Die besten Filme 2018: Mid90s von Jonah Hill

Laut der 20-Jahr-Regel für kulturelle Revivals bewegen wir uns in Zyklen von ungefähr – oder ziemlich genau – 20 Jahren, nach denen vergangene kulturelle Epochen wiederentdeckt werden. Zumindest für das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert sind diese kulturellen Wiedergänger ziemlich offensichtlich. Die 70er Jahre wiederbelebten den Rock N Roll Spirit der 50er Jahre und dienten wiederum als Blaupause für die frühen 90er Jahre, die zudem das 70er Slasher-Genre wieder aufleben ließen. Und wer könnte das enorme 80er Revival der frühen 2000er vergessen, in dem so ziemlich alles aus der damaligen Zeit wieder aufgewärmt wurde, vom Postpunk bis zum Zombie- und Splatterkino. Dieses 20-Jahr-Revival schien aber deutlich länger anzudauern als die vorherigen. Das wäre im Grunde genommen nicht so schlimm, ließe dafür nicht das große 90er-Revival so lange auf sich warten. Wie viele andere in den frühen – oder mittlern – 80ern Geborenen sehne ich mich gefühlt schon viel zu lange nach dem großen Comeback von Grunge, Alternative Rock und Skate- und Surfpunk (während ich auf das Eurodance- und Nu-Metal-Revival gut und gerne verzichten kann). Aber nichts da. Stattdessen schienen Serien wie Stranger Things, Filme wie Driver und Produkte wie das NES Classic Mini die 80er Nostalgiewelle endlos weiter auszudehnen. Mehr noch, die frühen 90er wurden beim nächsten Revival anscheinend einfach übersprungen, klopfen doch mit Serien wie – dem äußerst kurzlebigen Netflix-Produkt – Everything Sucks (2018) bereits die mittleren und späten 90er Jahre zaghaft an. Nun gut, man nimmt, was man kriegen kann. Besser ein halbes Revival als gar keins; vor allem wenn es so realistisch und einnehmend daherkommt wie Jonah Hills Regiedebüt Mid90s (2018). Das betont in seinem Titel bereits derart aggressiv seinen Revivalcharakter, dass es allein das Zeug hat, die 80er-Nostalgie ein für alle mal zu beenden.

Der 13jährige Stevie (herausragend: Sunny Suljic) lebt im Jahre 1996 zusammen mit seinem älteren Bruder Ian bei ihrer alleinerziehenden Mutter Dabney in Los Angeles. Obwohl sein Zimmer noch mit Relikten der Kindheit bepflastert ist, sehnt sich Stevie nach einem Ausbruch aus dem bekannten Rahmen. Die Möglichkeit zu diesem Ausbruch sieht er in einer Clique, rund um die talentierten Skater Ray (Na-kel Smith) und Fuckshit (Olan Prenatt). Dank seiner offenen und zugleich unbedarften Art findet Stevie schnell Anschluss an die Gruppe, erhält den Spitznamen Sunburn und beginnt sich mit seinen neuen Freunden auf den Straßen von L.A. rumzutreiben. Dazu gehört nicht nur Skaten, sondern auch erste Alkohol- und Drogenerfahrungen, sexuelle Kontakte und Konflikte mit der Obrigkeit. Dabney währenddessen beobachtet die Entwicklung ihres Sohne mit großer Sorge.

Die 90er Skaterszene als Blaupause für eine problematische Coming-of-Age-Geschichte? Kommt irgendwie bekannt vor: Tatsächlich erinnert Jonah Hills Regiedebüt in vielen Momenten an Larry Clarks düsteres Teenager-Diorama Kids (1995) (Die kontroversen Filme der 90er Jahre). Und doch gibt es signifikante Unterschiede: Nicht nur, dass Mid90s nicht in New York, sondern an der Westküste der USA spielt, sein ganzer Ton ist auch deutlich ambivalenter und lichter als der dystopische und moralinsaure Kids. Jonah Hill versteht sich nämlich ausgezeichnet darin, sowohl Licht- als auch Schattenseiten seiner Jugendlichen zu erzählen. Mehr noch, sowohl Bildinszenierung als auch Storytelling verzichten praktisch komplett auf Wertung, und wenn diese stattfindet, dann meistens offensichtlich durch die Brillen der Akteure und auch dann wiederum meist schon in der nächsten Szene dekonstruiert. So offenbart sich der aggressive und unsympathische Ruben schnell als Opfer häuslicher Verwahrlosung und Gewalt, der komplett neben der Spur wirkende Fuckshit sehnt sich einfach nach Freundschaft und Zusammenhalt und der zurückgeblieben scheinende Fourth Grade stellt sich als sensibler Künstler heraus. Bis zum kleinsten Nebencharakter herunter ist Mid90s ein wunderbar nuanciertes Generationenporträt, das nie versucht, seine Charaktere zu pauschalisieren, sondern ihnen immer genug Raum zum individuellen Atmen gibt.

Neben dieser feinfühligen psychologischen Charakterzeichnung überzeugt auch die gesamte Inszenierung, die stets zwischen Realismus und Romantisierung oszilliert, jedoch nie zu sehr auf eine Seite kippt. Ja, Mid90s hat die Nostalgie mit an Bord (unter anderem im konsequenten 4:3 Bildformat), labt sich auch an seinem Soundtrack, seiner Skater- und Indie-Ästhetik, kann aber auch nüchtern, roh und sogar abschreckend sein. Vorwerfen kann man dem Film allenfalls, dass er wieder einen sehr männlichen Blick auf die Vergangenheit evoziert. Nicht nur dass der – durch die Bank überzeugende – Cast nur aus männlichen Teens besteht, auch wird klassisches maskulines, machoistisches Verhalten nicht nur reproduziert sondern immer auch gefeiert. Man sieht dem Film durchaus ein Bemühen an, klassische stereotype Verhaltensmuster in Frage zu stellen (unter anderem in einer Szene, als er ganz ähnlich wie Kids, das Sexgeprotze der Jungs mit dem Sex-Talk der Mädchen parallel montiert), diese Momente sind dann aber doch zu selten, um den affirmativen Blick hier aufzubrechen. Das ist vor allem deshalb enttäuschend, weil sich Jonah Hill in der Vergangenheit explizit zu diesem Thema äußerte: „I thought it would be way more disrespectful to change history than to show it just as it was, and let the audience see how ugly it feels.“, sagte er in diesem Zusammenhang über Mid90s. Ja, das ist dem Film partiell gelungen, und doch ist es ein bisschen zu wenig, ein bisschen zu harmlos umgesetzt, was bei einem solchen inszenatorischen Balanceakt allerdings auch nicht überrascht.

Ein abschließendes Wort noch zu Jonah Hill: Der war ohnehin viel zu lange ein viel zu oft übersehener Schauspieler, dessen Talent in – guten wie schlechten – Komödien verheizt wurde. Nachdem er in den letzten Jahren in verschiedenen Rollen beweisen durfte, wie viel er als Schauspieler draufhat, beweist er mit Mid90s, dass er auch ein enorm vielversprechender Regisseur ist. Es bleibt zu hoffen, dass ihm die Balance zwischen Spiel und Inszenierung gelingt. Denn so sehr man ihn als herausragenden Actor nicht missen möchte, so sehr möchte man auch in Zukunft weitere Regiearbeiten von ihm sehen. Mid90s jedenfalls ist ein herausragendes Erstlingswerk, sowohl für die Realisten als auch die Nostalgiker und womöglich auch für die, die den 90er-Jahre-Zeitgeist nie selbst miterlebt haben. Weitaus mehr als ein hübsches Revival, einer der besten Filme des Jahres 2018.

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