I Don’t Feel at Home in This World Anymore (2017) – Coens in XX

Die Krankenpflegerin Ruth Kimke (Melanie Lynskey) fühlt sich in dieser Welt nicht mehr zu Hause. Zurecht. Ist sie doch alltäglich konfrontiert mit der Rücksichtslosigkeit, dem Egoismus und der Aggression ihrer Mitmenschen. Und dann wird auch noch bei ihr eingebrochen und ihr Laptop sowie das geliebte Silberbesteck ihrer Großmutter gestohlen. Die Polizei scheint sich wenig um Ruths Verlust zu kümmern und so begibt sie sich selbst auf die Spurensuche nach den Dieben. Unterstützt wird sie dabei von ihrem exzentrischen Nachbarn Tony (Elijah Wood) und schon schnell kommen die beiden den mutmaßlichen Einbrechern auf die Schliche. Sie ahnen jedoch nicht, mit welch brutalem Schlag Mensch sie sich damit anlegen.

Die Coens – die mit diesem Film nichts zu tun haben – gehören schon seit Jahrzehnten zu der erlauchtesten Elite des amerikanischen Independentkinos. Ihre Filme sind schräg und zugleich immer menschlich, ihre Themen vielfältig, ihre Freude an Referenz und Spiel ist außerordentlich ausgeprägt, und immer gelingt es ihnen Bizarres mit Thrill mit Tragikomödie, einem gewissen Coolness-Faktor und einer Liebe für die Außenseiter der Gesellschaft zu kombinieren. So vielfältig und progressiv die Coens auch sind, ihr Blick ist (fast) immer ein dezidiert männlicher, und auch ihre Motivik ist stark auf ein männliches Publikum zugeschnitten. Butter bei die Fische: Die Coens machen Jungs-Filme für kleingebliebene Jungs. Mit Ausnahme der Protagonistin in Fargo bewegen sich in ihren Filmen männliche Charaktere mit männlichen Problemen und männlichen Problemlösungsstrategien, von Barton Fink bis zum Dude. Macon Blair ist offensichtlich ein großer Coen-Fan und offensichtlich ist er sich dem Mangel an Weiblichkeit in den Filmen der Meister mehr als bewusst. Denn sein Regiedebüt I Don’t Feel at Home in This World Anymore (2017) ist derart offensichtlich ein Coen-Film mit XX-Chromosom, dass man fast geneigt wäre „Plagiarismus!“ zu schreien. Macht man dann aber nicht, denn so wie die Filme der Coens trotz übermäßigem Testosteron fast durch die Bank verfluchte Meisterwerke sind, so ist auch dieser kleine wie elegante Hybrid aus Thriller und Tragikomödie trotz der verblüffenden Ähnlichkeit zu den Coen-Werken auch ein wundervolles, mitreißendes und nie zu großspuriges Indie-Juwel.

Ja, natürlich liegt das vor allem daran, weil er viel aus dem bekannten Kochbuch zusammenmixt: Zum einen ist er wunderbar skurril, steckt voller verrückter, bizarrer und einfach merkwürdiger Charaktere. Zugleich ist er aber äußerst sauber inszeniert, atmosphärisch dicht und opfert seine Spannung nie für den kurzen Lacher. Stattdessen pflegt er seinen schwarzen Humor wie einen kostbaren Schatz, und zeigt ihn wirklich nur dann, wenn es angebracht ist. Und er wird dabei auch nie bitter und zynisch. I Don’t Feel at Home in This World Anymore ist ein zutiefst ethischer Film, der nicht nur das Herz am rechten Fleck hat, sondern auch seinem Verstand humanistische Ideale induziert. So kommt es, dass er der Misanthropie permanent den Stinkefinger zeigt, dass er sich bewusst ist, wie arschig sich viele Menschen verhalten, dies aber nie dazu benutzt, ein Pauschalurteil über die Menschheit zu fällen. Dass zentrale Zitat „Ich will, dass die Menschen keine Arschlöcher mehr sind!“ gibt dabei die Stoßrichtung vor: Ja, die Welt kann ein unbarmherziger und unbequemer Ort sein, es lässt sich aber was dagegen tun. Und wenn man sich erst einmal aus der eigenen Lethargie befreit hat, stellt man auch schnell fest, wie leicht sich alles zum Guten wenden lässt (zur Not dann auch mal mit ein bisschen kriminellem Eifer und Gewalt).

I Don’t Feel at Home in This World Anymore ist ein Film über Selbstermächtigung, über den Ausbruch aus dem eigenen Elend. Und genau mit dieser Thematik gelingt es ihm dann auch, das Konzept der klassischen Thrillerkomödie (nach Coen-Schema) auf den Kopf zu stellen. Sind es dort wie bereits erwähnt fast ausnahmslos männliche Charaktere, die gegen ihre eigene Schwäche ankämpfen, so darf hier eine Frau zeigen, was für harte Eier sie in der Hose hat. Und was ist das für eine Frau: Diese Ruth ist eine großartige Kreuzung aus Post-Slacker, Gutmensch und depressivem Outsider, der genau im entscheidenden Moment eine herrliche Kaltschnäuzigkeit und viel Mut beweist. Melanie Lynskey spielt diese Ruth mit herrlichem Charme, viel Naivität und lässt sie dann peu à peu zum coolen Badass mutieren. Zur Seite gestellt bekommt sie einen wunderbar überzogen agierenden Elijah Wood, der hier – man kann es nicht anders sagen – die männliche Version eines Manic Pixie Dream Girls verkörpert: Auf kauzige Art und attraktiv, trotz skurriler Weltsicht intelligent, und mit genau dem richtigen Verhalten, um die Lebensgeister der Protagonistin zu wecken. Ob beabsichtigt oder nicht, I Don’t Feel at Home in This World Anymore vollzieht hier gekonnt einen Gender Swap, der mehr ist als ein bloßer Geschlechtsaustausch und stattdessen viel mehr mit klassischen Tropes und Motiven eines sehr männerlastigen Genres spielt.

Bei diesem ironischen Spiel bleibt der Film dankenswerterweise nicht stehen. So lange er den Spagat zwischen Noir-Krimi, Tragikomödie und Groteske auch durchhält, so vollführt er in seinem letzten Drittel doch noch mal einen harten Sprung und verwandelt sich von der liebenswerten Amateurdetektivgeschichte zum waschechten bizarren und mitunter auch ziemlich brutalen Thriller.
Als wollte er die zwischendurch verpasste Bösartigkeit nachholen, zieht er noch einmal die Daumenschrauben an und lässt seine Protagonistin auch ein wenig durch die Hölle gehen. Doch auch dabei bewahrt er sich seinen philanthropischen Blick, seine Sympathie für die Protagonistin und deren unorthodoxen Problemlösungen, die sich jenseits aller männlich/weiblich Klischees bewegen.

I Don’t Feel at Home in This World Anymore ist genau das, was er sein will: Ein kleiner, charmanter Genrebastard, der raffiniert die Topoi seiner Vorbilder greift und auf den Kopf stellt. Kein großes Kinoereignis, kein gewaltiges Meisterwerk, aber ein äußerst sympathisches Indie-Juwel, das allen Coen-Liebhabern und -Liebhaberinnen sehr viel Freude bereiten dürfte.

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