Kritik und Analyse zu Joker (2019) – Comicverfilmung als New Hollywood Thrillerdrama

Früher war alles besser. Da durften Regisseure noch Filme gegen den Strich des klassischen Hollywood-Erzählkinos bürsten, durften harte und ungewöhnliche Stoffe verfilmen und erhielten dafür trotzdem kritische Anerkennung und gewannen sogar das Mainstreampublikum für sich. Da gelangten alles andere als bekömmliche Filme in die großen Multiplexkinos und wurden mit dem Label „New Hollwood“ geadelt: Scorsese, Polanski, Kubrick, Spielberg… die durften sich austoben und dennoch die Kassen der Studios klingeln lassen. Früher war alles besser: Da musste ein Film sich noch nicht einer überpolitisierten Kritikerschar stellen, keiner moralischen Instanz, durfte auch politisch inkorrekt und verantwortungslos sein, musste nicht auf PG 13 gebürstet werden.. Früher war alles besser. Da gab es noch kein Internet, keine sozialen und assozialen Netzwerke, kein 4chan, 8chan, 237chan, kein Youtube und keine Hobbykritiker, die bei Rotten Tomatoes Seite an Seite mit Profis wie Roger Ebert standen. Keine langen Diskussionen, kein Zerpflücken der Kunst, keine poststrukturalistische Denke und keine Metatextualität. Einfach nur gute Filme. Früher war alles besser.

Wer die Diskussionen der letzten Wochen verfolgt hat, könnte meinen, dass es sich bei Todd Phillips Joker (2019) um einen brandaktuellen Film handelt: Eine Comic-Origin-Story wie es sie nie zuvor gab. Vielleicht ein gefährliches Incel-Manifest, das Nachahmer hervorbringen könnte. Vielleicht ein brutales sozialkritisches Drama, das einer kaputten Gesellschaft den Spiegel vorhält. Vielleicht eine radikale Parabel auf die soziale Dynamik populistischer Bewegungen unserer Zeit, ein Film der en passent Hass im Netz ebenso erklärt wie Donald Trump, die französischen Gelbwesten und die schon etwas zurückliegende Occupy-Bewegung. Vielleicht etwas davon, vielleicht alles zusammen, auf jeden Fall aber ein brandaktueller Film. Dabei handelt es sich jedoch um einen Irrtum. All das will Joker nicht sein und brandaktuell ist er erst recht nicht. Der Protagonist und spätere Joker Arthur Fleck trägt ständig sein kleines Notizbuch mit sich, in das er nach eigenen Aussagen schlechte Gedanken aber auch Ideen für Witze notiert. An einem gewissen Punkt des Films dürfen wir einen Blick hineinwerfen und sehen eine düstere Mischung aus größtenteils schwachen Punchlines, morbiden Rachefantasien, abstrakten Kritzeleien, schmerzhaften Selbstbezügen und hineingeklebten Aktfotos. Mit ein bisschen good postmodern will kann man das als analoges 4chan einer einzelnen Person deuten, dann hat es sich aber schon mit den Bezügen zum 21. Jahrhundert. Joker ist kein brandaktueller Film, weil er tief in der Vergangenheit steht, sowohl ästhetisch als auch narrativ.

Da wäre der Ort, an dem der Film spielt. Das Gotham City dieser Batman-Interpretation ist mehr denn je ein Spiegelbild des New Yorks der späten 70er und frühen 80er Jahre. Dieses Gotham City ist ein Moloch, in dem sich die armen Leute auf der Straße durchschlagen, umgeben von Kriminellen, Drogenabhängigen, Gescheiterten und gerade Scheiternden, während die High Society sicher in ihren Elfenbeintürmen Spendengalas ausrichtet und sich bei Charlie Chaplin Filmvorführungen mit Livemusik amüsiert. Natürlich leben wir noch in einer Welt der sozialen Gegensätzen, der sozialen Spannungen und Ungerechtigkeiten. Aber wir leben nicht in dieser Welt. Und diese Welt ist auch kein Spiegelbild unserer Verhältnisse. Vielleicht hat Todd Phillips genau deshalb diesen Rahmen gewählt, vielleicht war es sein erklärtes Ziel, jegliche Politisierung zu vermeiden. Falls es so ist, ist ihm dies – innerhalb des Werkes – herausragend gelungen, während er im Metatext und Kontext grandios gescheitert ist (wovon der derzeitige Diskurs um den Film zeugt).

Da wäre der Protagonist Arthur Fleck, in der Tat grandios verkörpert von Joaquin Phoenix. Dieser Arthur Fleck ist ein Gescheiterter im wahrsten Sinne des Wortes: Er lebt als Mann deutlich jenseits der 30 – wenn nicht sogar der 40 – noch bei seiner Mutter in einer schäbigen, kleinen Wohnung, die ihm kaum freien Raum zugesteht. Er arbeitet als Clown, mal auf kleinen Partys, mal als lebendes Werbeschild in den Straßen Gothams. Er ist gezeichnet durch sein abgemagertes Äußeres, seine Unfähigkeit soziale Situationen richtig einzuschätzen und auch durch seine Krankheit, eine Art Tourette, das sich durch unkontrolliertes, hysterisches Lachen äußert, sobald er in einer stressigen oder unangenehmen Situation ist. Aber dieser Arthur Fleck ist kein Incel, wie es ihm von manchen Kritikern angedichtet wurde. Auch er sehnt sich nach einer Beziehung, auch ihm steht sein soziales Außenseitertum im Weg. Aber Arthur Fleck trägt nicht das misanthrope Frauenbild des 2019er Antifeminismus mit sich herum. Arthur versteht sich auch nicht als Opfer einer Frauenwelt, die ihm nicht das gibt, wonach er verlangt. Stattdessen versucht er mit tölpelhaftem Charme Menschen – ob nun weiblich oder männlich – für sich zu gewinnen, hat dabei scheinbar sogar Erfolg, als er seine attraktive Nachbarin Sophie (Zazie Beetz) kennenlernt. Aber er bleibt der Unangepasste, der am Rand stehende, dem jedoch – im Grunde genommen bis zum Ende des Films – die intellektuelle und emotionale Höhe fehlt, um seine eigene Situation richtig einzuschätzen. Während die Incels des Jahres 2019 ihr Außenseitertum mit einem gewissen Stolz und einer gehörigen Portion Misogynie und ganz allgemein Misanthropie vor sich hertragen, scheint Arthur an das Gute im Menschen zu glauben, selbst in seiner Transformation zum Joker.

Dieser Arthur Fleck taugt dadurch auch nicht als Erklärung für den Wandel zum kriminellen Supergenie, das der Joker praktisch in allen Batman-Iterationen jüngeren Datums ist. Dieser Joker ist kein genialer Geist, kein Chaosstifter mit nihilistischem Überbau und erst recht kein postmoderner Spieler, wie es die gefeierte Joker-Variante von Christopher Nolan / Heath Ledger war. Kaum vorstellbar, dass dieser Arthur Fleck einen komplexen Banküberfall mit mehreren Mockversionen seiner selbst plant, kaum vorstellbar, dass er zwei Schiffe entführt und aus dem Gefangenendilemma bittere Realität werden lässt. Der von Joaquin Phoenix verkörperte Arthur Fleck ist im Grunde genommen ein Simpel, einer der mehr oder weniger zufällig zur kriminellen Ikone wird, einer, dem das Unglück mehr zufliegt, als dass er es bewusst provoziert, einer, der keine Pläne hat und falls doch dann meistens Pläne die gnadenlos schief gehen. Vor allem ist dieser Arthur Fleck aber ein Geschlagener, der irgendwann zurückschlägt und damit ist er tief verwurzelt im Antihelden-Bild der 70er und 80er Jahre. Viel wurde über die Nähe dieses Jokers zu den Protagonisten aus Taxi Driver (1976), King of Comedy (1983) und Network (1976) geschrieben. Und noch einmal darüber zu schreiben, mag ermüdend erscheinen, aber was soll man auch anderes machen, wenn die Parallelen derart offensichtlich auf der Hand liegen?

Die Figur des Arthur wie der ganze Film ist retro as fuck. Todd Phillips versucht das auch gar nicht erst zu verstecken, sondern badet seine ganze Geschichte ordentlich im Referenzraum, den er sich selbst aufgebaut. Arthur sitzt mit einer geladenen und entsicherten Waffe vorm Fernseher, führt Selbstgespräche, die sich in ihrer Aggressivität steigern und löst schließlich – unabsichtlich – eine Kugel. Mitunter sind die Bezüge zu Taxi Driver et.al. hier schon mehr als Hommage, sie sind Referenz und Nachahmung mit Nähe zum Plagiat. Flecks Idol, Comedian und Talkshowhost Murray Franklin, wird ausgerechnet von Robert De Niro verkörpert. Der Robert De Niro, der vor über 30 Jahren in King of Comedy einen erfolglosen Komiker verkörpert, der einen Comedian und Talkshowhost (verkörpert von Jerry Lewis) anhimmelt und unbedingt in dessen Sendung will. Wie Rupert, der Protagonist in dieser – absolut sehenswerten – Scorsesekomödie träumt sich Arthur Fleck in die Show seines Idols, sieht sich selbst auf der Bühne als Zukunft der Comedy und versucht in schmerzhaft peinlichen Szenen, die Mimik, Gestik und Rhetorik seiner Idole zu kopieren. Wie auch Scorseses gescheiterte Helden, Rupert aus King of Comedy, Travis aus Taxi Driver, ist Arthur Fleck der kleine Mann von der Straße, ein Simpel, wenn man es böse ausdrücken will, niemand der Streit sucht, niemand der Teuflisches im Sinn hat. Im Grunde genommen will Arthur, bevor er zum Joker wird, nur seine Ruhe haben. In einer sehr bezeichnenden Szene, kurz vor seinem ersten Gewaltakt, sitzt Fleck in der U-Bahn und beobachtet, wie eine Frau von drei Yuppies belästigt wird. Er greift nicht ein, es zeigt sich auch keine Empörung, kein Ärger in seinem Gesicht. Stattdessen macht er sich klein, will nicht gesehen, nicht wahrgenommen werden. Seine Krankheit macht ihm dabei einen Strich durch die Rechnung, verwehrt ihm die Unsichtbarkeit, zieht Hass auf sich und zwingt ihn zum Joker zu werden.

Nicht nur das Bild seines Protagonisten, auch das Frauenbild, teilt Phillips Film mit seinen 70er und 80er Jahre Vorbildern. Joker ist auch deshalb so wenig Statement zu aktuellen (post-)feministischen Diskursen, weil ihm die Reflexionsebene der letzten 30 Jahre vollkommen zu fehlen scheint. Wie oft im Kino der 70er und 80er Jahre sind Frauen in diesem Universum Trophäen die erobert werden können. Zu dem obsessiven Stalkingverhalten seines Protagonisten hat Joker nicht viel zu sagen, auch nicht zu dem U-Bahn-Zwischenfall. Es sind Dinge, die in diesem regressiven Universum geschehen, und nicht durch die Brille unserer Welt und unserer Diskurse betrachtet werden müssen. Dabei sagt Joker nicht einmal, dass früher alles besser war (zeigt er doch eine durch und durch verdorbene Welt), aber er verzichtet konsequent auf jede Form von Historizität und damit auch kritischer Einordnung. Die Welt dieses Gothams kann gar nicht spiegeln, weil sie das Motiv, das gespiegelt werden könnte – unsere Welt, unsere Zeit – weder sieht noch sehen will. Wenn Frauen keine Objekte sind – als handelnde Protagonistinnen kommen sie im Film tatsächlich überhaupt nicht vor -, dann sind sie entweder Wunschphantasien, Projektionen des männlichen Blicks oder Verantwortliche für den Zustand der Welt. So beschränkt sich die Rolle von Arthurs Mutter Penny (Frances Conroy) darauf, dem Protagonisten einen nuancierten Ödipuskomplex mit auf den Weg zu geben und seine psychische Verfasstheit partiell zu erklären. Als eigenständige Protagonistin mit eigenen Ängsten und Bedürfnissen findet sie indes nicht statt. Dafür wäre auch gar kein Platz, nimmt sich Joker doch all seine Zeit, um den Protagonisten zu erklären. Dessen Befindlichkeit, dessen Weltsicht, dessen Geschichte will hier bis ins kleinste Detail erklärt werden. Leere Stellen oder Fragezeichen gibt es dabei praktisch keine. Auch gar nicht so unähnlich den Filmen des 70er Jahre Kinos ist Joker äußerst geschwätzig, wenn es darum geht zu erzählen, wie aus dem geschlagenen Loser Arthur der böse Rachedämon Joker werden konnte. Das wirkt nicht zuletzt deshalb aus der Zeit gefallen, weil die spannendste Superbösewicht-Geschichte der letzten Dekade ausgerechnet der Joker war, für den es überhaupt keine Erklärung gab, eine Verkörperung des Chaos, das die Welt einfach brennen sehen wollte. Dieser Joker ist das genaue Gegenteil davon.

Das Erstaunliche an all dem. So unzeitgemäß, referenzfreudig und zugleich ahistorisch dieser Joker ist. Er funktioniert. Todd Phillips gelingt es eine Welt zu zeichnen, die dank ihrer düsteren Kraft sämtliche Historizität, sämtlichen Diskurs in sich verschlingt. Der letzte Film, dem dies so bravourös gelungen ist, war Denis Vielleneuves Blade Runner 2049 (2017). Auch dem Joker erlaubt man nur zu gerne seine Regressivität, weil er sie einfach gekonnt einsetzt, um einen wirklich klassischen, dem Diskurs entschwebenden und damit zeitlosen Film zu kreieren. Gerade dadurch, dass er so hoffnungslos aus der Zeit gefallen wirkt, ist Joker ein unheimlich intensiver und packender Film, dessen Apolitität den Raum für pures menschliches Drama bietet. Und davon hat Joker reichlich zu bieten. Dass es hier keinen Feel Good Movie zu sehen gibt, war eigentlich schon nach den Trailern klar. Aber es gebietet noch einmal besonderen Respekt, wie gnadenlos der Film sein Programm durchzieht. Joker steckt voller unangenehmer Szenen, die bis auf die Knochen gehen: Seien es die Social Awkward Momente des Protagonisten, sei es die Darstellung einer kaputten und ungerechten Welt, in der die Schwachen am meisten leiden müssen, sei es die brutale und explizite Darstellung von Gewalt oder der düstere Ton, mit der die Geschichte vorangetrieben wird. Joker ist tatsächlich die erste, wirklich ernsthaft ernsthafte Comicverfilmung, die das Prädikat „Für Erwachsene“ verdient hat: Weit weg vom überspitzten, pubertären Gewaltspaß eines Deadpool, weit weg vom satirischen Chaos eines Super (2010) und auch weit weg vom ernsten, opernhaften aber dennoch optimistischen Pathos eines Dark Knight (2008). Näher war der Superheldenfilm noch nie am Charakterdrama, näher war eine DC/Marvel-Verfilmung noch nie am Arthaus. Das liegt nicht zuletzt daran, dass seine inszenatorischen Standards extrem hoch sind. Joaquin Phoenix liefert – man kann es gar nicht oft genug betonen – ein herausragendes Spiel ab, umso beeindruckender noch, wenn man ihn als bärtigen, traumatisierten Giganten aus seinem letzten Meisterwerk A Beautiful Day (2017) in Erinnerung hat. Die Kameraarbeit ist herausragend; dicht am Geschehen, mit erlesenen – mitunter schmerzhaften – Bildern, die ebenso wie die dunkle, dreckige Ausstattung perfekt den Geist des 70er Jahre Kinos atmen. Joker ist nicht nur aus der Zeit gefallen, sondern fängt die Zeit, auf die er immer wieder referiert, perfekt ein. Näher am Geist des New Hollywood war kein Film mehr, seitdem dessen Akteure das Popcornkino für sich entdeckten oder in der Nische versackten.

Joker bleibt jedoch nicht an dieser Stelle stehen, sondern vollzieht in seinem Schlussdrittel eine seltsam ungelenke Bewegung, die ebenso von seinem Protagonisten stammen könnte. Und diese Bewegung führt direkt hin zur pathetischen Villain Origin Story. Das ist dabei gar nicht so sehr Reminiszenz an den Zeitgeist, sondern viel mehr Reminiszenz an sein Sujet. Immerhin heißt der Film Joker und handelt folgerichtig auch von der Geburt des wohl berüchtigsten Schurken des DC-Universums. Ein solcher Bösewicht funktioniert aber anders als die Figur, die in Fleck zuvor entworfen wurde und dementsprechend muss diese einen holprigen Weg zurücklegen, um zu dem zu werden, der sie am Ende des Films ist. Und dabei opfert sie leider auch einige ihrer markanten Eigenschaften. Der finale Ausbruch des Jokers wird zur infernalischen Geburt eines Superbösewichten. Wo die Protagonisten der klassischen New Hollywoodfilme – insbesondere die Martin Scorseses – in ihren kathartischen Momenten mit der harten schmucklosen Realität konfrontiert wurden, nimmt Joker den 180° Turn zum opulenten, irrealen Gewaltepos. Wenn Travis Bickle in Taxi Driver zu seinem finalen Gewaltrausch loszieht, besitzt das nicht den Glanz den er sich zuvor erhoffte. Sein Amoklauf ist ebenso brutal wie unspektakulär. Wenn Joker loszieht, um die Welt seine Vorstellung von Gerechtigkeit zu lehren, wird dies zum Spektakel. Allein schon der bombastische, überhaupt nicht mehr aufhören wollende, Soundteppich verhindert dabei jeden dekonstruktivistischen Bruch, den die guten klassischen Rachegeschichten ihren Protagonisten aufhalsten. Aber es ist nicht nur die comichafte Inszenierung, sondern auch Geschichte, die mit dem vorangehenden Dunkel bricht. Der Joker gewinnt nämlich exakt die Anerkennung, die er gesucht hat: Angst, Respekt, Liebe, Hass… alle Emotionen, die er auf sich ziehen wollte, zieht er im Finale auf sich. Kaum vorstellbar, dass ein Scorsese seinem Antihelden derart viel Katharsis erlaubt hätte.

Das spannende am New Hollywood Kino war eben auch immer, dass die Geschichte nie so enden durfte, wie es die Protagonisten – oder die mit diesen sympathisierenden Zuschauer – erhoffen oder befürchten durften: Rupert Pupkin legte einen durchschnittlichen Comedyauftritt hin und landete danach im Gefängnis, Travis Bickle ging nach seinem Amoklauf zurück in sein altes Leben, von den Kollegen als „Revolverheld“ verspottet, Howard Beale konnte trotz exzentrischer Ausraster seine Einschaltquoten nicht halten und Sonny Wortzig ergab sich ganz unspektakulär der Polizei, um anschließend eine Haftstrafe anzutreten. Arthur Fleck entgeht einem solchen Schicksal, weil Todd Phillips seiner New Hollywood Reminiszenz eine epische Origin Story überstülpt, die dann doch wie eine ganz klassische Comicverfilmung immer ein gutes Stück drüber ist: Zu viel Pathos, zu viel Bombast, zu viel Spektakel und zu viel Abrechnung. In der wohl merkwürdigsten Szene des Films spricht Arthur Fleck – nun vollkommen zum Joker geworden – direkt in eine TV-Kamera, die er sich schräg vors Gesicht hält. In diesem Moment – dieser offensichtlichen Referenz auf den von Heath Ledger verkörperten Joker aus The Dark Knight – wird der Film für einen kurzen Moment zur Farce. Zu weit weg ist dieser Arthur Fleck vom kriminellen Mastermind, als dass diese Referenz funktionieren würde. Das Publikum allerdings wird brutal daran erinnert, dass Joker eben doch eine Originstory mit Comic-Background ist; insbesondere, wenn dem ganzen noch – ziemlich unpassend und abgedroschen – zusätzlich eine Wayne/Batman-Backstory hinzugegeben wird. Der Film verliert seinen zeitlosen Glanz, sein Schweben in der cineastischen Vergangenheit und wird zum profanen Comicfilm. Hier ist dann doch der Moment erreicht, an dem Joker der Mut fehlt, konsequent weiter das zu sein, was er zuvor war.

Joker ist weder ein aktueller noch ein gefährlicher Film. Er ist in vielen Momenten ein konservativer, vielleicht sogar regressiver Film; ironischerweise ist er aber in genau jenen Momenten am besten, in denen er am konservativsten ist. Genau wie sein Protagonist Arthur Fleck leidet Joker dann am meisten, wenn er versucht, sich dem Diskurs und dem Rahmen des aktuellen Superheldenkinos anzupassen. Das kommt Gott sei Dank relativ selten und primär nur im finalen Akt vor. Wenn er einfach nur eine Charakterstudie, ein Hybrid aus Thriller und Drama sein will, ist Joker am stärksten. Getragen von seinem fantastischen Hauptdarsteller und seinem radikal unzeitgemäßen Charme ist Joker zwar alles andere als originell, aber ein sehr gut funktionierender Trip in die Abgründe des menschlichen Seins und das Porträt einer Zeit, die irgendwie längst überwunden, irgendwie aber auch noch sehr präsent ist. Gleichzeitig ist er ein Kind dieser Zeit, das alles, was New Hollywood betrifft gierig aufgesogen und anscheinend die letzten 30 Jahre Filmgeschichte verschlafen hat; im Guten wie im Schlechten. Mit Sicherheit nicht der beste Film des Jahres, aber ein notwendiger frischer Wind im aktuellen DC/Marvel-Kino. Und allein schon wegen der oscarreifen Darbietung von Joaquin Phoenix jede einzelne Minute wert.

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