Rezension zu True Story (2015)
Die literarische Reportage ist Fluch und Segen des Journalismus unserer Zeit: Gelingt sie, ist sie eine großartige Verbindung von Faktenbasiertem, Dokumentarischen auf der einen und großem, emotionalen Storytelling auf der anderen Seite, misslingt sie, wird sie zum puren Erzählkitsch ohne Bezug zum journalistischen Auftrag. Und dann gibt es natürlich noch die dritte Ebene, in der die literarische Reportage nicht einfach misslingt, sondern gezielt als Betrug am Leser eingesetzt wird. So auch im Falle Michael Finkel, der 2002 seinen Job bei der New York Times wegen einer teilweise erdichteten Geschichte über Sklaverei im heutigen Afrika verlor. Die Geschichte geht aber noch ein bisschen weiter und rund um Finkel entwickelte sich eines der spannendsten Krimidramen des US New Journalism seit Truman Capotes Recherchen zu Kaltblütig (1965). Der Film True Story (2015) von Rupert Goold, der auf Finkels aus dieser Geschichte entstandenem Roman basiert, versucht die damaligen Ereignisse nachzuzeichnen.
Die Geschichte setzt mit der Entlassung Michael Finkels (Jonah Hill) ein. Sein ursprünglicher Plan ist es, den Job- und Gesichtsverlust nicht einfach hinzunehmen, sondern sich mit Hilfe von alten Kontakten zu rehabilitieren. Viel Zeit hat er dazu jedoch nicht, da eine ungewöhnliche, ihn direkt betreffende, Geschichte dazwischenfunkt. Der dreifache Familienvater Christian Longo (James Franco) wird verdächtigt seine Frau und alle drei Kinder umgebracht zu haben. Auf der Flucht aus den USA hatte sich der mutmaßliche Mörder stets als Finkel ausgegeben. Nicht nur namentlich, Longo nutzte die gesamte Identität des Journalisten, und schien dabei erstaunlich viel Wissen über dessen Berufs- und Privatleben zu besitzen. Nun sitzt Longo im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess. Fasziniert von dem Mörder und Betrüger trifft sich Finkel persönlich mit ihm und plant die Gespräche journalistisch und literarisch zu verarbeiten. Longo offenbart sich als intelligenter aber auch geheimnisvoller Mann, der Finkel verspricht, ihm alles zu geben, was er für seine Reportage braucht. Im Gegenzug will er von Finkel lernen, so überzeugend und vereinnahmend zu schreiben wie sein großes Vorbild. Finkel stimmt zu, nichtsahnend auf welches gefährliche Spiel er sich damit einlässt.
Eine solche True-Crime-Konstellation besitzt natürlich erst einmal eine Menge Potential, gründlich in die Hose zu gehen. Egal wie der Film es macht, er kann es eigentlich nur falsch machen. Entweder ist er zu trocken, zu nüchtern und zu nah an der Realität und kann so nie zum voll ausgewachsenen Thrillerdrama werden. Oder er ist zu dramatisch, zu sehr drüber und verliert dadurch jede Ambivalenz, die die Realität nunmal einfach mit sich bringt. Umso erstaunlicher ist, dass Rupert Goolds Inszenierung der Balanceakt zwischen Realität und dramatischer Überhöhung äußerst gut gelingt. Ohne Zweifel hat sich Goold dabei ordentlich von Bennett Millers Meisterwerk Capote (2005) inspirieren lassen, das sich gut zehn Jahre zuvor bereits mit den Möglichkeiten und Gefahren des literarischen Journalismus auseinandersetze. Wo das große Vorbild allerdings emotional und empathisch war, schlägt True Story mit Eiseskälte zu. Es geht ihm im Gegensatz zum Seelenverwandten nicht um Empathie für den Autoren und die Kriminellen, es geht ihm nicht um den Kampf zwischen Gefühl und Verstand, stattdessen versteht sich True Story als mitunter ziemlich makabere Sezierung psychologischer Natur. Lange ruht die Kamera auf den Gesichtern der beiden Protagonisten, die stets darum bemüht scheinen, nicht zu viel von sich preiszugeben und in kleinsten Gesten und Mimiken doch sehr viel tiefgreifendes über sich verraten. True Story ist fasziniert von seinen Charakteren, zugleich aber auch immer distanziert, mitunter sogar angewidert, wirklich Verständnis indes bringt er ihnen nicht entgegen.
Und dennoch gelingt es ihm, mit all der fast schon wissenschaftlichen Distanz, mit all der Trockenheit und all dem Voyeurismus ein packendes menschliches Drama zu erzählen. Das liegt natürlich am herausragenden Spiel von Jonah Hill und James Franco, die sich hier als scheinbar ungleiche Kontrahenten ein packendes Psychoduell liefern. Und das tatsächlich derart subtil, vorsichtig und abtastend, dass auch der Zuschauer lange im Dunkeln gelassen wird über die Motivik der beiden ambivalenten Figuren. Gott sei Dank geht True Story beim Auflösen seiner Fäden nicht den Weg des geringsten Widerstands: Wer eine lückenlose Aufklärung des Falls, eine 100%ige Erklärung und klare Antworten auf alle aufgeworfenen Fragen erhofft, wird hier enttäuscht werden. True Story gelingt es trotz aller Spannung und Dramatik vage genug zu bleiben, um nie den Boden der Realität unter den Füßen zu verlieren.
Wenn man ihm an dieser Stelle etwas vorwerfen kann, dass er zumindest vordergründig zu ambivalent, zu sehr schwankend und schwanend daherkommt und zu spät einen wirklich roten Faden findet. Dieser hat es dann aber in sich, kontrastiert er doch auf raffinierte – und bitterböse – Weise das ambivalente Verhältnis des journalistischen Storytellings zur Wahrheit mit der Manipulation von Justiz und Öffentlichkeit im amerikanischen Rechtssystem. Dadurch wird er vor allem im letzten Viertel zu einem fast schon unangenehmen Vexierspiel um Lug und Trug, um Opportunismus und Selbstbetrug, und um die Macht einer guten Geschichte und die ethischen Probleme, die damit einhergehen. Die narrative Gewalt von Capote besitzt er dabei zwar nicht, dafür aber enorm viel Spürsinn und Mut, auch unbequeme narrative und thematische Wege einzuschlagen. Wer sich mit New Journalism, journalistischem Storytelling, literarischen Reportagen oder ganz allgemein Medienethik auseinandersetzt, sollte diesen Film unbedingt gesehen haben.