Die besten surrealen Filme und die besten Mysteryfilme der 90er Jahre

Das Mystery-Genre war in den 90ern – ebenso wie der Surrealismus seit jeher – eine filmische Gattung die eher an der Peripherie stattfand. Für ein Massenpublikum waren die Themen der Filme meist zu obskur, die Erzählhaltungen zu distanziert. Aber abseits von Hollywood gelang es dem Genre dennoch sich eine treue Fangemeinde zu erarbeiten. Insbesondere die Filme von David Lynch – der auch in den 00er Jahren überfleißig war – haben sich zu echten Kultfilmen der Szene entwickelt. Und dann gab es da natürlich noch den berühmten Mysteryboom in der zweiten Hälfte der Dekade: Angestachelt durch die TV-Erfolge von Akte X und schließlich den Höhepunkt mit dem Kassenschlager und Instantklassiker „The sixth Sense“ erlebend. Ironischerweise brachte die folgende Schwemme an Mystery-Epigonen keinen einzigen herauragenden Genrebeitrag hervor, stattdessen nicht viel mehr als ein müde Reihe an Plagiaten, die in die 00er Jahre hinüberschwappten, um das Publikum dort zu langweilen. Anyway, trotz des subkulturellen Flairs des Mystery, trotz der praktischen Nichtvorhandenheit des Surrealismus in den Kinosälen, gibt es hier auch in den 90ern so manches Entdeckenswertes. Wir haben es gesammelt…

Jacob’s Ladder [Adrian Lyne]

(USA 1990)

Ein düsterer Alptraumtrip zwischen traumatischer Tragödie, existenziell bedrohlichem Mysteryhorror und der surrealen Verzahnung von Traum und Wirklichkeit ist der Thriller Jacob’s Ladder – In der Gewalt des Jenseits. Die Geschichte eines traumatisierten Vietnamveteranen (ganz groß: Tim Robbins) pendelt geschickt zwischen Drama und Horror, arbeitet sich tief in psychoanalytische Ebenen vor und landet schließlich bei altraumhaftem Surrealismus. Mitunter vielleicht etwas zu sentimental, in seinen stärksten Szenen aber ungemein gruselig und aufrüttelnd. Und durch die düstere Vermischung von Realität, Fiktion und Potentialität einer der unheimlichsten Filme des Jahrzehnts überhaupt.

Schrei in der Stille [Philip Ridley]

(Großbritannien, Kanada 1990)

Ebenfalls zwischen den Genres bewegt sich das ebenso malerische wie düstere Drama „Schrei in der Stille“ von Philip Ridley. Dabei hat er mit einer klassischen Coming-Of-Age-Geschichte erst einmal ein traditionelles Fundament, welches er aber sukzessive zerstört, während er sich auf immer dunkleren Pfaden bewegt. Die innerlichen Ängste des kindlichen Protagonisten werden nach aussen projeziert, eine harmlose Nachbarin wird zu einer potentiellen Vampirin, die Mutter zur besessenen spirituellen Fanatikerin, der Vater zur Bedrohung und schließlich zum Trauma. Kontrastiert werden dabei immer Bilder von impressionistischer Unschuld mit einer düsteren Welt außerhalb des kindlichen Mikrokosmos: Pädophilie, Mordlüsternheit, Inzest, Selbstgeißelung und dunkle, schwarze Vorahnungen vom Ende der Kindheit. Ein tragischer, verstörender und mitreißender Psychotrip, poetisch und grausam, unschuldig und infam… und alles andere als ein realistisches Jugendporträt, aber gerade deswegen so einzigartig.

Twin Peaks – Der Film [David Lynch]

(USA 1992)

Ja, „Twin Peaks – Fire Walk  With Me“ kann es nicht mit der Serienvorlage aufnehmen, was alles andere als eine Schande ist. Immerhin setzte das düstere Kleinstadtpanorama Standards für die 80er Jahre TV-Landschaft. Aber die Verfilmung, das Prequel zu der Serienhandlung ist dennoch ein würdiger Abschluss für die erste Twin Peaks Staffel. Der Mord an Laura Palmer – die Initialzündung für die mysteriösen Geschehnisse in dem kleinen US-Städtchen – wird gezeigt, durchleuchtet und herbeibeschworen. Und dies gelingt David Lynch in vollkommen abseitigen, verzerrten Bildern, in düsteren Szenenkompositionen und in einer immer wieder ausfransenden, alles andere als konsistenten Geschichte. Ein großartiger, komplexer und verspielter Mysterythriller, mit Sicherheit nicht der beste Film David Lynchs, aber ein wichtiger Teil seines Schaffensprozesses.

Cure [Kiyoshi Kurosawa]

(Japan 1997)

Ein ziemlich verstörender Beitrag zum Mysterygenre der ausgehenden 90er ist der japanische Psychothriller Cure von Kiyoshi Kurosawa. Der sanft erzählte, dafür aber umso bedrohlichere Serienkillerfilm entwickelt sich von klassischen Krimimotiven sukzessive zu einem alptraumhaften, fantastischen Schocker zwischen Psychoanalyse, Spiritualität und abstrusen Hypnosetheorien. Ganz allmählich pirscht er sich an seine Zuschauer heran, lässt seine Protagonisten durch ein defätistisches, irreales Tokio irren, verliert sich in abstraktem Symbolismus und findet schließlich zu alptraumhaften Halluzinationen direkt aus der Psychoterrorecke. Ein unheimliches, verstörendes, nie ganz zu greifendes Terrordrama, das auf infame Weise mit seinen Protagonisten  spielt, ebenso wie mit den Zuschauern und schließlich in nahezu groteskem, kafkaeskem Horror endet.

Pi [Darren Aronofsky]

(USA 1997)

Mystery zwischen Genie und Wahnsinn erzählt Darren Aronofsky (Black Swan) in seinem Langfilmdebüt Pi. Gezeichnet in rohen, grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen vermischt der Film auf raffinierte Weise Motive aus klassischen Verschwörungstheorien, mit Psychothrillerkomponenten und monotonem, surrealen Horror. Dreckig und roh wirken dabei die unheimlichen Aufnahmen, in deren Redundanzen sich immer wieder die Furcht vor dem Realitätsverlust widerspiegelt. Bedrohlich wirken die abstrakten Gefahren, die sowohl von Innen als auch von Aussen auf den Protagonisten einstürzen, selbstverletzend wirkt die gesamte Atmosphäre, die sich in einen apokalyptischen, kafkaesken und klaustrophobischen Rausch hineinsteigert. Ein dunkler, schräger und pessimistischer Film zwischen Science Fiction, Kafka, Lynch und Cronenberg.

Lost Highway [David Lynch]

(USA 1997)

Ein unumstrittener Kritikerliebling war David Lynchs „Lost Highway“ nie. Dafür hat er sich umso mehr beim Publikum zum Klassiker entwickelt. Woran das liegt? Wie kein Zweiter bedient sich Lynch der Stilmittel des europäischen Autorenkinos, des Surrealismus und des absurden Theaters und kreuzt diese mit klassischen hollywoodschen Stilmitteln des Suspense, Horror und Thriller. Lost Highway ist so etwas wie die Initialzündung dieser Taktik… und er geht voll auf. Ein alptraumhafter Trip, ein surreales Geflächt, in dem Personen ihre Identitäten verlieren, in dem irreale Geisterfiguren auftauchen, in dem die Paradoxie zum wesentlichen dramaturgischen Mittel wird. Aber eben auch ein höchst unterhaltsamer Anti-Thriller, der trotz bewussten Bruchs mit jeder Logik eine äußerst spannende Noir-Hommage, einen unheimlichen Horrorthriller und ein spannendes Puzzle verkörpert. Dass sich die Teile nie ganz zusammenfügen lassen? Geschenkt. Das dunkle Vexierspiel mit dem Surrealen, mit der Angst des Publikums, mit der fehlenden Ordnung seines Kosmos wird zum einzigartigen, postmodernen Horrormeisterwerk.

Spiklenci slasti – Verschwörer der Lust [Jan Svankmajer]

(Tschechien 1996)

Puh… ja, Svankmajer eben. Wo Lynch bei jeder surrealen Destruktion immer noch ‚massentaugliche‘ Filme produziert, findet der tscheschische Regisseur schon in einem ganz anderen Kosmos statt. Die surreale Satire Spiklenci slasti ist ein groteskes Schaulaufen der extremen Bedürfnisse und bedürftigen Extreme. Mit einer dreckigen, rohen Bildsprache, die Stop-Motion mit klassischen Filmbildern kreuzt erzählt Svankmajer episodisch, wenn nicht zu sagen fragmentarisch, nimmt Handlungsfäden auf, lässt sie wieder fallen und zerstört seine realistischen Bezüge zur Gesellschaft immer wieder mit phantastischen, surrealen und traumatischen Ausschweifungen. Ein Brocken von einem Film, zwischen absurder Komik, grotesker Pervertierung und düsterer Gesellschaftskritik.

The sixth Sense [M. Night Shyamalan]

(USA 1999)

Da tut doch etwas stringente Mystery-Unterhaltung ganz gut. The Sixth Sense ist jetzt bereits ein Klassiker, der nicht ganz unschuldig ist an einer kurzen aber heftigen Mysterywelle zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Mal neben einem der berühmtesten Plottwists der Filmgeschichte (den mittlerweile so ziemlich jeder kennen dürfte) ist „The sixth Sense“ aber auch ein verdammt guter Mysterygruselfilm: Gemächlich erzählt, zwischen Horror und Tragik pendelnd, sehr gut gespielt und auch mit dem ein oder anderen Schockmoment, der pointiert gesetzt in die Glieder und Nerven des Publikums fahren darf. Eine elegische, düstere und zugleich merkwürdig distanzierte Geistergeschichte, die insbesondere in ihren ruhigen Momenten eine subtile, vage Bedrohlichkeit aufbaut, die sich im herausragenden Finale mit einem ebenso eiskalten wie pathetischen Hirnfick entlädt.

Flatliners [Joel Schumacher]

(USA 1990)

So etwas wie die Mutter des US-Mysterykinos der 90er Jahre. Die Geschichte von einer Hand voll Nachwuchsärzten, die sich zu Forschungszwecken töten und wieder reanimieren, ist ein elegantes, düsteres und mitunter sau unheimliches Mysterydrama, dass zwischen Metaphysik, Alptraum und sublimem Horror pendelt. Dabei bewahrt der in edlen Bildern erzählte Trip ins Reich zwischen Leben und Tod stets die Balance zwischen Psychothriller und fantastischem Grusel, geizt auch nicht mit humanistischen – streckenweise etwas moralinsauren – Tönen und findet immer in den Richtigen Momenten knappe, dafür aber umso prägnantere Terrortöne. Ein spannender und mitreißender Genrehybrid, hinter dessen klarer, glatter Oberfläche sich dunkle Abgründe auftun. Definitiv weitaus besser als sein Ruf und trotz des miserablen Remakes Wert wiederentdeckt zu werden.

Charisma [Kiyoshi Kurosawa]

(Japan 1999)

Und noch ein kleiner Geheimtipp vom Regisseur des 00er Horrormeisterwerks „Kairo“. Ebenso wie die Horrorapokalypse (die mit Pulse, ein flaches amerikanisches Remake spendiert bekam) lebt Charisma von seiner bedrohlichem Distanz zu dem Geschehen, dass von der absurden Disposition eines mysteriösen Baums ausgehend  sukzessive zur apokalyptischen Fabel wird. Dabei ist auch Charisma ungemein ruhig und leise erzählt, trägt die Bedrohung der Ereignisse immer latent im Hintergrund mit sich, bebildert das potentielle Grauen in statischen, schwermütig gehaltenen Totalen und lässt dabei vor allem das Ungesagte, Diffuse für sich arbeiten. Ein sehr spezieller, surrealer,  ruhiger und monotoner Horrortrip, dessen düstere Parabolität sich erst im Nachgang erschließt, dafür aber umso erschreckender und konkreter wird.

Dark City [Alex Proyas]

(Australien, USA 1998)

Der mittlerweile zum Kultfilm avancierte „Dark City“ ist einer der großen Vorreiter der Matrix-Franchise. Die Geschichte um eine mysteriöse, gedankenverlorene Stadt, das Spiel mit Realität und Virtualität ist ein rabenschwarzer Bastard aus düsterer Film Noir Hommage, High Tech Science Fiction, futuristischem Thriller und vagem Mysterypuzzle. Dabei ist es vor allem die bedrohliche, fantastische und absurde Atmosphäre, getaucht in diffuse Bilder, die den Film von anderen Genrebeiträgen abhebt. Ähnlich wie bei Cronenbergs Existenz (Die besten Science Fiction Filme) spielt der Film ein perfides Spiel mit seinem Protagonisten und den Zuschauern. Wem kann man trauen? Was ist real? was ist Verschwörung? Was ist Wahn? Ein spannendes filmisches Rätsel und ein paranoider, klaustrophobischer Mysterythriller in einer dunklen, beängstigenden Kulisse.

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Erstveröffentlichung: 2011