Die besten Filme 2014: Force Majeure – Höhere Gewalt, traditionelle und dekonstruierte Rollenbilder

Gott oh Gott, wo sind wir da nur reingeraten! Wir hätten ja eigentlich ahnen müssen, als die Dekonstruktivisten und Postmodernen sich auf den Feminismus, die Geschlechtstheorie und Sexualitätsforschung gestürzt haben, dass da nichts gutes dabei rauskommen kann. Spätestens als dann Judith Butler um die Ecke kam und die Binarität der Geschlechter rundheraus in Frage stellte, war Hopfen und Malz verloren. Und wo sind wir jetzt gelandet? Keine klaren Kategorien mehr, Jungs die rosa tragen und mit Einhörnern kuscheln, Mädchen in Jeans mit kurzen Haaren, die sich an der Weltrettung versuchen… und dazwischen ein Haufen armer, alter, weißer Männer, die jeden Tag weiter unter die Räder kommen. Geschlechterkategorien wurden gesprengt und werden wohl nie wieder zu retten sein. Goodbye, holde Weiblichkeit, goodbye kraftstrotzende Männlichkeit, hallo du postmoderne Dystopie für jeden binär denkenden, auf feste Rollenmuster stehenden Menschen. Gibt es noch Hoffnung für die Frauen, die einfach nur gerettet und vom maskulinen Prinz auf einem Pferd davon getragen werden wollen? Gibt es noch Hoffnung für die Männer, die ganz klassisch ihre Männlichkeit beweisen, indem sie ihrer Angebeteten die Welt vor die Füße legen und ihr anschließend so viel Sicherheit geben, dass sie nicht mehr für sich selbst denken muss? Vielleicht. Vielleicht braucht es nur eine kleine Katastrophe, ein wenig Höhere Gewalt (2014), um auf diese Grundbedürfnisse aufmerksam zu machen und die überlebenswichtige Grundordnung wieder herzustellen… vielleicht aber auch nicht.

Tomas (Johannes Kuhnke) und Ebba (Lisa Loven Kongsli) haben scheinbar alles erreicht, was man sich im Leben wünschen kann: Beruflichen Erfolg, zwei süße Kinder, ein gehobenes Skitalent, und um das alles zu feiern, einen luxuriösen Urlaub in den französischen Alpen. Tomas, der in den letzten Monaten so sehr in die Arbeit vergraben war, dass er kaum Zeit für seine Familie hatte, soll den Urlaub – zumindest wenn es nach Ebba geht – auch dafür nutzen, sich endlich mal wieder um seine Liebsten zu kümmern. Dumm nur, dass er gleich zu Beginn des Urlaubs krachend scheitert: Die Familie sitzt gemütlich auf der Hotelterrasse beim Essen zusammen. Eine kontrollierte Sprengung löst auf den anliegenden Bergen eine Lawine aus. Offensichtlich nicht ganz so kontrolliert, wie von den Sprengmeistern vorgesehen. Denn mit beängstigender Geschwindigkeit nähern sich die Schneemassen der Hotelterrasse. Ebba schnappt sich die Kinder, um sie in Sicherheit zu bringen, Tomas schnappt sich… sein Handy und flieht, ohne einen Blick auf seine Familie zu werfen. Die so gefährlich wirkende Lawine entpuppt sich Gott sei Dank nur als kleines Gestöber aufgewirbelten Schnees. Keinem der Gäste auf der Terrasse passiert etwas. Aber fortan besteht eine unausgesprochene Spannung zwischen Tomas und Ebba: Er will sich nicht eingestehen, wie egoistisch er sich in dem Moment der Gefahr verhalten hat, sie will nicht seinen Wunsch akzeptieren, einfach zur Normalität zurückzukehren, so als sei nichts geschehen. Und der gemeinsame Urlaub soll noch sehr lange andauern…

Turist ist der schwedische Originaltitel des Films von Ruben Östlund. Der deutsche Titel Höhere Gewalt wiederum ist eine direkte Übersetzung des internationalen Force Majeure, unter dem die Gesellschaftssatire in allen anderen Ländern vermarktet wird. Auch wenn diese Alternative hervorragend zu der Geschichte und dem darin entworfenen Konflikt passt, lohnt es sich doch einen genaueren Blick auf den Originaltitel, das schwedische Wort für Tourist zu werfen. Dieser scheint hier eine doppeldeutige Funktion zu erfüllen. Neben der offensichtlichen Ebene, alles was der Familie während des Films widerfährt, widerfährt ihnen in ihrer Rolle als Touristen in einem luxuriösen Skigebiet Frankreichs, gibt es auch noch eine zweite, die im Laufe der Handlung peu à peu offengelegt wird: Tomas ist so etwas wie ein Tourist im Kreis seiner Familie; jemand der nur kurz vorbeischaut, um sich das beste abzuholen, ohne Verantwortung zu übernehmen oder gar darüber nachzudenken, wie es den anderen in diesem Szenario geht. Entlarvend ist die frühe Szene, in der Ebba Dritten erzählt, dass Tomas sich im Urlaub endlich mal wieder mehr um die ganze Familie kümmern will, und dieser sie nur entgeistert anschaut. Ebenso entlarvend ist der panische Griff zum Handy, zum Arbeits- und Statussymbol, das Tomas im Angesicht der Gefahr wichtiger ist, als seine Frau und Kinder.

In dieser Doppeldeutigkeit erzählt Höhere Gewalt im Grunde genommen ein äußerst traditionelles Geschlechter- und Beziehungsbild: Der hart arbeitende, erfolgreiche Mann, der sich komplett von seiner Familie entfremdet hat. Die anlehnungsbedürftige Frau und die aufmerksamkeitsbedürftigen Kinder, die versuchen, den Mann aus diesem Lebensentwurf rauszukriegen und wieder zu einem Teil der Familie zu machen. Das ist wie gesagt alles andere als originell, genau genommen sogar ein Topos, der uns durch die gesamte Kulturgeschichte der bürgerlichen Ära begleitet: Mary Poppins hatte dieses Motiv ebenso an Bord wie Hook, Autoren des 19. Jahrhunderts haben das Motiv ebenso beackert wie die Familienfilme des 20. Jahrhunderts. Ohne Ironisierung könnte man in diesem Motiv gar ein dezidiert sexistisches oder zumindest antifeministisches vermuten, nämlich die pauschale Aussage, dass Frauen eben doch nur das eine wollen: Einen tapferen Retter. Und Männer ebenfalls: Der tapfere Retter zu sein. Erst durch die Force Majeure, durch die höhere Gewalt wird dieses traditionelle Thema von Ruben Östlunds Geschichte aufgebrochen. Denn diese höhere Gewalt sorgt – wie sonst so üblich – nicht für die klassische Läuterung des vermeintlichen Helden, sondern dafür, dass die Talfahrt erst so richtig beginnt. Tomas kann sich in dieser Geschichte nicht beweisen, weil er dieser traditionell ambivalenten Rolle – dem abwesenden und wieder ankommenden Retter – nicht entspricht. Und das ist ein Schock für alle Beteiligten.

Die beiden Pole, zwischen denen sich Force Majeure thematisch bewegt, wären damit gesetzt: Zum einen die tragikomische Geschichte eines sehr traditionellen, – Hand aufs Herz – antiquiert und anachronistisch wirkenden Geschlechterkonflikts, zum zweiten eine bissige Satire auf diesen Konflikt und die damit einhergehenden verstaubten Rollenklischees. Ob man Ruben Östlund die Dekonstruktion der Stereotype abkauft, hängt eng damit zusammen, ob man die zweite Ebene des Films sieht, beziehungsweise, wenn man sie sieht, als der Handlung untergeschoben akzeptiert. Denn in der Tat sind die satirischen Spitzen, die hier in die Tradition gepikst werden, mitunter so subtil, dass man sie für ein Missgeschick in einer sehr traditionalistischen Erzählung halten könnte. Höhere Gewalt ist eine bissige Satire, die sich gekonnt als Tragikomödie tarnt. Diese Tarnung gelingt so gut, weil die Figuren nie vorgeführt werden: Stattdessen lässt sich der Film viel Zeit, sie mit einem lakonischen Blick einzuführen, ihnen mit neutraler Gestik zu folgen, und gibt ihnen genau dadurch genug Raum, um sich selbst ins Messer zu werfen. Trocken ist der Humor, der dabei eingesetzt wird, manchmal so staubtrocken, dass das Publikum kaum genug Atemluft zum Lachen hat. Nicht selten erinnert das an das Vexierspiel zwischen Tragik und Komik von Ulrich Seidl oder den bösartigen, tragischen Umgang mit satirischen Noten von Michael Haneke. Ebenso wie bei zweiterem wird der Humor auch immer wieder durch schmerzhaft realistische, tragische und zum Fremdscham einladende Momente, unterminiert. Was ihn aber letzten Endes erfolgreich sein lässt, ist die Eleganz, mit der die Inszenierung ihre eigene Geschichte persifliert: Wenn es schließlich doch Raum für große (männliche) Heldentaten gibt, werden diese mit maximalem Pomp inszeniert, bis man gar nicht mehr anders kann als das spitzbübische Grinsen dahinter zu sehen. Gerade die besonders tragischen, auf pure Emotionalisierung ausgelegten Szenen werden im Kontrast zum sonst lakonischen Tonfall derart überspitzt, dass sie all ihre Stereotypie und Idiotie als bizarren Ritus entlarven.

Hinzu kommen die Momente, die scheinbar kurzfristige Erlösung versprechen, nur um dann um so härter mit manischem Grinsen jeden Anflug von Hoffnung sabotieren: Ein vermeintlich kathartischer emotionaler Ausbruch entpuppt sich als erbärmliches Schauspiel, ein verheißungsvoller Aprés Ski Flirt wird zur unfreiwillig komischen Bloßstellung, ein großer pathetischer Kraftakt offenbart sich als ebenso ungelenke wie überflüssige Theaterszene. Höhere Gewalt ist äußerst geschickt darin, sein Publikum immer wieder auf falsche Fährten zu locken, ihm eine traditionelle Auflösung vorzugaukeln, nur um kurz darauf doch wieder dekonstruktiv alle selbst aufgefahrenen Klischees in Frage zu stellen. Dazu gehört auch das Lavieren um das Ende der eigenen Handlung: Nach einem vermeintlichen dramatischen Höhepunkt erzählt Force Majeure einfach stoisch weiter, so als sei nichts geschehen, wackelt im wahrsten Sinne des Wortes weiter gelassen über die Straße, ohne genau zu wissen, wann er denn nun einen finalen Cut setzen will. Diese ironische Haltung zum eigenen Sujet, zur eigenen Narration und Motivik sorgt dann auch dafür, dass es sich mitunter fast so anfühlt, als seien hier zwei erzählende Stimmen zu hören: Eine, die ihre traditionelle Tragikomödie zu einem wohlwollenden Abschluss bringen will, eine, die ihr dabei immer wieder in die Parade fährt. Höhere Gewalt hat den Schabernack auf seiner Seite und den Schalk im Nacken, lockt sein Publikum mit einem traditionellen Konflikt und lässt diesen mit trockener Miene auf verbogenen Serpentinen ins Leere fahren: Ein Film, der auf den ersten Blick nicht originell sein mag, auf den zweiten aber verdammt viel Gehässigkeit, Lust am Frotzeln und am Aufbrechen von gemütlichen Sicherheiten offenbart. Angenehm ist das nicht immer, aber durch und durch sehenswert.

Ähnliche Artikel