Die besten Filme 2019 – Systemsprenger: Realismus und Expressivität

Benni ist neun. Benni ist unberechenbar. Benni hat einen langen Weg hinter sich, scheint aber nie irgendwo anzukommen. Und für Benni scheint es auch keine Hoffnung zu geben. Aber das sind bloß Sätze, Versuche der Charakterisierung, die ins Leere laufen. Um Bennis Verhalten zu verstehen oder wenigstens ein bisschen einordnen zu können, muss man es erlebt haben. Und nichts anderes macht Systemsprenger (2019) von Nora Fingscheidt: Er stellt nicht einfach dar, zeigt und charakterisiert nicht einfach Bennis Innenleben und Bennis Kampf mit sich selbst und der Außenwelt. Er macht dies zum Erlebnis. Nicht zu einem jener Erlebnisse, bei denen man genüsslich sein Popcorn in sich hineinstopft und nebenbei ein bisschen Sozialporno geliefert bekommt; nein, eines jener Erlebnisse, die ihre Zuschauer – oder besser gesagt ihre Erfahrenden – in den Kinosesseln drücken, sie durchschütteln, durchrütteln und auf sie einprügeln, so dass ihnen Hören und Sehen vergeht. Benni – fantastisch gespielt von Helena Zengel – leidet an sich, an der Welt und entzieht sich zugleich allen Rettungsversuchen. Wen sie allerdings brutal in ihre Welt hineinzieht, sind die Zuschauerinnen: Sei es durch die Farben, sei es durch den hektischen Schnitt, sei es durch ihre bloße Präsenz. Bennis Innenleben ist nicht den ganzen Film über präsent, wenn es das ist, gibt es allerdings kein Entkommen.

Nora Fingscheidt weiß um die Macht der Bilder und das Auflösen jeglicher Distanz. Und daher setzt sie diese Möglichkeit auch sehr behutsam ein. Es soll dem Zuschauer nicht so gehen wie dem Sozialarbeiter Micha (Albrecht Schuch), der irgendwann im Laufe des Films zugeben muss, jegliche Distanz verloren zu haben und nur noch von (hoffnungslosen) Rettungsfantasien angetrieben zu werden. Denn das diese vergebens und daher auch kontraproduktiv sind, steht zu praktisch jedem Zeitpunkt fest. Der Zwiespalt zwischen Empathie und Professionalität begleitet nicht nur die zweite zentrale Figur neben Benni den gesamten Film über sondern auch alle anderen Charaktere und den Film selbst. So ekstatisch sich dieser bisweilen in das Innenleben Bennis stürzt, so intelligent gelingt es ihm sonst sich von diesem zu distanzieren. Denn neben dem Erlebnis ist Systemsprenger auch ein realistisches Sozialdrama, nicht selten tief in der Berliner Schule verwurzelt. Und das bedeutet, Naturalismus und Ambiguität sind nicht nur Option sondern Glaubenssystem. Dementsprechend gibt es keine Zyniker und Zynikerinnen, keine Bösewichte und auch keine einfachen Problemlösungen. Benni als Systemsprenger, als außerordentliches Energie- und Wutbündel wird alles entgegengeworfen, was die Kinder-, Jugend- und Sozialarbeit auffahren kann. Auch wenn sie wegen ihrer Unkontrollierbarkeit schon aus diversen Einrichtungen und Schulen geflogen ist, gibt niemand auf: Die engagierte und liebevolle Betreuerin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide), die ehemalige zu einem zweiten Anlauf bereite Pflegemutter Silvia (Victoria Trauttmansdorff) und auch die Psychiaterin Dr. Schönemann (Melanie Straub). So überfordert die Profis mit Benni mitunter sind, so sehr wollen sie ihr dennoch helfen und sie nicht einfach abschreiben.

Selbst Bennis Elternhaus – zum großen Teil als Ursprung ihrer Wuteskapaden gezeichnet – wird nicht eindimensional schwarz gemalt. Da ist Bennis überforderte Mutter Bianca (Lisa Hagmeister), die ihr Kind beschützen will, gleichzeitig aber auch Angst vor ihm hat. „Mama hasst mich“, sagt Benni in einem ihrer ruhigeren, introspektiven Momente. In diesem Moment fällt all der Zorn Bennis in purer Traurigkeit zusammen. Im Grunde genommen sehnt sich Benni nach einer Mutterliebe, die sie wohl einst erfahren hat und die schon vor langer Zeit verschwunden ist. Als kleines Kind musste Benni anscheinend schrecklichen Missbrauch erfahren: Frau Bafané spricht von Windeln, die ihr ins Gesicht gedrückt wurden, wodurch sie Berührungen dort kaum ertragen kann. Alles andere bleibt nebulös: Es scheint Probleme mit Partnern der Mutter gegeben zu haben. Wurde Benni stundenlang im Schrank eingesperrt? Wurde sie geschlagen? Sexuell missbraucht? Der Film bleibt vage, wenn es darum geht, zu erklären, warum Benni ist wie sie ist. Und dennoch lädt er das gesamte Benni-Paket auf seinem Publikum ab: Wenn Benni in ihren Rausch kommt, erlebt sie unangenehme Flashbacks, böse Bilder voller Lärm und Gewalt flirren umher, die Umgebung färbt sich in knalliges Rosa, in dunkles Rot. Die Farben explodieren so wie die Kadrage des Bildes. Jump Cuts und gewaltige Zeitsprünge zeugen von Kontrollverlusten und Blackouts. War Systemsprenger eben noch ein naturalistisches Drama, wird er in diesen Momenten zum expressiven, expressionistischen Trip, mit einer herausragenden Inszenierung, die direkt ins Bewusstsein der Protagonistin führt.

Dass die Erziehungstragödie in beiden Fällen eine unheimliche Wucht besitzt, ist alles andere als selbstverständlich: Aber Fingerscheidt gelingt es zu verhindern, dass Systemsprenger in seinen realistischen Momenten zum drögen, distanzierten deutschen Drama wird. Ebenso wird er in seinen expressiven Momenten nie zum selbstzufriedenen Kunstwerk, das sein Sujet aus den Augen verliert. Egal ob im realistischen oder artifiziellen Rahmen, die emotionale Verbundenheit zu seinem Thema geht Systemsprenger immer vor. Und was ist der Kern dieser emotionalen Verbundenheit? Wie es bei dem Thema nicht anders zu erwarten war, ein ziemlich harter: In seiner emotionalen Grundstruktur ist Systemsprenger zutiefst traurig, pessimistisch und leider auch hoffnungslos. So sehr man der Geschichte ein Happy End oder wenigstens irgendeine Form von Fortschritt wünscht, so sehr weiß man, dass einem dieser Wunsch nicht erfüllt wird. Jede noch so positiv scheinende Entwicklung verläuft sich irgendwann ins Leere: Sei es, weil bei allen Beteiligten irgendwann doch die Überforderung durchschlägt, sei es weil Benni bei dem kleinsten Problem gleich wieder komplett dicht macht oder sei es, wie in der zentralen Geschichte um Bennis Beziehung zu dem Sozialarbeiter und Antiaggressionstrainer Micha, weil die äußeren Umstände eine positive Entwicklung sabotieren. Dementsprechend scheint der Titel fast zweideutig zu sein: Benni ist als Systemsprenger charakterisiert, weil ihr scheinbar nicht zu helfen ist. Gleichzeitig offenbart sie als Systemsprengerin aber auch die Fehler und Risse des Systems, die sich sonst verbergen lassen. Das macht die hier zu erlebende Erfahrung umso eindringlicher: Weil die Radikalität Bennis alle zum Scheitern zwingt: Die Psychiatrie, die Psychologie, die Jugendhilfe, die Schulen und Erziehungsanstalten, die Heime, die Familien und alle Helferinnen; in erster Linie aber Benni selbst, nicht nur an sich, sondern auch an dem System und seinen zahllosen versteckten und offensichtlichen Fehlern.

So ganz lässt Systemsprenger aber sein Publikum nicht im Regen stehen. Denn zwischen all diesem Pessimismus bietet er ihm Momente atemberaubender trauriger Schönheit, oder schönen Traurigkeit, die wie melancholische Inseln etwas Halt im Meer der Hoffnungslosigkeit geben. Wenn Benni sich an einfachste – und dennoch extrem wirkmächtige – Liebesbekundungen ihrer Mutter erinnert, wenn sie mit überraschender Empathie ihre Betreuerin tröstet, die versucht ihre Niedergeschlagenheit vor dem Schützling zu verbergen. Wenn Micha und Benni gemeinsam einen Moment innehalten und dadurch die ganze Welt stehenzubleiben scheint, und auch in den Momenten, in denen Benni selbst die Ausweglosigkeit ihrer Lage begreift und das System mit – im wahrsten Sinne des Wortes – bewussten Sprüngen zum Zerbersten bringt. Das mag man für eine plumpe Strategie halten, das Unerträgliche erträglich zu machen. Aber diese Momente kommen immer genau dann, wenn sie der Film am nötigsten braucht, und darüber hinaus erfüllen sie auch eine wichtige Funktion: Sie versöhnen den artifiziellen, expressiven Blick in Bennis Seelenleben mit dem realistischen, mitunter auch trockenen Blick auf das Bildungs- und Erziehungssystem von heute. Sie sind das emotionale, positive Band zwischen dokumentarischem und künstlerischem Anspruch, und sie sind ein wichtiges Symbol, das über dem gesamten Film steht: Letzten Endes sind wir alle Menschen; egal ob außerhalb des Systems stehend oder als Teil davon, egal ob systemerhaltend, systeminfragestellend oder systemsprengend. Mit diesem Kitt ist Systemsprenger ein zutiefst humanistisches Werk, ein Film der den Menschen nicht nur kritisch betrachtet sondern auch versteht und sogar feiert. Am Ende scheint nichts mehr intakt, es ist so gut wie alles am System zerbrochen, aber in all diesem Chaos scheint etwas Menschliches überlebt zu haben. Und das ist weitaus stärker als alles, was niedergerissen wurde.

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