Die besten Filme 2018: Border von Ali Abbasi

Fast 100.000 Kontrollen von Menschen und Gütern führt die schwedische Zollbehörde Tullverket jährlich durch. Sie kassiert Zollabgaben und vereitelt den Schmuggel von Drogen und anderen illegalen Waren. Tina (Eva Melander) arbeitet als Zollbeamtin an einem Fährenübergang zwischen Dänemark und Schweden und gehört ohne Zweifel zu den besten ihres Berufes. Das liegt an ihrer außergewöhnlichen Gabe, Gefühle wie Scham, Schuld, Angst und Wut im wahrsten Sinne des Wortes riechen zu können. Tina indes würde ihre Gabe nie als solche betrachten, sondern viel mehr als Fluch: „Ich dachte als Kind, ich wäre etwas besonderes. Als ich erwachsen wurde, habe ich dann begriffen, dass ich nur ein hässlicher Mensch bin“, sagt sie, und bezieht sich damit auf ihr ungewöhnliches Äußeres: Mit ihrer hervorstehenden Nasen- und Augenpartie, mit ihrem markanten Kiefer und ihren aufgequollenen Lippen scheint ihre Physiognomie archaisch, fast urzeitlich. Ali Abbasis Film Border (2018) folgt dieser besonderen Frau auf ihrer Suche nach sich selbst und einem Platz im Leben. Er beobachtet sie nicht nur, er versteht sie auch, umgarnt sie. Aber er konfrontiert sie auch; mit all dem Schrecklichen, zu dem Menschen fähig sind, mit ihrer eigenen dunklen Vergangenheit und schließlich einer Parallelwelt, in der sie sich selbst findet und dazu gezwungen ist, sich zu entscheiden, wer sie sein will. Mit diesem über Genregrenzen hinausgehenden Porträt gelingt Ali Abbasi nicht nur einer der besten Filme des Jahres, sondern auch ein atemberaubender Hybrid aus Drama, Märchen, Mysterythriller und düsterem Horrorgemälde.

Zwei Twists sind es, die die Handlung von Border prägen. Und beide Twists brechen ziemlich radikal mit den Genrekategorien, in denen sich der Film zuvor vermeintlich bewegt hat. Dass es sich hierbei um einen Thriller oder gar einen Fantasyfilm handeln könnte, ist in der ersten Hälfte von Border nämlich alles andere als ersichtlich. Im Prolog wird sich erst einmal Zeit gelassen. Primär Zeit, um diese vielschichtige Tina kennenzulernen. Sie hat sich eingerichtet in ihrem Dasein zwischen monotonen Grenzkontrollen und dem abgeschiedenen Leben mit ihrem platonischen Gefährten Roland (Jörgen Thorsson), mit dem sie eine eheähnliche Beziehung führt, der aber jegliche Körperlichkeit oder emotionale Nähe fehlt. Wir sollen verstehen, warum Tina so lebt, warum sie sich mit dem wenigsten zufriedengibt, warum sie das Streben nach Glück längst aufgegeben hat. Die Kamera versteht sie dabei nicht nur, sondern umgarnt sie geradezu. Im Gegensatz zu allen in ihm vorkommenden Figuren, die ihr entweder Gleichgültigkeit oder professionelle Distanz entgegenbringen, ist der Film selbst geradezu verliebt in diese Tina. Mit einem genauen Blick für ihre eigenwillige Schönheit folgt er ihr, lässt sich auf sie ein und lässt sie nicht aus den Augen. Die Filmperspektive wird peu á peu auch zur Perspektive des Publikums. So gleichgültig und distanziert vom Geschehen und von Tina fast alle anderen – primär männlichen – Protagonisten wirken, so menschlich wirkt Tina in ihrer Introvertiertheit. In der ersten Stunde ist Border in erster Linie ein leises, humanistisches Drama, ein trauriges Gesellschafts- und Menschenporträt über Einsamkeit und Leere.

Zwei Geschehnisse sind es, die die Handlung, die Atmosphäre des Films und Tinas Leben durcheinander werfen. Bei der Routinekontrolle eines Verdächtigen entdeckt Tina Dank ihres Spürsinns eine Speicherkarte voller Kinderpornografie. Die Polizei, beeindruckt von ihren Fähigkeiten, bittet sie bei den Ermittlungen nach den Machern der Videos zu helfen. Außerdem tritt der mysteriöse Vore (Eero Milonoff) in Tinas Leben. Seine Physiognomie entspricht exakt der ihren. Er scheint ein Landstreicher zu sein, ein rastlos Wandernder und ein Mensch, der seine animalische Seite nicht nur akzeptiert sondern auch nach außen kehrt. In der sich entwickelnden Romanze zwischen den beiden implodiert die gesamte zuvor aufgebaute Atmosphäre. Border wird plötzlich in Farben getaucht, nicht nur narrativ sondern auch wortwörtlich, bildtechnisch. Der zuvor blauschwarz grundierte depressive Ton wird zerrissen, das Mysterydrama wird zum lebendigen Märchen und Tina entwickelt zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Selbstvertrauen. Border wandelt plötzlich auf anderen Pfaden und präsentiert in Ansätzen die wohl schönste Liebesgeschichte des Jahres 2018: Als Traum, als märchenhafte Fantasie, als fantastisches Märchen, vor allem aber als warmherzigen Veitstanz zweier gesellschaftlicher Außenseiter. Wie er hier mit Motiven von unschuldiger Romantik gepaart mit animalischer Sexualität spielt, ist nicht nur schön anzusehen, sondern auch ein großartiges Tangieren von Themen wie Trans- und Intersexualität, gar nicht so unähnlich dem schwedischen Horrorklassiker Låt den rätte komma in (2004). Dabei verfällt er auch dem Parabolischen, Fabelhaften, bleibt aber wie bereits in seiner ersten Stunde eng genug an der Protagonistin, um ihre Befindlichkeit nicht einer universellen Erzählung zu opfern. Auch als Fabel ist Border ganz dicht an Tina, umgarnt sie, bezirzt sie und gibt ihr – und dem ihr mittlerweile auch verfallenen Publikum – eine unglaublich starke Genugtuung und Befreiung.

Es ist erstaunlich, dass es dem Film tatsächlich gelingt in diesem emotionalen Interludium sein davor und danach fast vergessen zu machen. Er taucht ein in tiefes, bedingungsloses Glück und lässt kurz vergessen, in welcher Welt er spielt. Aber diese Welt bleibt bestehen, auch im Traum, auch in der radikalen Flucht. Und hier schlägt schließlich der Twist des Schlussdrittels brutal zu. In diesem wandelt Border auf fast schon klassischen Genrepfaden, entzieht seiner Welt alle Farben und wird zum grausam ambivalenten Horrordrama. Wie tief in die Magengrube dieser Schlag reicht, hängt nicht zuletzt davon ab, wie sensibel der Zuschauer oder die Zuschauerin auf die oszillierenden Themen reagiert. Sicher wird Border nie zu einem reinen Horrorfilm, aber er schafft es virtuos mit Versatzstücken des Genres zu spielen und dabei eine verdammt beklemmende Atmosphäre aufzubauen. Dabei berührt er nicht zuletzt auch die Grenzen des düsteren skandinavischen Ermittlungsthrillers – von dem es im letzten Jahrzehnt so viele / zu viele zu bestaunen gab -, bleibt dabei aber genuin genug, um nie zur bloßen Genreblaupause zu verkommen. Nein, bei allen ästhetischen und narrativen Referenzen ist Border doch ein sehr eigenständiger, einzigartiger Film. Ein Film, der sich Dank seiner subtilen emotionalen Wärme allen Düsterfilmkonventionen entzieht, der immer wieder Erwartungen trotz, sie unterläuft oder komplett aushöhlt. Auch in seinen dunkelsten Minuten bleibt er ganz dicht dran an seiner Protagonistin Tina, sie ist und bleibt sein Epizentrum. Herausragend gespielt von Eva Melander, deren Präsenz auch eine aufwendige Maske nichts anhaben kann, perfekt und empathisch eingefangen von der menschlichen Kamera und nie von der Geschichte verschluckt, ganz im Gegenteil, von ihr und durch sie entfaltet.

Border ist ein poetisches schwedisches Filmjuwel, ein Porträt, ein Märchen, ein düsteres Thrillerdrama, das Erwartungen sprengt und eine ganz und gar eigenständige Erzählhaltung entwickelt. Dank seines Mutes, seiner Schönheit und seiner Rdikalität ohne Zweifel einer der besten Filme des Jahres und einer der besten skandinavischen Filme des Jahrzehnts.

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