Die besten Horrorfilme 2019: Us/Wir von Jordan Peele
„Doppelgänger“, ein Wort, das aus dem Deutschen stammt und es in zahllose andere Sprachen geschafft hat. Von den Gebrüdern Grimm als „der einem andern so ähnlich ist dasz er leicht mit ihm verwechselt wird.“ definiert und bereits dort mit dem Gefühl des Entsetzens verknüpft. Spätestens in der Romantik war das Doppelgängermotiv fest verwurzelt mit Horror, Angst und Schrecken. Von Hoffmanns Elixiere des Teufels (1815) über Dostojewskis Doppelgänger, die Archteypisierung des dunklen Schattens durch Carl Gustav Jung bis hin zur Westworld-Fortsetzung Futureworld (1976) bis hin zu Denis Villeneuves Enemy (2013). Doppelgänger machen Angst, sind Herausforderungen für die Anthropologie ebenso wie für Religion und Spiritualität. Kultur- und medienwissenschaftlich scheinen sie vor allem ein Thema für die Psychologie zu sein, dabei können sie ebenso soziale und sogar politische Fragestellungen aufwerfen. Jordan Peele, der mit Get Out (2017) einen der politischsten Horrorfilme der letzten Jahre inszeniert hat, wagt sich mit Us (2019) an genau jenes Setup: Der Schrecken des Doppelgängers nicht bloß als intrinsischer Schrecken und psychologische Studie, sondern als groteske Horrorparabel. Und wer glaubt, Jordan Peele hätte mit Get out sein Pulver verschossen, was groteske, symbolische Horrorfilme betrifft, der sieht sich hier eines besseren belehrt. Us gelingt es nämlich tatsächlich noch einmal eine ganze Ecke besser zu sein als sein vielgelobter Vorgänger.
Obwohl Ada Wilson (Lupita Nyong’o) als junges Kind ein traumatisches Erlebnis in einem Spiegelkabinett am Strand von Santa Cruz hatte, reist sie mit ihrem Mann (Winston Duke) und ihren beiden Kindern in den Ferien wieder zu einem Ferienhaus ganz in der Nähe dieses Ortes. Dunkle Vorzeichen lassen Ada bereits schlimmes erahnen; und tatsächlich, in der Nacht steht eine fremde Familie vor dem Ferienhaus der Wilsons. Komplett gekleidet in rote Overalls und bewaffnet mit Scheren scheinen die mysteriösen Fremden ein böses Spiegelbild der Middle Upperclass Familie zu sein. Sie sehen exakt so aus wie die Wilsons, gebärden sich jedoch vollkommen anders: Bedrohlich, wild, animalisch… und sie scheinen es auf all das abgesehen zu haben, was den Wilsons gehört, inklusive ihrem Leben.
Us hält sich nicht lange mit seiner Vorgeschichte oder einem Mysterium um sein wesentliches Plot-Element auf und kommt stattdessen gleich zur Sache. Ja, die anderen sind bösartige Doppelgänger der Wilsons. Woher sie kommen und warum sie hier sind bleibt indes lange im Dunkeln. Klar ist dagegen ziemlich schnell, dass sie eine existenzielle Bedrohung für die wohl situierte Familie darstellen. Was folgt ist ein unheimlich dichtes, enervierendes und auch brutales Katz- und Mausspiel, das seine Inspiration großzügig aus dem Home Invasion Genre sowie dem Zombiefilm zieht. Die Intensität des Schreckens verdankt der Film vor allem seinen Protagonist*innen. Lupita Nyong’o, Winston Duke, Shahadi Wright-Joseph und Evan Alex treten hier alle gleich in zwei Rollen auf: Als verwöhnte und zugleich nie ganz zufriedene amerikanische Mittelständler und als dunkles Zerr- und Spiegelbild dieses Lebenswandels. Diese enorme Herausforderung lösen alle vier Akteure par excellence. Insbesondere Lupita Nyong’o besticht in ihrem grandiosen Vexier- und Doppelspiel. Wie sie den Doppelgänger ihrer Protagonistin beim Einatmen mit hilflosen Kehllauten sprechen lässt, wie sie als fieser Dämon mit Blicken und Gesten Schrecken erzeugt, das verdient schon gehörigen Respekt. Aber auch die anderen Schauspieler überzeugen in ihrem Doppelspiel. Hier sei nur beispielhaft Shahadi Wright-Joseph hervorgehoben, die einem klassischen Klischee-Display-Teenager eine eiskalte psychopathische Killerin entgegenwirft und in beiden Momenten verdammt glaubwürdig rüberkommt.
Nicht nur die Schauspielerinnen, auch die Inszenierung ist auf kreischenden Schrecken angelegt und dabei verdammt erfolgreich. Düstere Rhythmen – insbesondere der hier pervertierte 90er Jahre One Hit Wonder Hip Hop Hit „I got five on it“ von Luniz – peitschen die bizarre Handlung nach vorne. Die Bilder erinnern abwechselnd an den klassischen Zombiefilm eines George Romeros und den Terrorfilm der 70er Jahre wie The Hills have Eyes (1977). Der wahre cineastische Referenzraum von Us liegt allerdings in den 80er Jahren. Nicht nur, dass der Film mit einem Rückblick auf diese Epoche startet, in seiner Verschmelzung von sozioökonomischer Kritik mit derbem, trashigen Horrorszenario scheint er geradezu darum bemüht zu sein, das politische Anti-Reagan Exploitationkino der 80er Jahre wieder aufleben zu lassen. Den bissigen Sarkasmus, der damals Filme von zum Beispiel John Carpenter (Sie leben (1988)) aus der Schmuddelecke raus direkt in den feuilletonistischen Mainstream hob, ist auch hier zu finden; ebenso die Freude an augenzwinkerndem Schrecken, schrillen Untertönen und bitterbösen satirischen Momenten. Denn Us ist natürlich nicht nur einfach eine Horrorgroteske, sondern der zweite Film von Jordan Peele. Und das heißt einfach mal: Hier passiert nichts um seiner selbst willen. Kein Schrecken, keine Brutalität steht ohne Kontext dar, sondern bettet sich ein in einen – ziemlich abgefuckten – Blick auf die amerikanische Politik und Gesellschaft:
„We’re Americans“ antwortet einer der Doppelgänger auf die Frage nach seiner Identität. Us steht natürlich nicht nur für „Uns“ sondern auch für „United States“ und natürlich ahmen die Doppelgänger mit ihrer Menschenkette eines der obskursten US-Charityprojekte der 80er Jahre nach. Und das alles ist nur die Spitze des Eisbergs. Us steckt voller kleiner Anspielungen, Referenzen und Querverweise und öffnet dadurch gleich eine ganze Vielzahl an Interpretationsebenen. War Get Out noch sehr auf sein zentrales Thema fokussiert (bis hin zum Overexplaining), bleibt Us deutlich vager, abstrakter und auch surrealer und dadurch in seinem facettenreichen Symbolismus eben auch deutlich anspruchsvoller. Ob man ihn nun als klassische Doppelgängergeschichte, die mit den Ängsten der Wohlstandsverwahrlosten spielt, lesen will, oder als soziale Studie, die das Doppelgängerthema aus dem psychologischen Rahmen herausnimmt und in die soziopolitische Ecke transferiert. Ob man die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Mittelschicht am interessantesten findet oder die harsche Konsumkritik; ob man das ganze als Auseinandersetzung mit Identität und Identitäten begreifen will oder als kritische Auseinandersetzung mit dem Essentialismus postpostmoderner Ausprägung… Us bietet einfach verdammt viele Möglichkeiten, gelesen, interpretiert und genossen zu werden; definitiv mehr als Jordan Peeles Regiedebüt.
Und damit wäre dann auch die Frage beantwortet: Was macht man als Regisseur, wenn der letzte Film gemeinhin als Meisterwerk des Horrorgenres gilt? Man dreht einfach einen Film, der noch einmal eine ganze Ecke besser, unheimlicher, wilder, bizarrer und auch politischer ist. Mit Us hat Jordan Peele ein zweites großes Meisterwerk nachgeschoben, das nicht nur mit dem vorherigen mithalten kann, sondern dieses sogar in den Schatten stellt. Us ist nicht nur sehr wahrscheinlich der beste Horrorfilm des Jahres 2019, er dürfte auch in der Hitliste der besten Horrorfilme der Dekade ganz weit oben auftauchen.
Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.
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