Genrekino für Kinder: Geht das? Das geht! Das Haus der Krokodile aus dem Jahr 2012

Genau fünfzig Jahre ist die Vorlage alt. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass diese verfilmt wurde. Im Jahr 1971 erschien Helmut Ballots Kinder- und Jugendroman Das Haus der Krokodile. Und 1976 wurde die Geschichte in einer sechsteiligen Serie verfilmt, mit niemand geringerem als Thomas „Tommi“ Ohrner, der drei Jahre später als Timm Thaler sein Lachen an den Teufel verkaufen sollte. Kleiner Disclaimer gleich vorweg, ich kenne weder die Vorlage noch die Serienumsetzung aus den 70er Jahren. Um ehrlich zu sein wusste ich nicht einmal, dass diese existierten, als ich ziemlich unbedarft Das Haus der Krokodile (2012) für mein Kind in die Prime-Playlist geschoben habe. Hätte ich von deren Existenz gewusst, hätte ich mir höchstwahrscheinlich die Frage gestellt, ob eine so alte Geschichte glaubwürdig ins 21. Jahrhundert übersetzt werden kann, also so glaubwürdig, dass auch die Kids von heute nicht gelangweilt mit den Augen rollen. Und das ist nicht einmal die wichtigste Frage, die sich angesichts von Cyrill Boss‘ und Philipp Stennerts Film stellt. Die wäre eher: Wie viel Mystery und Grusel, wie viel Film Noir und Thriller ist in einem Kinderfilm möglich? Oder andersrum, wie viel Familienfreundlichkeit vertragen diese Genres? Die Antworten darauf sind durchaus überraschend.

Familie Laroche zieht in eine Wohnung im alten, pittoresken Anwesen eines entfernten Verwandten. Der jüngste Spross der Familie, der elfjährige Viktor (Kristo Ferkic), fühlt sich angezogen von dem geschichtsträchtigen Gebäude und insbesondere von dem zahllosen Tand, der sich in den unbewohnten Zimmern des neuen zu Hauses befindet. Bei seinen Streifzügen durch die Erbstücke erblickt er plötzlich einen maskierten Einbrecher. Auch wenn seine beiden älteren Schwestern (Joanna Ferkic, Vijessna Ferkic) ihm einzureden versuchen, dass es sich um eine Täuschung gehalten hat, forscht Viktor dem vermeintlichen Diebstahl hinterher und stößt dabei auf die geheimen Aufzeichnungen von Cäcilie, ein Mädchen, das vor vielen Jahrzehnten in dem Anwesen auf tragische Weise ihr Leben verlor. Offensichtlich hat sie der Nachwelt geheime Botschaften hinterlassen: Die Karte zu einem Schatz, aber auch düstere Bilder, die von unheimlichen Vorahnungen zeugen. Irgendetwas scheint in der Familienvilla nicht mit rechten Dingen vorgegangen zu sein, irgendetwas scheint immer noch nicht mit rechten Dingen vorzugehen. Die strenge Hausverwalterin Frau Diebisch (Gudrun Ritter) verhält sich ebenso suspekt wie ihr tölpelhafter Sohn (Christoph Maria Herbst) und der mysteriöse Untermieter Herr Strichninsky (Waldemar Kobus). Geheimnisse wollen gelöst, ein Verbrechen will aufgeklärt werden.

Es ist kein Zufall, dass sich diese Geschichte so gar nicht wie Kinder- und Familienunterhaltung sondern viel mehr wie ein Detektivroman der schwarzen Schule liest. Denn genau das ist Das Haus der Krokodile in seinem Kern: Ein Neo Noir, ein Detektivfilm, auch ein wenig ein Murder Mystery Puzzle, und das nicht nur narrativ sondern auch inszenatorisch. Eigentlich existiert ja eine inoffizielle Checkliste für pädagogisch wertvolle und vor allem altersgemäße Filme, und alles auf dieser Liste schreit „Haltet euch vom Mystery- und Gruselkino fern!“. Viel zu düster, viel zu unheimlich, viel zu gewalttätig, viel zu ernste Themen, viel zu belastend für die jüngsten Zuschauer*innen. Gute Neuigkeiten: Im Gegensatz zu den meisten anderen Kinderfilmen, die da draußen rumfliegen, ignoriert Das Haus der Krokodile diesen weisen Rat gänzlich. Er bedient sich ausführlich und mit viel Liebe bei zahllosen Vorbildern, die man gemeinhin eher dem „erwachsenen“ Kino zurechnen wäre. Natürlich wäre da als erstes die Struktur, die einer klassischen Murder Mystery Detektivgeschichte entspricht: Es gibt eine Menge Rätsel, eine Menge merkwürdiger Ereignisse, die peu à peu entschlüsselt werden. Es gibt eine illustre Schar verdächtiger Personen, die alle ihre kleinen und großen Geheimnisse mit sich herumtragen. Auch die traditionellen Plottwists, manche größer, manche kleiner, haben sich in der Geschichte verirrt.

Aber damit gefährdet ein Kinder- und Jugendfilm natürlich noch nicht sein Zielpublikum, findet sich entsprechendes doch auch bei den drei Fragezeichen oder den Feriendetektiven. Spannender wird es schon, wenn eine deftige Portion Grusel dazugemixt wird. Die Obsession Viktors mit der verstorbenen Cäcilie trägt immer auch den Hauch einer Gespenstergeschichte mit sich. In getragenen, halb romantischen, halb mysteriösen Bildern wird immer wieder der Geist des Mädchens beschworen. Alptraumhafte Erscheinungen, mitunter ganz schön düstere Bilder tragen weiter dazu bei, dass der Film deutlich unheimlicher daherkommt, als es für das Zielpublikum erwartet werden kann. Hier taucht das Haus der Krokodile über De Palma und Hitchcock bis zum klassischen Horrorgenre hinab, so tief, dass so manche Szene verstörte kleine Zuschauer*innen zurücklassen dürfte. Das liegt auch daran, dass er im Gegensatz zu seinen Genregeschwistern nicht zurückzuckt, wenn es so richtig spannend wird. Klar ahnt man immer so ein wenig, dass nicht ganz so viel auf dem Spiel steht wie bei den älteren Genrenachbarn, aber in so manchen Situationen kann es dann doch ganz schön gefährlich werden, lebensgefährlich, und dies inszeniert der Film auch ohne Zurückhaltung. Ja, dadurch kommt es zu Szenen, die – zumindest wenn es nach so manchen Pädagogen geht – nichts in einem Film mit der Altersfreigabe ab 6 Jahren verloren haben, andererseits vermittelt das Haus der Krokodile dadurch das angenehme Gefühl, dass er sein kindliches Publikum wirklich ernst nimmt. Wie oft hat man das Gefühl, dass Kinder- und Jugendfilme jovial, paternalistisch oder gar herablassend sind, weil sie sich scheuen, ihr Publikum mit wirklicher Ernsthaftigkeit zu konfrontieren. Dieser Film läuft nie in diese Falle. Er traut sich und seinen jungen Fans einiges zu, und gehört damit zu den selten Exemplaren von Kinderfilmen, die den Horizont des jungen Publikums wirklich erweitern und es sich nicht einfach in dessen vermeintlicher Comfort Zone gemütlich machen. Damit darf er dann auch die Erwachsenen nicht nur unterhalten sondern auch bei diesen Spannung und sogar Anspannung auslösen.

Die exquisite, mit Licht und Schatten spielende Inszenierung hat einen großen Anteil am erwachsenen Look & Feel des Krokodilhauses. Die Bilder sind mit viel Liebe zum Detail inszeniert, das Set, das düstere Haus, in dem der Großteil der Geschichte spielt, ist perfekt gewählt und ausgestattet. Die Kamera setzt gezielt auf Suspense und die Musik ist pointiert gesetzt. Das Schauspiel ist exzellent, vor allem der junge Kristo Ferkic gibt seinem Viktor genau die richtige Mischung aus kindlicher Angst, kindlicher Neugier und jugendlicher Entschlossenheit mit. Ansonsten sticht vor allem Gudrun Ritter als dubiose, bösartig wirkende Hausherrin aus dem Cast hervor, während Christoph Maria Herbst für humopistische Akzente sorgen darf, ohne den Film je in Albernheit kippen zu lassen. Dafür ist das ganze Drumherum auch einfach zu düster, zu melancholisch und zu nervenaufreibend.

Das Haus der Krokodile ist mehr als nur ein exzellenter Kinderfilm. Er ist ein hervorragendes Genrewerk, ein wirklich guter deutscher Mysteryfilm (von denen es heutzutage einfach zu wenige gibt) und eine tolle Verbeugung vor den Größen des Film Noir und Thrillergenres. Und das alles dazu noch so, dass es für die gesamte Familie sehenswert ist. Auch wenn Eltern vorher wirklich ernsthaft überlegen sollten, wie viel schwere Thematik und dunkle Bilder sie ihren Kindern zumuten können und wollen, kann Das Haus der Krokodile uneingeschränkt empfohlen werden: Als einer der besten Kinderfilme der 2010er Jahre (auch über den deutschsprachigen Raum hinaus) und als beeindruckender Beweis dafür, dass das Familienkino eine Menge Genre, eine Menge Thrill und Grusel verträgt.

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