Die besten Horrorfilme 2019: Midsommar – Wie viel Horror steckt in Ari Asters neuestem Geniestreich?

Wir leben in goldenen Zeiten für Horrorfilmliebhaber. Seit schon längerer Zeit kommen praktisch jedes Jahr mindestens ein oder zwei Filme heraus, die das Genre nicht einfach nur bedienen, sondern erweitern, ergänzen und seine Grenzen sprengen. Post-Horror ist in diesem Fall das Zauberwort. Und egal, ob man diesen Begriff für einen großen Spuk der Kritikerschar hält oder für eine legitime neue Subgenre-Schublade, man muss zweifellos anerkennen, dass der Horror der ungewöhnlichen Art gerade blüht und gedeiht. Eine der größten Hoffnungen dürfte dabei Ari Aster sein, wurde sein letztjähriger Genrebeitrag Hereditary (2018) nicht einfach nur gefeiert, sondern vom Feuilleton gleich zum besten Horrorfilm der Dekade gekürt. Und irgendwie ist es ja auch nachvollziehbar: Hereditary war eine verflucht mitreißende, verflucht angsteinflößende Mischung aus Familiendrama, Tragödie und brutalem Okkulthorror: Schmerzhaft, kompromisslos und der Beweis, dass Horror auch im 21. Jahrhundert noch verdammt gut zu erschrecken weiß. Entsprechend neugierig war die Zuschauerschaft auf Asters Nachfolgewerk, Midsommar (2019), genau ein Jahr nach Hereditary, ebenfalls im Horrorgenre beheimatet und ebenfalls mit dem Potential, Genregrenzen neu zu definieren. In der Tat weiß der Sektenthriller ebenfalls – nicht nur aber auch Freunde seiner Vorgängerin – zu überraschen; nur eben wiederum auf ganz andere Weise.

Nach einem schweren Schicksalsschlag in ihrer Familie muss die Doktorandin Dani (Florence Pugh) erfahren, dass ihr Freund Christian (Jack Reynor) zusammen mit seinen Kommilitonen und besten Freunden eine Reise nach Schweden geplant hat, ohne Dani miteinzubeziehen. Spontan entschließt sich Dani an der Reise teilzunehmen, obwohl ihre Beziehung zu Christian schon länger toxische Züge trägt und kurz vor dem Scheitern zu stehen scheint. Ziel der Reise ist die die Siedlung Hårga in Hälsingland, in der Christians Studienfreund Pelle (Vilhelm Blomgren) aufgewachsen ist. Zur Sommersonnenwende gibt es dort praktisch keine Dunkelheit und die Einwohner der Siedlung zelebrieren abgeschottet von der Außenwelt ihre ganz eigenen Rituale, die teilweise zuckersüß, teilweise befremdlich, teilweise rundheraus verstörend sind. Entsprechend unterschiedlich reagieren die Amerikaner auf den kultischen Reigen. Dani versucht, soweit es möglich ist, sich auf die Gemeinschaft zwischen schwedischer Folklore, Pantheismus und Hippiekult einzulassen, muss aber bald feststellen, dass diese ungewöhnliche Gruppe weitaus brutalere Rituale kennt, als die Wald- und Wiesenromantik auf den ersten Blick vermuten ließe.

Wie bereits Hereditary lässt sich Midsommar Zeit, bis er zur Sache kommt. Noch länger als Asters Debüt in den Sphären einer Familientragödie schwebte, bewegt sich Midommar im Rahmen eines pessimistischen Beziehungsdramas. Das gelingt ihm wirklich gut, auch wenn er dabei nicht ganz die Dichte seiner Schwester im Geiste erreicht. Tatsächlich ist sein Job aber auch deutlich härter: War es in Hereditary vor allem das Fehlen an Kommunikation, das als Ursache und Symptom über der dysfunktionalen Familie schwebte, ist die im Zentrum Midsommars stehende Beziehung eher von einem zu viel an Kommunikation oder zumindest einem zu viel an falsch laufender Kommunikation geprägt. Dadurch ist der Film gerade in seinem ersten Drittel äußerst gesprächig und dialogfreudig. Viel von dem, was wir sehen, wird unter den Charakteren kommuniziert und diskutiert. Das mag der Atmosphäre abträglich sein, sorgt aber zugleich für einen äußerst realistischen Rahmen, in dem menschliche / soziale Verhaltensweisen ausgelotet werden. Dieser Realismus des urbanen Studentenlebens wird radikal aufgebrochen, sobald sich die Gruppe auf die Reise an den äußersten Rand Skandinaviens begibt. Zum Glück haben wir die Charaktere bis dahin gut kennengelernt, denn was folgt, ist ein visuell rauschhafter Trip in träumerische – peu à peu – alptraumhaft werdende Sphären.

Midsommar lebt im folgenden von seiner überwältigenden Ästhetik, die sich vielen Horrorkonventionen entzieht. Allein die Tatsache, dass der Hauptteil des Films in absolutem Licht stattfindet, sprengt nicht nur alle Genreklischees sondern sorgt dennoch und gerade deswegen für eine unheilvolle Atmosphäre. Hårga ist eine lichtdurchflutete Waldlichtung. Der Himmel scheint so weiß wie die Gewänder der Gemeinschaft, die Sonne ist gleißend, eine Möglichkeit sich auf der offenen Wiese zurückzuziehen scheint kaum gegeben zu sein. Die Orte, an denen Midsommar stattfindet, sind ein Alptraum für jeden Agoraphobiker. Die Gemeinschaft, deren Glaubenssystem lange im Dunkeln bleibt, ist omnipräsent. Sie sieht, urteilt und reagiert auch, hat jederzeit alles und jeden unter Kontrolle. Im hellen Schein der mittsommerlichen Sonne scheinen die Protagonisten und Protagonistinnen in einer Art jüngsten Gericht gelandet zu sein. Und sie sind es, die mit ihrem urbanen Lebensstil, mit ihren Ticks und Neurosen auf der Anklagebank sitzen. Äußerst geschickt gelingt es Midsommar mit fesselnden Totalen und desorientierten Nahen die Neuankömmlinge zu Identifikationsfiguren zu machen und gleichzeitig ständig zu vermitteln, dass sie es sind, mit denen etwas nicht stimmt, während die Dorfgemeinschaft auf ihre eigene, exzentrische Weise intakt ist. Hier wird dann auch weniger erzählt als viel mehr gezeigt und verborgen… immer genug verborgen, um die Spannung aufrecht zu halten, ebenso wie die Frage: Ist hier wirklich alles intakt? Welche Überraschung hat dieser bizarre ethnologische Trip noch zu bieten? Midsommar ist visuell weniger Horrorfilm als viel mehr Drama und Trip

So originell die visuelle Umsetzung und Genreverortung sind, so eklektisch sind die Motive und narrativen Mosaikteile des Films. Midsommar bedient sich hier reichlich bei der Tradition der Folkhorrorfilme, insbesondere The Wicker Man (1973), aber auch der zeitgenössischere Kill List (2011) oder die folkloristische Horror Mär The Vvitch (2016) scheinen mehr als nur einer Szene als Inspiration zu dienen. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, da dies zwischenzeitlich der einzige Kitt zu sein scheint, der Midsommar überhaupt noch im Genre hält. Es ist in den letzten Jahren viel über Post Horror geredet worden, aber noch nie in der Geschichte des noch jungen Subgenres lag derart offensichtlich die Frage auf dem Tisch: Ist das überhaupt noch ein Horrorfilm? So sehr die Motive Midsommars Klassikern des Horrorgenres entlehnt sind, so wenig ist deren Ausführung im Gere verhaftet. Dass es keine Jump Scares gibt? Geschenkt. Auf die sollte derzeit ohnehin jeder gute Horrorfilm mit ein bisschen Anstand so weit es geht verzichten. Nein, auch beim Aufbau von subtilem Schrecken hält sich Midsommar sehr weit zurück. Und das betrifft eben nicht nur den dramatischen Prolog, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film. Midsommar verschließt sich nicht nur Horrorkonventionen, zwischenzeitlich scheint er gerade zu zu vergessen, dass es so etwas wie Horrorstilmittel überhaupt gibt.

Diese Selbstdistanzierung vom Genre ist Stärke und Schwäche zugleich. Stärke, weil er so trotz großzügiger Inspiration stets originell und auch unvorhersehbar bleibt. Schwäche, weil sein eskalierendes Moment durch den Verzicht auf Horrortrademarks fast komplett untergeht. Das verführerische an Post Horror Filmen bis dato war ja immer, dass sie die Daumenschrauben langsam angezogen haben, gerne auch mal zwei Drittel ihrer Spielzeit nichts mit dem Genre zu tun hatten, am Ende aber dennoch zum wahnwitzigen Schrecken fanden, gerne auch Over the Top, bis für den Zuschauer kaum noch auszuhalten war. Gerade Hereditary kommt einem hierbei wieder in den Sinn, lieferte der Okkulthorror doch ein Finale, das mit seinem kreischenden Terror irgendwann jenseits von Gut und Böse war. Und ja, auch das brachte Schwächen mit sich, ließ den Film gegen Ende fast zu unfreiwilliger Komik kippen. Und in meiner damaligen Rezension habe ich auch angemerkt, dass ihm ein subtileres Finale wahrscheinlich weitaus besser zu Gesicht gestanden hätte. Tragische Ironie in Ari Asters Œuvre: Midsommar stünde wahrscheinlich ein radikaler, perverser eskalierenderes Ende weitaus besser zu Gesicht als das bis zum Schluss durchgezogene tragische Narrativ, während Herditary ein melodramatischeres Ende wie das Midsommars gutgetan hätte.

Das ändert freilich nichts daran, dass es sich bei beiden Filmen um herausragende Werke handelt. Und auch wenn sie in diesem Text jetzt doch ein paar mal miteinander verglichen wurden, Filme, die so unterschiedlich sind, dass es müßig wäre, darüber zu diskutieren, welcher denn nun der bessere ist. Vielleicht kann man es so sagen: Hereditary ist tendenziell eher für ein Publikum, das von einem Horrorfilm übernatürlichen, Schrecken einflößenden Horror erwartet. Midsommar ist für ein Publikum, das davon nichts braucht. Ja, vielleicht sogar ein Publikum, das Horrorfilme gar nichts mag, jedoch nichts gegen ein paar Genrereferenzen hat, so lange drumherum ein packendes Thrillerdrama inszeniert wird. So oder so: Post Horror und Anti Horror als Phänomene des jüngsten Horrorfilms werden uns mit Sicherheit noch eine Zeit lang begleiten. Und wenn das weiter so gekonnt geschieht wie in diesem Fall, gibt es auch genug Gründe, diese Entwicklung und ihre Radikalisierung fasziniert zu begleiten.

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