Die besten Filme 2019 – Der Oscar-Abräumer Parasite von Bong Joon-ho

Endlich! Über fünf Jahre nach dem großen Erfolg beim westlichen Publikum mit der Dystopie Snowpiercer und zwei Jahre nach dem Netflix-Achtungserfolg Okja ist Bong Joon-ho endlich da angekommen, wo er schon immer hin gehörte. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens, ziemlich offensichtlich, bei der höchsten Mainstreamehrung, die sich ein Regisseur überhaupt vorstellen kann. Auch wenn es sich immer noch ein wenig surreal anfühlt, ist es doch Wirklichkeit: Bong Joon-hos neuester Streich, Parasite (2019) hat 2020 bei den Oscars abgeräumt. Aber so richtig: Nicht nur als bester fremdsprachiger Film, sondern als bester Film, als erster fremdsprachiger Film in der Geschichte der Oscars überhaupt. Darüber hinaus bestes Originaldrehbuch und beste Regie. Vier Academy Awards für eine rabenschwarze südkoreanische Komödie. Wie ich bereits an anderer Stelle schrieb: Die Oscars waren in den letzten Jahren doch für so manche positive Überraschung gut. Positiv ist die Überraschung nicht zuletzt auch deswegen, weil Parasite ein Film ist, der jedes Lob und jeden Hype um ihn im letzten Jahr mehr als verdient hat. Zweitens ist Bong Joon-ho nämlich nach diversen Genreabstechern auch endlich in dem Rahmen angekommen, der ihm am besten liegt: Der schelmische, makabere, parabolische und grotesk ironische Rahmen. Entfesselt von jeglichen Genrevorgaben erzählt er in diesem Rahmen eine bittersüße, urkomische Geschichte über Auf- und Abstieg, über starre Gesellschaftsstrukturen und darüber wie diese aus den Angeln gehoben werden.

Im Zentrum von Parasite stehen zwei Familien, deren Lebenswirklichkeit nicht unterschiedlicher sein könnte. Auf der einen Seite ist die vierköpfige Familie Kim: Der phlegmatische Vater Kim Ki-taek (Song Kang-ho), die robuste Mutter Chung-sook (Jang Hye-jin) und ihre beiden cleveren Kinder, Ki-woo (Choi Woo-shik) und Ki-jung (Park So-dam), die die Jugend gerade hinter sich gelassen haben und einen Platz im Leben suchen. Die Kims leben am Rand der Gesellschaft, teilen sich zu viert eine kleine Souterrain-Wohnung in den engen Gassen Seouls. Dort falten sie Kartons für den Lieferservice um die Ecke und verschanzen sich, wenn die Stadt auf den Straßen mal wieder Vertilgungsmittel gegen Ungeziefer versprüht, das in die Wohnung der Familie eindringt. Auf der anderen Seite ist die dreiköpfige Familie Park, die im wahrsten Sinne des Wortes über der Familie Kim steht. Lange, ausufernde Gassen, Treppen und Straßen führen zu ihrem Anwesen auf den Hügeln Seouls. Ihre großzügige Villa ist von allerlei Bediensteten bevölkert, ihr Geschmack erlesen, ihr Reichtum anscheinend grenzenlos. Ebenso grenzenlos ist ihre joviale Gutmüdigkeit gegenüber Untergebenen, die sie durchaus angreifbar gegenüber raffinierten Tricksereien macht. Als die Parks einen Nachhilfelehrer für ihre Tochter Da-hye (Jeong Ji-so) suchen, nutzt Ki-woo die Gunst der Stunde, um seine gesamte Familie peu à peu in das Leben der Parks hineinzuschmuggeln: Als Nachhilfelehrer, als Therapeutin, als Fahrer und als Haushälterin.

Dass die Kims Lügner und Betrüger sind, dass sie eine Menge kriminelle Energie besitzen, stellt der Film dabei nie in Frage. Wie ein böses Stigma thront der Titel über der Handlung: Die Kims sind Parasiten, Ungeziefer, das sich an einem Ort einnistet, an dem es nichts zu suchen hat. Aber, diese Parasiten sind von Beginn an auch Sympathieträger, ja sogar Identifikationsfiguren. Sie sind nicht nur die, denen der Film seine größte Aufmerksamkeit widmet, es ist auch ihre Wahrnehmung, die uns vom untersten Punkt der Seouler Gesellschaft bis ganz nach oben führt. Sie sind unsere Reiseleiter nach oben, unsere Seelenbrüder und unsere Filter. Sie sind vielleicht Verbrecher, aber sie sind Verbrecher mit Charme und Witz. Anstatt eine düstere Klassenkampfparabel zu inszenieren, erzählt Bong Joon-ho eine Eulenspiegelei, ein Lausbubenstück, in dem jede Bösartigkeit durch zuckersüßen Humor aufgefangen wird. Parasites Waffen sind weder die Analyse noch der Pathos, er versucht sich nicht im Epischen und Defätistischen. Stattdessen kommt er überraschend leichtfüßig, spitzbübig und lakonisch daher. Auch wenn er am ehesten in den Bereich der Tragikomödie fällt, ist er doch in erster Linie eine Komödie, wenn auch eine schwarzhumorige und makabere. Die Kims ertragen ihr Schicksal mit einer charmanten stoischen Gelassenheit. Ihr Einschleichen in die Welt der Parks geschieht nicht durch Brutalität, sondern durch elegante Schummeleien und ehrfurchtseinflößende Raffinesse. So mutiert diese schwarze Komödie dann auch nie zur Groteske, ist sie doch dafür viel zu beschwingt, zu trocken und schelmisch.

Anstatt sich an der Korean New Wave zu orientieren, deren Filme oft von einer stillen Ernsthaftigkeit, einer inszenatorischen Strenge oder einem brutalen Pathos geprägt sind, schielt Parasite mit einem lachenden und weinenden Auge Richtung Westen: Die grotesken Familiengeschichten François Ozons, die schwarzhumorigen Parabeln Peter Greenaways, die Vermählung von Komik und Tragik in den Werken Martin McDonaghs… Es ist kein Wunder, dass Parasite beim westlichen Feuilleton einen solchen Anklang gefunden hat, ist er doch weitaus stärker vom europäischen Arthaus-Kino inspiriert denn vom koreanischen Melodrams vom Schlage eines Burning (2018). Dies bedeutet im Umkehrschluss aber keineswegs, dass Parasite konsequent federleicht wäre. So amüsant und gut gelaunt das Einschleusen aller Kim-Familienmitglieder in die Welt der Parks erzählt wird, so wirkmächtig baut Parasite auf diesem Hintergrund seine eigentliche bitterböse Parabel auf. Denn in das Spiel der Kims mit den Parks tritt schließlich eine dritte Partei ein. Und diese sorgt nicht nur für eine gewisse Eskalation des Kampfes „Arm gegen Reich“, sie gibt der Story auch einen bitterbösen, morbiden Twist, mit dem die Geschichte eine gehörige Ambivalenz erhält.

Parasite stellt in der Ménage à trois, die im folgenden erzählt wird, dem parasitären Verhalten der Kims einen völlig anderen Umgang der unteren mit der oberen Schicht entgegen. Die Konkurrenten der Kims sind ein gänzlich anderer Entwurf der sozialen Anpassung: Auf der einen Seite die Vertreter einer unteren Schicht, die fest daran glaubt, etwas besseres vom Leben verdient zu haben und bereit ist, für dieses Mehr zu kämpfen, zu schummeln, zu tricksen. Auf der anderen Seite die Vertreter einer unteren Schicht, die fest daran glaubt, dass das ungerechte soziale Gefüge, in dem sie leben, so seine Richtigkeit hat, ein Schlag von Menschen, der den über ihm Stehenden mit einer nahezu hündischen Unterwerfung begegnet. Menschen, die die über ihnen, anhimmeln, ihnen sklavisch gehorchen, ihnen mit geradezu religiösem Eifer dienen. Der Zusammenprall dieser beiden Formen von Unterschicht kann nur zum Konflikt führen, der in Parasite dann auch mit allen erdenklichen Mitteln ausgetragen wird. Dabei wirft der Film die Frage auf: Wie viel kann ein Mensch für sein Schicksal? Was bedeutet es, auf einer bestimmten Ebene der gesellschaftlichen Ordnung zu stehen? Und was ist der richtige Umgang mit der Ungerechtigkeit einer hierarchischen Gesellschaft?

Parasite geht aber noch einen Schritt weiter: Er thematisiert nicht nur den Konflikt von denen unten, sondern er stellt ihn auf die Bühne für die da oben, mit einer ganz erstaunlichen Konsequenz: Die Parks sehen den Konflikt nämlich nicht, sie ignorieren ihn nicht nur einfach, sie sind geradezu blind dafür. So wie sie in ihrer gutmütigen Jovialität die Kims niemals für Betrüger gehalten hätten, so sind sie auch nicht im geringsten empfänglich für Dramen und Konflikte die außerhalb ihrer wohlsituierten Blase stattfinden. Im Erzählen eines Kampfes, der nicht wahrgenommen wird, entwickelt sich Parasite zur mächtigen Parabel auf die Ignoranz einer elitären Klasse, die nicht in der Lage ist zu sehen, was unter ihr vorgeht; die weder verstehen will noch verstehen kann, mit welchen Problemen die unteren Schichten geschlagen sind. In diesem Setup verspielen die Parks dann auch jegliche Sympathie, jegliches Mitleid, das man zuvor vielleicht noch für die leichtgläubigen Betrugsopfer aufbringen konnte. Auch wenn sie es niemals deutlich zeigen würden, es sogar hinter einem Über an Nettigkeit verbergen, für die Menschen unter ihnen haben die reichen Parks nichts anderes als Verachtung übrig, und dementsprechend sehen sie weder die Gefahren, die ihnen von dort unten lauern, noch das Leid, das unter ihnen stattfindet. Die Welt der Reichen ist in Parasite eine blinde Welt, eine Welt, die sich in ihrem Wohlstand eingerichtet und mit diesem gigantische Scheuklappen aufgebaut hat. Parallel dazu ist die Welt der Armen eine sehr bewusste Welt, eine Welt, in der der eigene Status stets reflektiert wird, eine Welt, in der ständig neu ausgehandelt werden muss, wie Mensch mit seinem Platz in der Gesellschaft umzugehen hat.

Und dennoch kippt Parasite auch hier nicht in radikal tragische Gefilde. Er inszeniert die finale Schlacht Arm gegen Arm, Arm gegen Reich mit trockenem Humor und viel lausbübischem Esprit. Ja, es geschehen schreckliche Dinge im Laufe der Handlung, aber sie geschehen in einem trockenen, unaufgeregten Tonfall. Die Eskalationsspirale reicht doch nur so weit, wie es die Mittel der Protagonisten zulassen, eine kathartische Katastrophe findet nicht statt. Obwohl ein wortwörtlicher Sturm schließlich über dem Geschehen hereinbricht, besitzt dieser keine reinigende oder verändernde Kraft. Das Leben geht weiter, auch nach einem sozialen Flächenbrand. Die große Kunst dabei: Parasite wird nie pathetisch, nie überdramatisch und nie pessimistisch. Seine Spitzbübigkeit, seine schelmische Attitüde, sein koboldhafter Charme bewahren ihn vor jedem großen Drama. Im Ziellauf erlaubt er sich dann doch noch einen kleinen, emotionalen Ausbruch. Vielleicht muss dieser aber auch sein, als Teil seines Prinzips Hoffnung, als Strohhalm für den Zuschauer, dem zuvor garstig mitgespielt wurde, vielleicht aber auch als kleines abschließendes Augenzwinkern, als kleine Verbeugung vor den großen Gefühlen. Parasite ist ein Film, der sein Sujet ernst nimmt, es aber keineswegs unter Tragik vergräbt. Parasite ist ein Film, der für alle seine Themen ein Augenzwinkern übrig hat, ohne sich über die Topoi lustig zu machen. Er ist ein fantastischer und eleganter Spagat zwischen Schelmischem und Groteskem, zwischen Absonderlichem und menschlich allzu Menschlichem. Ohne Zweifel Award-würdig und wegen seiner skurrilen Klasse zugleich bei den Oscars fast schon fehl am Platz. Definitiv aber einer der aufregendsten und intelligentesten Filme des Jahres 2019.

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