Westernwestern – „True Grit“ von den Coens

Jetzt habe ich es also doch noch geschafft. Nachdem mir von mehreren Freunden eine Enttäuschung prognostiziert wurde, nachdem ich (warum auch immer) Burn After Reading immer noch nicht gesehen habe und nachdem „No Country for old men“ nach wie vor bei meinen besten Filmen der 00er Jahre – und liebsten Coen-Filmen überhaupt – ganz oben rangiert, habe ich mir endlich den Spätwestern True Grit angesehen: Eine Adaption von Charles Portis gleichnamigem Roman, der 1969 bereits einmal mit John Wayne unter dem deutschen Titel „Der Marshal“ verfilmt wurde. Eine klassische Westernvorlage also, und bei den Coens darf man damit doch mindestens die Dekonstruktion eines gesamten Genres erwarten, wenn nicht sogar mehr…

Nachdem ihr Vater ermordet wurde, kommt die 14jährige Mattie (Hailee Steinfeld) nach Fort Smith in Arkansas um die Überführung dessen Leichnams und verschiedene andere Dinge zu regeln. Aber das vorlaute, altkluge Mädchen hat weitaus mehr im Sinn. Wie sie erfahren hat, ist der notorische Verbrecher Tom Chaney für den Tod ihres Vaters verantwortlich. Da ihre Mutter hilflos und ihr jüngerer Bruder zu klein ist, beschließt sie, dass sie die einzige in der Familie ist, die den Tod des Clanoberhauptes rächen kann. Zusammen mit dem trunksüchtigen und kaltblütigen Marshall Reuben Cogburn (Jeff Bridges) macht sie sich auf ins Indianergebiet, um den entflohenen Mörder zu stellen und ihm die gerechte Strafe widerfahren zu lassen. Begleitet werden die beiden vom selbstverliebten Texas Ranger LaBoeuf (Matt Damon), der schon lange auf der Jagd nach Chaney ist, da auf diesen ein hohes Kopfgeld ausgesetzt wurde.

Eine Vierzehnjährige im kargen Norden Amerikas auf der Suche nach Vergeltung und Gerechtigkeit? Dies kann im Prinzip nur die Disposition für eine Dekonstruktion zahlreicher Westernlegenden sein. Vor allem wenn die Coens ihre Hand im Spiel haben, die mit „O Brother, where art thou“ (Die besten Komödien der 00er Jahre) der Odyssee ein absurdes neues Gewandt verpasst und mit „No Country for old men“ einen düsteren Anti-Thriller aufs Parkett gelegt haben. Dass es doch ganz anders kommt, ist sowohl überraschendes Moment als auch große Stärke von „True Grit“. Denn während der Prolog des Films Dank des naturalistischen Settings und des grimmigen Humors der Coens noch wie eine Umwertung aller traditionellen amerikanischen Legenden und Werte daher kommt, wird von Minute zu Minute deutlicher, dass diese hier einen klassischen, fast schon prototypischen Neo Western inszenieren. Alle Ingredienzien des Genres sind vorhanden…. und zwar von dessen Anfängen bis heute.

Das Offensichtliche ist erst einmal die Orientierung am Spätwestern New Hollywood’scher und 90er Jahre Prägung. Die Darstellung des traditionellen Revolverhelden als versoffenem, alt und lethargisch gewordenen Strauchdiebes, wie sie in Filmen wie Erbarmungslos zum Tragen kommt. Das naturalistische Setting, das auf das Pittoreske des klassischen Hollwoodwesterns verzichtet und stattdessen den Schmutz und die Kargheit gegen irrtümliche Wildwestromantik ausspielt. Die revisionistischen Züge durch eine akribische Abbildung der amerikanischen Realität des 19. Jahrhunderts. Ebenfalls zwei Elemente, die spätestens seit den 70ern und New Hollywood zum guten Ton des Western Genres gehören. Aber „True Grit“ ist eben nicht bloß Spätwestern, sondern geht über diese Genreentwicklung hinaus und generiert sich dabei mitunter fast schon erschreckend regressiv. Denn die Inszenierung der Verbrecherjagd offenbart sukzessive durch und durch traditionelle Züge. Angefangen bei den Blenden, mit denen zeitliche Distanzen und Reisen durch weite, karge Landschaften überwunden werden, über den Einsatz der Musik, über den streckenweise fast schon naiven Pathos bis hin zur dargestellten Entwicklung der Hauptfiguren. Diese dürfen genreprototypisch ihre Stärken und Schwächen erst nach und nach offenbaren. Die Schwachheit vermeintlicher Rauhbeine wird aufgedeckt, vordergründige Versager entwickeln sich zu großen Helden, die Jugendliche wird wird erwachsen, wächst über sich selbst hinaus und neben den Protagonisten werden die Antagonisten und Nebenakteure eher zur Staffage, als dass sie tatsächlich größere Profile entwickeln dürften. Das sind nicht nur westerntypische Elemente, sondern sie werden ebenso ästhetisch westerntypisch inszeniert, von den ausufernden, epischen Totalen bis hin zu den extremen Nahen, die in Augenblicken ganze Lebenswege einfangen. In dieser Anhäufung von Bildern und Motiven wird True Grit weniger zur Reflexion als viel mehr zur Exegese des Genres, zu einem Westernwestern, wenn man so will, zu einem Spätwestern, der das Genre umarmt, liebkost, anstatt es zu dekonstruieren oder gar zu destruieren.

Dass dieser dreiste Westerneklektizismus dennoch wunderbar funktioniert, liegt zum einen am herausragenden Cast. Hailee Steinfeld spielt ihre Rolle äußerst ambivalent und facettenreich. Vermutet der Zuschauer zu Beginn noch eine klassische „Erwachsene im Körper eines Kindes“-Überinszenierung, wird dieser Eindruck peux a peux gebrochen. Steinfeld gibt ihrer Protagonistin neben der vordergründigen Kaltblütigkeit und dem altklugen Verhalten genug Schwächen und Ängste mit auf den Weg, so dass man ihr sowohl die verantwortungsbewusste, zum erwachsenen Handeln gezwungene Jugendliche genau so abkauft wie das verschüchterte, mitunter überforderte Kind. Jeff Bridges spielt hier mal wieder eine seiner Paraderollen: Wunderbar knochig, kauzig und urig. Nicht nur die Maske sitzt hier perfekt sondern ebenso jede Mimik des von Schmutz und Lethargie gezeichneten Gesichts. Den darstellerischen Höhepunkt leistet allerdings tatsächlich Matt Damon, der als selbstverliebter, arroganter und zugleich facettenreicher Texas Ranger überzeugen darf. Inklusive überzeichneter Clownerie und unerwartet offenbartem Heldenmut. Daneben gehen die Nebencharaktere schon ein wenig verloren, werden wie angesprochen zur – nahezu profillosen – Staffage, auch wenn Josh Brolin (No Country for old men) in seinen viel zu seltenen Auftritten als vom Leben geschundener, leicht retardierter Strauchdieb und eiskalter Mörder mit ambivalenten Zügen zu begeistern vermag.

Der zweite Grund für das ausgezeichnete Funktionieren des Films ist die pure Inszenierungsfreude der beiden Coen Brüder. Trotz gängiger Klischees gelingt es den Jungs wieder einmal, diese nie wie Klischees wirken zu lassen, einfach, indem sie für genügend Störfeuer und bissige Aufbrechungen des Genres sorgen. Der garstige Humor wurde bereits angesprochen, und dieser ist für eine solch düstere Geschichte erstaunlich oft vorhanden. Der gesamte dörfliche Prolog liesse sich auch wunderbar als bissige Westernsatire lesen. Aber auch in der Wildnis kommt es zu absurden fast schon surrealen Auflockerungen. Egal ob das Auftauchen des obskuren Bärenmannes oder die herrlichen Dialogduelle von Damon und Bridges, in die sich Steinfeld ebenfalls mit naivem Charme und altkluger Bissigkeit einmischen darf. Neben dem Humor überzeugen auch der Naturalismus, die ebenso schmutzigen wie epischen Bilder und die symbolistischen Züge. Auch an dieser Stelle schöpfen die Coens  aus klassischem narrativen Inventar, jedoch ohne jemals platt oder plumpt zu wirken: Höhlen, Schlangen, Flüsse… die Bilder sind klar, ihre Subtexte und parabolischen Eigenschaften ebenso und doch werden sie (fast) immer genuin genug in das Geschehen integriert, um nicht wie das verzweifelte Forcieren von intellektuellem Überbau und Subtextualität zu erscheinen.

Als Drittes sei an dieser Stelle schließlich die einzige – aber umso wertvollere – originäre Aufbrechung des Genres genannt. Und diese hat es, auch wenn sie sehr subtil daherkommt, durchaus in sich. In „True Grit“ wird nämlich permanent über das Leben und den Tod verhandelt. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Im Gegensatz zu anderen Western – selbst den Spätwestern-Vorbildern – ist das Duell, ist der Kampf, ist die klassische Dichotomie „Gut gegen Böse“ immer nur eine Option. Protagonisten und Antagonisten stehen sich nicht als Blutfeinde gegenüber sondern immer auch als Menschen mit sich entgegenlaufenden aber auch teilweise überschneidenden Interessen. Das beginnt schon mit der Gerichtsverhandlung im Prolog, bei der der Rechtsanwalt eines Gauners den Marshall (zurecht) beschuldigt, dessen Brüder und Vater kaltblütig ermordet zu haben. Der Konflikt wird von der vermeintlich anarchistischen Wild West Welt zurück auf den Boden der Tatsachen, direkt mitten in einen Gerichtssaal geworfen. Und dieses Spiel treiben die Coens weiter, was schließlich in die fast schon absurde Begegnung zwischen Mattie und dem Vatermörder mündet, in der sich beide hilflos gegenüber stehen. Dazwischen wird geredet, oft, immer bevor geschossen wird. Die Coens bringen dadurch eine merkwürdige Form von Menschlichkeit in die Legendenbildung des Genres. Kein klassischer Humanismus… Das beileibe nicht! Viel mehr eine Menschlichkeit, die sowohl Protagonisten als auch Antagonisten in ihrer Rolle als Opportunisten, Interessenswahrer und eben auch gezwungene Händler und Übereinkünftler durchleuchtet. Der Mensch nicht als des Menschen Wolf, sondern als des Menschen Mensch, im positiven wie im negativen, vor allem aber im realistischen Sinne.

Und als kämen sie nicht ganz heraus aus ihrer Haut, wagen die Brüder gegen Ende dann doch noch eine kleine Genrereferenz und Metaebene, die den Film wie eine Klammer umschließt. Als retrospektive Erzählung aus der Zukunft der Protagonistin etabliert, ist „True Grit“ das Ende der wilden Zeit ohnehin von Beginn an immanent. Im Epilog wird es schließlich ausdefiniert, im großartigen kurzen Bild einer Wild West Show, die nicht ausgetragen wird. Stattdessen sitzen die Akteure der Nummernrevue zusammen und palavern über vermeintlich wilde Zeiten als „Showstars“, während die alt gewordene Protagonistin tatsächliche, vermeintliche, tatsächliche wilde Zeiten reflektieren darf. Hier zwinkert dann doch noch mal das dekonstruktivistische Auge der Coens versöhnlich. Nötig gewesen wäre das nicht zwangsläufig, auch wenn es den Film sowohl tragisch als auch komisch abrundet. Davor jedenfalls gibt es einen hervorragenden, elegant inszenierten, die Möglichkeiten des Genres auskostenden Western zu sehen. Überraschend traditionell in vielen Punkten, ein ganz klein wenig gebrochen in anderen. Und dabei spannend, emotional mitreißend, herrlich schmutzig und konkret. Ein Spätwestern, ein Neo Western, auch ein Traditional Western, alles in allem eine Genreblaupause mit den Möglichkeiten aktueller Filmkunst. Synthese, Exegese, Mutation… In erster Linie ein Westernwestern, im besten und wahrsten Sinne des Wortes, und wieder einmal ein ausgezeichneter Film der Coen Brüder, der ohne Einschränkungen empfohlen werden kann.

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Erstveröffentlichung: 2011