abräumen, bei dem ein Jahr zuvor das Genrebiest Raw (2016) für Aufmerksamkeit gesorgt hatte: Und das als kanadisch-französische Koproduktion, die allerdings viele Kompromisse für den amerikanischen Genremarkt eingeht. Weiß Laugier dennoch auch heute noch, in Zeiten von Post- und Slow Burning Horror zu begeistern?
Nach dem Tod ihrer Tante reisen die beiden jugendlichen Mädchen Beth (Emilia Jones) und Vera (Taylor Hickson) mit ihrer alleinerziehenden Mutter Pauline (Mylène Farmer) zu dem entlegenen Anwesen der Verstorbenen um dort in Zukunft zu leben. Die Familie ist nicht frei von Konflikten, verstehen sich doch Beth und ihre Mutter ausgesprochen gut, weil sie eine Leidenschaft für Horrorgeschichten und alte Dinge teilen, während sich Vera als typischer Teenager oft außen vor fühlt. Das Haus, das sie beziehen, ist nicht nur heruntergekommen sondern vollgepackt mit allerlei altem und kitschigem Kram, insbesondere die riesige Puppensammlung der früheren Besitzerin sticht ins Auge. So faszinierend Pauline und Beth das gruselige Chaos finden, so unwohl fühlt sich Vera, die am liebsten gleich wieder zurück nach Hause reisen würde. Sie hat aber nicht viel Zeit, mit ihrem Schicksal zu hadern. Kurz nach Ankunft der Familie brechen zwei Psychopathen in das Haus ein und beginnen Pauline und ihre Töchter zu terrorisieren. Es beginnt ein Alptraum der tiefe Narben bei allen dreien hinterlassen wird.
Incident in a Ghostland ist der Alternativtitel dieses kleinen Horrorfilms, und dieser passt in der Tat deutlich besser als die für den Vertrieb gewählte Kurzversion: So unheimlich das Anwesen – bei dem alle klassischen Spukhausregister gezogen werden – ist, so gering ist doch lange die Rolle, die es in dem schließlich einbrechenden Horrorszenario spielt. Im Mittelpunkt steht stattdessen der Incident, der Vorfall, der das Leben der Familie radikal ändern wird. Mit seiner Fokussierung auf den brutalen Überfall und dessen Folgen streift Ghostland Themen wie Traumatisierung, Vergangenheitsbewältigung, sichtbare und unsichtbare Narben, und ist damit tatsächlich ganz nah dran an der Motivik, die Laugier bereits in Martyrs so kongenial auf die Leinwand brachte. Ohnehin besitzt Ghostland deutlich mehr von dem New French Extremity Klassiker, als man auf den ersten Blick vermuten würde: Da ist zum Beispiel die mutige, gegen den klassischen Horrorfilmaufbau arbeitende Struktur. Ähnlich wie Martyrs beginnt Ghostland mit maximalem Schock und Terror, versucht sich dann in einem emotionalem zweiten Akt, um über paranormalen Grusel zum Terror zurückzufinden. Auch die Freude an diversen Genreeinflüssen und Referenzen teilt der Film mit seiner zehn Jahre älteren Schwester: Laugier springt geschickt von Psychothriller über klassischen Torture Porn über Geistergeschichte nach japanischem Vorbild bis hin zum gewaltigen, gewalttätigen Terror und hat dabei sogar noch Zeit, sich ganz tief vor H.P. Lovecraft zu verbeugen. Die einzelnen so unterschiedlichen Horrormomente wirken nie forciert sondern greifen ineinander und ergänzen sich logisch und plausibel.
Ebenfalls wie bei Martyrs steht im Zentrum von Ghostland ein wesentlicher Twist, der allerdings leider alles andere als originell daherkommt. Schlimmer noch, Laugier macht es seinem Publikum mit Andeutungen und kleinen Spielereien viel zu einfach diesen Twist vorherzusehen. Es ist schwierig darüber zu schreiben, ohne den Film zu spoilern, klar ist jedoch, dass dieser sich für viele aufmerksame Zuschauer viel zu schnell selbst spoilern dürfte. Gott sei Dank platziert Laugier den großen Plottwist im Zentrum und nicht am Ende, und so bleibt dem Publikum auch nach der in vielen Fällen wohl wenig schockierenden Offenbarung genug Raum dem Geschehen zu folgen, das auch über sein Gimmick hinaus spannend ist. Gerade in der Folge des Twists wird Ghostland dann auch zu einem äußerst klassischen Film des New French Extremity Horrors, der all das einsetzt, was man seit gut zehn Jahren nicht mehr gesehen hat: Quälend langsam erzählte Gewalt, Hoffnungslosigkeit, Ausweglosigkeit, Leid als Grundprinzip, das alles schwankend zwischen naivem Exploitation und selbstreflektiertem Empowerment.
So effektiv diese Elemente sind, so antiquiert wirken sie doch in vielen Momenten. Ja, Laugier beherrscht sein Handwerk: Eine sehr gute Kameraarbeit, herausragende Beleuchtung, die genau richtige Mischung aus Gewaltdarstellung und Gewaltverbergen, zwischen langsamer Folter und abrupter, lauter Gewalteruption… Das funktioniert alles sehr gut, um die Daumenschrauben für das Publikum anzuziehen und den Film in manchen Momenten nur schwer erträglich zu machen. Andererseits jedoch hat man diese Mittel einfach schon zu oft gesehen, und ohne eine metatextuelle Reflexion (wie sie andere Filme schon vor zehn Jahren zu bieten hatten) wirken all diese Werkzeuge eben doch ein bisschen faul, ein bisschen zu sehr auf Shock Value aus. Umso schlimmer, dass der Film in anderen Momenten viel zu tief in die Trickkiste des amerikanischen Mainstreamhorrors aktueller Schule greift: Jump Scares und noch schlimmer Fake Jump Scares werden viel zu oft eingesetzt und lassen die Atmosphäre billiger wirken als sie sein müsste. Das ganze Spuk- und Gruselsetup mit den unheimlichen Puppen wirkt in den ausgehenden 2010er Jahren mit ihren Annabelles und Boys einfach nur dröge und uninspiriert, auch wenn man Laugier zu Gute halten muss, dass er damit andere, originellere Sachen anzustellen weiß als seine Konkurrenz. Dennoch wühlt der Film einfach viel zu oft in der Trickkiste des platten, temporären Grusels der Conjuring-Ecke. Vielleicht ein Kompromiss Laugiers, um in der aktuellen Horrorwelt nochmal Fuß zu fassen, ein nachvollziehbarer Kompromiss, aber ein Kompromiss, der dem Film nicht gut tut.
Denn ansonsten wird hier doch vieles richtig gemacht: Die Inszenierung ist wie bereits gesagt große Klasse, die Schauspielerinnen liefern eine ordentliche Leistung ab. Hervorgehoben seien an dieser Stelle vor allem Anastasia Phillips und Taylor Hickson, die als Vera äußerst überzeugend Verhalten, Gestik und Mimik eines Menschen verkörpern, der durch die Hölle gegangen ist. Der Soundtrack ist stark, enervierend, wenn auch an der ein oder anderen Stelle zu sehr effekthaschend. Und die Struktur ist trotz ihrer Vorhersehbarkeit clever und trägt dann auch an manchen Stellen überraschend weit, schmerzhaft weit, auch wenn der letzte Spin in der Handlung vielleicht einer zu viel ist.
Alles in allem ist Ghostland kein schlechter Film. Allerdings ist er zu konservativ, manchmal auch einfach zu plump, um mit der aktuellen Creme de la Creme des Genrekinos mithalten zu können. Posthorror-Meisterwerken wie Hereditary (2018), It follows (2015) oder Babadook (2014) hat er nichts entgegenzusetzen. Dafür spielt er eine ganze Klasse über den zahllosen Conjuring- und Annabelle-Epigonen unserer Zeit. Und genau als das hat er auch eine Daseinsberechtigung: Als Kontrastprogramm zu den Cheap Tricks im Horrormainstream; gefällig genug, um auch deren Publikum abzugreifen, und zugleich deutlich stärker und intensiver, so dass er diesem durchaus einen kleinen Kulturschock verpassen dürfte. Good old French Extremity, schön, dass wir uns mal wieder gesprochen haben.