Die besten Filme 2017: Okja vom Parasite-Regisseur Bong Joon-ho

Wie politisch didaktisch darf ein Film sein, um dennoch noch als Film zu funktionieren? Wie sehr darf ein Film seinem Publikum Werte vermitteln oder dieses gar erziehen wollen, ohne zum bloßen Manifest zu werden? Was selbst beim dezidiert politischen Kino eine Frage der Abwägung ist, wird im Bereich des Action- und Abenteuerkino zu einer riskanten Gratwanderung: Immerhin will der durchschnittliche Zuschauer oder die durchschnittliche Zuschauerin in diesem Genre unterhalten werden. Und das Gefühl zu haben, einem pädagogischen Aufbau beizuwohnen, trägt nicht unbedingt zur Unterhaltung bei. Dass sich das südkoreanische Regiewunderkind Bong Joon-ho grundsätzlich wenig um Konventionen schert, hat er bereits mit seinen Filmen The Host (2006) und Snowpiercer (2013) unter Beweis gestellt. In beiden Filmen war er ausgesprochen politisch unterwegs, in beiden Filmen nutzte er das jeweilige Genre – Horror in dem einen, Science Fiction in dem anderen Fall – als Tableau für gesellschaftskritische, satirische Spitzen und großes menschliches Melodram. Da ist es nur folgerichtig, dass er sich in der Netflix-Produktion Okja (2017) das Abenteuer- und Fantasygenre sowie das Familienkino auf die selbe Weise vorknöpft… und wie in den beiden Vorgängerwerken überraschend erfolgreich damit ist.

Dass Okja im Grunde genommen ein Manifest für den Vegetarismus ist, verbirgt der Film zu keiner Sekunde. Ihm geht es um nicht weniger als den Fleischkonsum als großes menschliches Verbrechen unserer Zeit. Bereits in den ersten Minuten, wenn Lucy Mirando (Tilda Swinton), CEO der Mirando Corporation im Jahr 2007 majestätische neue Tierzüchtungen – so genannte Superschweine – präsentiert, nur um kurz darauf zu ergänzen, dass diese in zehn Jahren verspeist werden sollen, besteht kein Zweifel daran, wer hier die Bösen und wer die Guten sind. Der durchdesignten, durchoptimierten, gewinnorientierten Unternehmenswelt wirft Okja nämlich in Folge die Idylle des südkoreanischen Landlebens entgegen. Hier wächst Okja als eines der genmanipulierten Superschweine auf. Und natürlich hat Okja auch eine beste Freundin, ein kleines Mädchen namens Mija (Ahn Seo-hyeon), dessen Großvater, ein einfacher Bergbauer, das Schwein 2007 gekauft hat. Die ländliche Idylle, in der Mija und Okja ihre unbeschwerte Kindheit verbringen scheint wie eine Mischung aus Heidi und Ghibli-Fantasy. Sorgen haben die beide keine, ihre Freundschaft ist die verkörperte Unschuld, ihr Leben so etwas wie ein präkapitalistisches Paradies. Und dann wird Okja zum Sieger des vor zehn Jahren begonnenen Wettstreits gekürt, als größtes und majestätischstes seiner Art, als Superschwein, das in New York in einer großen Parade präsentiert werden und wie seine Artgenossen anschließend geschlachtet werden soll. Mija will ihren Freund nicht verlieren und beschließt dem geliebten Tier zu folgen, um es zu retten. Unterstützung erhält sie dabei von einer radikalen Tierbefreiungsfront.

So symbolisch aufgeladen der Beginn dann war, so gekonnt er satirische Kapitalismus- und Carnivore-Kritik der fantastischen Kindheitszeichnung entgegengestellt hat, so raffiniert entwickelt er sich in der Folge zum überladenen Actionabenteuer mit Grußbotschaft Richtung PETA und ALF. Auch diesbezüglich ist Bong Joon-ho ohne Zweifel von den Abenteuern des Studio Ghibli inspiriert. Wie diese ist Okja in seinem Mittelteil primär eine turbulente Achterbahnfahrt mit nur wenigen Verschnaufpausen. Aktion Schweinerettung ist nicht nur ein Kampf David gegen Goliath, sondern ebenso die irre schnelle – und mitunter trotz aller Tragik irre komische – Achterbahnfahrt eines unbedarften Mädchens in eine Welt, die sie nur zu einem Bruchteil versteht. Wir das Publikum sind ihre Begleiter, sehen diese urbane, postmoderne, spätkapitalistische Welt mit ihren Augen und können so gar nicht anders als ihre Perspektive anzunehmen: Ein wenig schmunzeln, ein wenig Kopfschütteln, oft verzweifeln… Okja gelingt es hervorragend, die Absurditäten unserer Zivilisation aufzudecken. Einen großen Anteil daran hat die gerade mal 13jährige Ahn Seo-hyeon, die Protagonistin Mija mit sehr viel Charme aber auch einem unbedingten Siegeswillen verkörpert. Für ihren Okja würde dieses Mädchen durchs Feuer gehen. Und auch das ist stets plausibel, hat das Special FX Team bei der Kreation des Superschweins doch ganze Arbeit geleistet. Okja ist eine ebenso majestätische wie knuddelige Figur, ein leicht tölpeliges, übergewichtiges und unheimlich sympathisch wirkendes Riesenbaby, das in der Form ohne Probleme auch in einen Disneyfilm passen würde. Okja lebt, Okja verzaubert, Okja weckt elterliche Instinkte und scheint mitunter mehr von der Welt zu begreifen als all die menschlichen Nebenfiguren.

Deren Darstellung bildet dann auch den radikalen Kontrast zur liebenswerten Freundschaft zwischen dem kleinen Mädchen und dem Riesenschwein. Die Welt Okjas ist bevölkert von Egomanen und Zynikern, von Narzissten und Egoisten, von Menschen, die nicht verstehen können und nicht verstehen wollen: Tilda Swinton (wie immer herausragend) als strahlende und zugleich hinterhältige Konzernchefin, Steven Yeun und Paul Dano als übereifrige Animal Liberation Front Aktivisten, denen es zum Leidwesen von Mija eben doch um mehr geht, als bloß ihr heißgeliebtes Tier zu retten, und Jake Gyllenhaal als exzentrischer Zoologe und Fernsehpersönlichkeit. Sie alle verkörpern einen Schlag Mensch, der das verloren hat, was sich Mija bewahren konnte: Reinheit und bedingungslose Liebe. Im Angesicht dieser schrägen Figuren wirken auch die monströsen, genmanipulierten Schweine nie als absurde Ausgeburten menschlicher Schöpfung, sondern viel mehr als ebenso wie die Protagonistin unschuldige Wesen, die von ihren Schöpfern und Vernichtern, aber selbst vor ihren vermeintlichen Rettern beschützt werden müssen. Der Mensch in Okja ist ein Mangelwesen, jemand, der die Verbindung zur Natur und zum Leben an und für sich verloren hat und folgerichtig vollkommen verantwortungslos handelt. Wenn Mija und Okja nun durch dieses Szenario voll mit merkwürdigen Kreaturen gejagt werden, ist dies in der Tat ein Abenteuer, ein Kampf gegen kaum zu verortende, nicht zu verstehende Mächte, ein Kampf um die Freiheit und vor allem für die Rückkehr in die wohlgeordnete sichere Welt des ländlichen Südkoreas. Okja ist auch ein Abenteuerfilm, der klassische Abenteuer- und Actiontropes umkehrt: Das Außerordentliche, Bedrohliche ist in diesem Fall nicht das Exotische und Fremde, sondern all das womit wir als „zivilisierte“ Menschen alltäglich konfrontiert sind. Unsere Welt ist die abstruse, voller Gefahren steckende Landschaft, in der sich ein Mädchen vom Land und ein Riesenschwein behaupten müssen.

Und so funktioniert Okja als Abenteuerfilm dann auch ganz herausragend: Er etabliert die Bedrohung auf clevere Weise und hält mit dieser Spannung und die Action permanent aufrecht. Und um damit die Eingangsfrage zu beantworten: Ja, das geht. Trotz allen politischen Überbaus, trotz der kaum verhohlenen Vegetarismus-Agitation ist Okja ein herzerwärmender Action-Trip, ein rasantes und spritziges Abenteuer, ebenso aber auch eine herzergreifende Tragikomödie über eine von außen bedrohte Freundschaft und nebenbei noch eine superbe Satire auf die Wirtschafts- und Konsumgesellschaft westlicher Ausprägung. Insofern soll es an dieser Stelle eine Randnotiz bleiben, dass der Film vom ignoranten Cannes-Publikum ausgebuht wurde (als vermeintlicher Vertreter von Netflix und damit anscheinend Sinnbild für die Bedrohung des Kinos durch die Streamingwelt). Das hat er nämlich nicht verdient. Ganz im Gegenteil, er ist der beste Beweis dafür, dass auch in Netflix-Zeiten außergewöhnliche, fantastische und originelle Filme möglich sind, in diesem Fall sogar ein Film, an den sich ein klassisches auf die cineastische Auswertung konzentriertes Studio überhaupt nicht rangewagt hätte.

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