Der Nachtmahr (2015) – Deutscher Genrefilm als enervierender Horrortrip

Die große Gretchenfrage des deutschen Films ist und bleibt „Wie hältst du es mit dem Genre?“. Bei allem Lob für große Filmbewegungen, vom Neuen Deutschen Film der 70er Jahre bis zur Berliner Schule des letzten Jahrzehnts, bleibt sie virulent und wird wohl auch immer virulent bleiben. Es gibt zwei Geschichten zur Beantwortung dieser Frage. Die erste geht ungefähr so: Der deutsche Film kann keine Genres. Er kann es einfach nicht. Punkt. Die besten und erfolgreichsten Filme aus Deutschland waren immer Dramen oder Komödien. Jeder Versuch, Fantasy, Horror oder Science Fiction zu erzählen, ist krachend gescheitert. Und selbst wenn mal ein guter Film dabei herausgekommen ist, war das Ergebnis doch weitaus mehr Drama als irgendetwas anderes. Dann gibt es aber auch noch eine zweite Geschichte. Sie handelt von nicht gesehenen und vergessenen Perlen, von Genre-Meisterwerken, die sich nicht vor der amerikanischen oder internationalen Konkurrenz verstecken müssen. Filme die dezidiert deutsch sind und es dennoch schaffen, Fantastisches, Ungewöhnliches, Besonderes mit fantastischen, ungewöhnlichen, besonderen Mitteln zu erzählen. Eine wesentliche Protagonistin dieser Erzählung – zumindest in den 2010ern – dürfte AKIZ‘ Mysteryhorrordrama Der Nachtmahr (2015) sein. Ihm gelingt es eine fantastische, düster morbide Geschichte zu erzählen und sich zugleich ganz tief vor der Jugendkultur der 2010er Jahre zu verbeugen.

Die siebzehnjährige Tina (Carolyn Genzkow) ist mit ihren Freundinnen und Freunden jedes Wochenende in der alternativen Berliner Clubszene unterwegs. Partys werden viele gefeiert: In Privatwohnungen, im Wald, oder auch in einem Freibad, in das heimlich eingebrochen wurde. Eines abends wird Tina von einem seltsamen, kleinen, monströsen Geschöpf heimgesucht, das sich zuerst in ihrem Kopf und schließlich ganz real bei ihr zu Hause einnistet. Niemand außer ihr kann das Mischwesen zwischen Mahr, Kobold, Embryo und Monster sehen. Es plündert den heimischen Kühlschrank, schreit nach Aufmerksamkeit und Zuneigung und will Tina einfach nicht in Ruhe lassen. Schließlich offenbart sich, dass es eine merkwürdige Verbindung zwischen Tina und ihrem Geschöpf gibt: Was das Wesen erleidet, widerfährt auch seiner unfreiwilligen Besitzerin. Dies wird schließlich zur Gefahr, als doch andere Menschen auf die Existenz des Nachtmahrs aufmerksam werden, allen voran Tinas besorgte Eltern.

Was ist dieser titelgebende Nachtmahr, der Tinas Leben durcheinander bringt? Ein Schreckgespenst? Ein alptraumhafter Vorbote eines möglichen Todes? Womöglich ein Symbol? Für eine ungewollte Schwangerschaft? Für das Erwachsenwerden ganz generell? Für ihr unausgeglichenes Selbst zwischen Hedonismus, Melancholie und purer Verzweiflung? Was das Wesen sein soll und warum es Tina heimsucht, lässt der Film konsequent offen. Mehr noch, er lässt offen, ob er überhaupt parabolisch und symbolisch sein, oder viel mehr, tatsächlich doch ein klassisches Genrestück erzählen will. Und so pendelt auch die gesamte Narration konsequent inkonsequent zwischen Coming-of-Age Parabel, Fantasy, Horror und Mystery mit surrealen, kafkaesken Einschüben. Was ihm dabei unfassbar gut gelingt, ist es, die Logik des Traums oder viel mehr die Logik des Alptraums auf die Leinwand zu bringen. Mit aggressiven und verstörenden Weitwinkelaufnahmen werden offene wie geschlossene Räume über ihre reale Beschaffenheit hinaus aufgebrochen. Abrupte Wechsel zwischen lange gehaltenen Totalen und brutalen Nahen, Wechsel zwischen lauten, kakophonen Orgien und stillen, stagnierenden Momenten sorgen für Verlorenheit, permanente Anspannung und ein vages Gefühl der Angst. So fühlt man sich als Zuschauer der Protagonistin immer gefährlich nahe, ebenso wie man sich von den Geschehnissen um sie herum distanziert fühlt. Wie Tina selbst gehen wir in Raum und Zeit verloren. Was ist Vision, was Wirklichkeit? Was ist Alptraum oder Drogenrausch? Wie real, wie physisch ist das unheimliche Geschöpf und kann man ihm entkommen? Will man ihm überhaupt entkommen oder soll man sich nicht viel mehr dem stellen, was es mitzuteilen hat?

Der Film folgt dabei fast ausschließlich der Wahrnehmung Tinas. Ihre Begegnung mit dem Nachtmahr besitzt dadurch immer den Vorbehalt des Zweifels, insbesondere wenn diese kontrastiert wird durch andere surreale, irreale Vorkommnisse, in denen Raum und Zeit aufgehoben werden. Wilde Technobeats und laute Störgeräusche begleiten uns dabei auf der Abwärtsspirale, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt. Zu Beginn warnt uns eine Texttafel vor Lichteffekten, die Epilepsie auslösen können und binauralen Frequenzen. Während wir noch darüber nachdenken, ob es sich dabei um einen Witz handelt, legt das Intro auch schon nach: Wie auch immer… Dieser Film sollte laut abgespielt werden! Und das ist Programm. Die alptraumhafte Logik seiner Geschichte vermengt Achim Bornhak alias AKIZ vor einer tiefen Verbeugung vor der halblegalen alternativen Techno- und Clubkultur des heutigen Berlins. Ein bisschen so als hätten sich William S. Burroughs Drogenfantasien im fiebrigen Rausch eines Lola rennt (1998) verirrt, als bräuchte der Horror zum Ausgleich den Genuss einer anarchischen, ungeheuren Clubnacht. Tina wächst an beidem, wie es scheint: Dem Rausch und dem Kater, dem sich Fallen lassen unter Menschen und dem Horror des Alleinseins, dem Ruhen in der eigenen Gedankenlosigkeit und der angespannten Konfrontation mit einer absonderlichen Kreatur, der nicht zu entkommen ist. Der Nachtmahr ist universeller Alptraum wie spezifischer Rausch, Fest und Irrsinn, Hilflosigkeit und Selbstermächtigung.

Dass wir all das mitfühlen können, ist neben der fantastischen, aggressiven Inszenierung vor allem dem sensationellen Schauspiel Carolyn Genzkows zu verdanken. Ihre Tina ist ebenso lebensdurstig wie zerbrechlich, oszilliert ständig zwischen dem Wunsch nach Geborgenheit, der Angst vor zu viel Nähe und radikaler Introspektion. Neben ihr verblassen folgerichtig auch so ziemlich alle anderen Charaktere, scheinen mitunter sogar absichtlich so besetzt, dass sie im Off verschwinden können. Das betrifft vor allem Julika Jenkins und Arnd Klawitter als Tinas Eltern. Deren Rollen sind fast vollkommen auf die von Beisitzenden, Zuschauenden verkürzt. Ihr Unverständnis, ihr Nichtglauben und auch ihre Hilflosigkeit spiegeln dabei die Reaktionen des Publikums wider. Sie sind die, die sehen und verstehen wollen, aber weder das eine noch das andere können. In ihnen werden wir mit unserer eigenen Rezeption des Geschehens konfrontiert: Ach wie leicht wäre es doch, in Tinas Begegnung eine Psychose, einen schlechten Trip oder ein bloßes Symbol zu sehen! Wie befreiend wäre es doch, wenn sich alles Geschehen als temporärer Alptraum entpuppt! Nur, wir ahnen bereits, dass uns AKIZ diesen leichten und bequemen Weg nicht schenken wird.

Stattdessen stürzt er uns immer tiefer hinein in den Alptraum eines Teenagers, der auch zu unserem Alptraum wird. Der Nachtmahr ist Coming of Age, ist Mystery und Surrealismus, ist dann kurzfristig sogar astreiner Horrorfilm; und schämt sich nicht, bei all diesem Mäandern zwischen den Genres das Attribut des Genrefilms voll auszureizen. Gerade mit seinem Irren durch die Berliner Clubkultur, durch das Kontrastieren von exzessivem Nachtleben mit dem Familiendasein im spießigen Berliner Randbezirk, durch den Einsatz harter elektronischer Beats, durch die stoische (mitunter hölzerne) Dialogregie, durch seinen manchmal rauen Dokumentarismus bleibt er dabei dezidiert „deutsch“ und versucht gar nicht erst sich an Vorbildern aus dem amerikanischen Raum anzubiedern. Der Nachtmahr ist das, was es viel zu selten zu sehen gibt, und was uns in dieser Form jedes Mal schmerzlich bewusst macht, wie sehr es uns fehlt: Ein (Post-)Horrorfilm, der das Genre auskostet und transzendiert, ein böser Trip zwischen Coolness und Zertrümmerung aller Konvention. Ein echter deutscher Genrefilm, eine Seltenheit, ein Ereignis!

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