Get Out und die Repolitisierung des Horrorgenres

Nachdem der Horrorfilm in der Frühzeit des Kinos – und ein gutes Stück darüber hinaus – ein sehr beliebtes Genre war, verlor er in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts enorm an Wirkkraft und Zuschauerzahlen. Charles Nonon, der im Theater einen ähnlichen Rückgang am Horrorinteresse feststellen musste, begründete dies mit dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges: „Wir konnten nie mit Buchenwald gleichziehen“, war sein ebenso erschreckender und plausibler Kommentar dazu. Und weiter: „Vor dem Krieg glaubte jeder, dass das Geschehen auf der Bühne unmöglich war. Nun wissen wir, dass diese und schrecklichere Dinge in der Realität möglich sind.“ Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Horrorunterhaltung aus dieser Schockstarre lösen konnte.

So waren die Horrorfilme der 50er und frühen 60er Jahre vor allem eskapistische Gothic-Horror-Schinken (vor allem von den Hammerstudios dennoch ganz hervorragend umgesetzt) und universelle Monsterhorrorkatastrophenfilme. Selbst die psychologisch feinsinnigen, äußerst nuancierten Horrorfilme eines Alfred Hitchcock – allen voran Psycho (1960) und Die Vögel (1963) – markierten einen Rückzug des Horrors ins Private, als parabolische Blicke in die Seele der Protagonisten und Protagonistinnen, als Studien des menschlichen Geistes, denen gesamtgesellschaftlicher Schrecken fehlte. Einen wahren Wendepunkt für das Genre stellte George R. Romeros dreckiger Low-Budget Zombiehorrorfilm Night of the Living Dead (1968) dar. Dieser reagierte auf ganz eigene Weise auf das Problem, dass der Horror auf der Leinwand niemals mit dem Horror der Realität gleichziehen kann… indem er den Schrecken der Realität mit auf die Leinwand brachte. Und zwar nicht parabolisch oder metaphorisch, sondern direkt, indem er am Ende eines verheerenden Kampfes gegen Zombies seinen schwarzen Protagonisten von einer weißen Bürgerwehr ermorden ließ.

Gerade der Low-Budget-, Midnight-Movie- und Exploitationbereich des Genres war von diesem Moment an hochpolitisiert. Egal ob Zombies, Mutanten oder Schreckgespenster, alle durften sie sich mit realen politischen Schrecken vermählen, egal ob Rassismus, Sexismus, staatliche Willkür oder Terrorismus. In den 70er Jahren war das Horrorgenre möglicherweise das politisierteste Genre überhaupt. Dann jedoch kamen die 80er Jahre mit ihrem Gore- und Splatterfetisch, die das Genre genrell wieder aus dem Auge der Öffentlichkeit (und in die Videothekenschmuddelecke hinein) manövrierten, die 90er Jahre mit ihrer Renaissance des eskapistischen Gothic-Horror und die 2000er Jahre, die den Gore – aber weder politischen Sub- noch Haupttext – ins Mainstreamkino brachten. Und abgesehen von ein paar Ausreißern war das Genrekino wieder so entpolitisiert wie in den 50er Jahren.

Vielleicht ist ein Grund für diese Entpolitisierung, dass sowohl der reale Schrecken des zweiten Weltkrieges als auch die gesellschaftlichen Umbrüche der späten 60er und frühen 70er Jahre mittlerweile historisiert sind. Vielleicht liegt es daran, dass das Genre mit seinen Gewalt- und Ekeleruptionen in den 80er Jahren einen neuen Weg gefunden hat zumindest oberflächlich reale Schrecken einzuholen, einfach durch das Prinzip der Pervertierung und Karikierung. Vielleicht liegt es auch daran, dass der politische Subtext sich mittlerweile in anderen Genres – insbesondere dem Science Fiction – weitaus wohlerfühlt. Politisierte Horrorfilme wie zum Beispiel 28 Days Later (2002) muss man heute auf jeden Fall lange suchen. Statt der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Topoi dominieren Gore-Spektakel wie die Saw-Reihe, selbstreferenzielle Hommagen/Parodien wie die Scream-Franchise oder The Cabin in the Woods (2012) oder Mainstream-Spukgeschichten mit plumpen Jump Scare Tricks wie alles aus dem Conjuring-Universum. Aber es gibt auch einen sehr jungen Gegentrend zu dieser Formelhaftigkeit des Horrorgenres (der gerade selbst Gefahr läuft formelhaft zu werden): Gemeint sind die Filme, die mittlerweile ganz gerne unter dem Label Post Horror zusammengefasst werden: Kill List (2011), The VVitch (2015), It follows (2014) und zuletzt Hereditary (2018) sind seine großen Vertreter. Und Get out (2017) wird in diesem Atemzug auch gerne gleich mit aufgezählt. Wir wollen uns gar nicht lange damit aufhalten, was diese Filme anders machen als all die Annabelles und Hostels dieser Welt (So vage und vermutlich auch unbrauchbar der Term Post Horror ist, so sehr macht es Sinn, diesen neuen Schlag Horrorfilme unter einem Label zusammen zu denken), sondern stattdessen einen Blick darauf werfen, was Get Out von diesen unterscheidet. Denn so gerne er dabei mitgedacht wird, so sehr unterscheidet er sich doch von den anderen Filmen dieses Labels (Es sei denn man versteht es als Kategorie für alle qualitativ hochwertigen Genrebeiträge der letzten Jahre, aber das kann ja nicht Sinn von einer solchen Schublade sein). Und das Hauptmerkmal, mit dem er sich von ihnen unterscheidet, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Traditionalität.

Es mag kontraintuitiv wirken, dass ausgerechnet ein thematisch doch so progressiver Film wie Get Out durch seine Traditionalität besticht, sich gerade durch sein Traditionsbewusstsein von anderen Post-Horrorfilmen abhebt, aber genau das ist der Fall. Get Out lebt eine Horrortradition, die mit Beginn der 80er Jahre fast komplett verschütt gegangen ist und auch in politischen Horrorfilmen des neuen Jahrtausends nicht wiederbelebt werden konnte: Nicht der politische Subtext (der ergibt sich hier von selbst), sondern der politische Kontext, und mehr noch, der aggressive politisch explizite Text. Das wird deutlich, wenn man ihn mit einem Klassiker des politischen Horrorfilms vergleicht: The Hills Have Eyes (1977) ist eben nicht nur eine Parabel die Bedrohungslage durch das atomare Wettrüsten im kalten Krieg; das atomare Wettrüsten selbst ist direkt für den Horror des Films verantwortlich (indem die Atomwaffentests der USA für das Entstehen der schrecklichen Mutanten verantwortlich waren). Ein weiterer Fall ist Herschell Gordon Lewis‘ Two Thousand Maniacs! (1964), der als lange verborgener Klassiker noch vor Romero die Politik in das Genre brachte, in dem die mordenden Rednecks nicht einfach nur eine Parabel auf nach wie vor schwelende Konflikte zwischen den ehemaligen Konföderierten und Unionisten sind, sondern ihr Morden direkt mit den in den USA nach wie vor herrschenden Südstaatengeist begründen. Und dann natürlich die bereits erwähnte Nacht der lebenden Toten, in der eben nicht die Zombies als irgendeine Parabel für den Tod des Protagonisten verantwortlich sind, sondern eine zusammengerottete durch und durch menschliche Bürgerwehr.

All diesen Klassikern ist wie Get Out gemein, dass es keinen Subtext gibt. Oder viel mehr: Es gibt Subtext, aber der Subtext ist gleichzeitig durch und Text. Get Out ist keine Parabel auf einen jovialen Rassismus einer sich als liberal betrachtenden Elite. Die sich als liberal betrachtende Elite gibt ohne Umschweife zu, dass ihr Handeln rassistisch motiviert ist. Es gibt keinen politischen Subtext, der sich dem Kinogänger erschließen muss: Das unangenehme, psychopathische und schließlich blutrünstige Verhalten der weißen Antagonisten ist von Anfang an präsent und dient direkt der erzählten Geschichte. Hier unterscheidet sich Get Out auch deutlich von vielen anderen parabolischen Horrorfilmen jüngeren und älteren Datums: Natürlich kann man Dawn of the Dead (1978/2004) als Satire auf die Konsumgesellschaft lesen, natürlich ist Haute Tension (2003) auch eine Auseinandersetzung mit unterdrückter Sexualität in einem gesellschaftlich konservativen Klima. Und natürlich befasst sich Miikes Audition (1999) mit der Objektifizierung von und der romantischen Projektion auf Frauen… aber all dies geschieht im Subtext, bleibt immer eine Interpretationsebene unter vielen. Get Out geht es nicht um Interpretationsebenen und vage Parabeln: Subtext ist Text; der Schrecken ist kein platonischer Schattenwurf sondern reale Begebenheit, gesellschaftliche und politische Probleme werden nicht unter einem Haufen Kunstblut begraben sondern werden als Auslöser einer jeden möglichen Blutorgie präsentiert.

Damit ist Get Out auch deutlich mutiger als seine vermeintlichen Post-Horror-Geschwister. So spannend und vielschichtig Filme wie Hereditary oder It follows sind, sind sie doch auch nach wie vor von der Flucht des Genres ins Private betroffen. Sie zeigen dysfunktionale Familien, zerrüttete Beziehungen, dem Wahnsinn anheim fallende ProtagonistInnen, immer nah an der Persönlichkeit des Menschen, immer nah an den kleinsten gesellschaftlichen Parzellen und so niemals den Schritt über sie hinauswagend. Get Out bricht aus und sucht sein Heil in Genreidealen der 60er und 70er Jahre: Er ist satirisch, überdreht, höchst aggressiv, politisch und hat es dabei nie nötig seine Themen im Subtext zu verstecken. Der Gewinn für das Genre ist klar: Wo reale Schrecken mit fiktiven Schrecken gekreuzt, überlappt und begründet werden, kann sich der Film nie im Eskapismus verlieren. Wenn wir uns fürchten, dann fürchten wir uns über die Gesellschaft, über die Zeit in der wir leben, wir fürchten uns vor dem Menschen auf die ein oder andere Weise: People of Colour, weil sie die Bestätigung dafür sehen, dass Rassismus auch im vermeintlich liberalen, weltoffenen Bürgertum noch einen tief verwurzelten Platz hat. Personen aus der weißen Mehrheitsgesellschaft, die sich selbst als liberal und weltoffen definieren, weil sie mit ihrem eigenen, womöglich (zumindest für sich selbst) gut verborgenen Rassismus konfrontiert werden. Die Angst ist dabei nie die Angst vor etwas Fiktivem, und auch nie die Angst vor etwas Realem was in etwas Fiktivem gespiegelt wird, es ist die direkte Konfrontation mit realem, allzu realem Horror.

Daher scheint es auch sehr merkwürdig, dass ausgerechnet das politische Moment dieser herausragenden Horrorsatire für viele Kritiker Anlass war, ihn mit den großen Post-Horrorfilmen der letzten Jahre in einen Topf zu werfen: In seinem politischen Moment ist Get Out nämlich im besten Sinne des Wortes traditionell; er sucht nach Möglichkeiten dem realen Schrecken mit den Möglichkeiten des Horrorfilms zu begegnen, ohne sich dabei ins Private zu flüchten und ohne dabei hinter einer Wand aus Symbolen versteckt zu sein. So wie die späten 60er und frühen 70er Jahre Horrorfilme die Last und Schockstarre des eskapistischen 50er Jahre Gothic-Horrorfilms abwarfen, so weist Get Out die Bräsigkeit des aktuellen Horrorfilms und auch den Ennui des Post-Horrorfilms von sich. Er bringt dadurch das Genre zu alten Stärken zurück und zeigt obendrauf, dass politischer Horror nicht zwingend symbolischer, parabolischer Horror sein muss, sondern sehr wohl in direkter Konfrontation mit realen gesellschaftlichen Ereignissen seine Erfüllung finden kann. Get Out bedeutet keine Politisierung des Horrorfilms, sondern eine Repolitisierung des Horrorfilms, und das in einer Zeit, in der politische Texte und Subtexte mehr als notwendig sind. Post-Horror kann man ja gerne immer noch dazu sagen, aber bitte die Hauptkategorie nicht vergessen. Politischer Horror. Und das mit einem Ausrufezeichen!

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