I’m Thinking of Ending Things (2020) – Experimenteller Egotrip, bewegende Seelenschau, surreales Meisterwerk

Just tell your story. Pretty much all memory is fiction and heavily edited. So just keep going. Es gibt ja durchaus so manche Künstler, denen man gerne mal in den Kopf steigen würde, so wie es in Spike Jonzes Being John Malkovich (1999) möglich ist. Der Drehbuchautor und Regisseur Charlie Kaufman gehört nicht dazu. Das liegt nicht daran, dass sein Inneres uninteressant wäre, ganz im Gegenteil, der Grund dafür ist viel mehr, dass wir regelmäßig einen erstaunlich transparenten Blick in seinen komplexen wie merkwürdigen Verstand erhalten… jedes Mal wenn der gute Mann einen neuen Film veröffentlicht. In Adaption (2002) machte er das noch offensichtlich, indem er sich einfach selbst in den Film hineinschrieb, der eigentlich eine Verfilmung des Romans The Orchid Thief sein sollte. In seinem überragenden Regiedebüt Synecdoche New York (2008) ließ er dann alle Hüllen fallen und generierte ein ebenso episches wie introspektives Drama über Leben und Leid des Künstlers (sich selbst?), und in Anomalisa (2015) entwarf er schließlich die Pathologie einer (seiner?) schizoiden Persönlichkeitsstörung unter der Camouflage einer surrealen Liebesgeschichte. Und auch seinen jüngsten Film – I’m Thinking of Ending Things (2020) – lässt er je nach persönlichem Empfinden zum Egotrip beziehungsweise zur eigenen, eigenartigen Seelenreise mutieren… und dass obwohl dieser zumindest zu Beginn überhaupt nicht danach aussieht.

In seinem Zentrum steht nämlich – und das ist erst einmal eine fette Überraschung bei Charlie Kaufman – kein Mann sondern eine Frau (gespielt von Jessie Buckley). Und obwohl sie keinen eindeutigen Namen erhält, ist es doch ihr Inneres, dass den gesamten Film über präsent ist. Zu Beginn wälzt sich dieses Innere in endlosen Monologen wie ein dunkler Mahlstrom über das Publikum. In Kreisen, immer wiederkehrend, anstrengend, redundant, zähflüssig und titelgebend: „I’m thinking of ending things. Once this thought arrives, it stays. It sticks. It lingers. It dominates. There’s not much I can do about it.“ Immer und immer wieder, so als wolle sie, so als könne sie ihre düsteren Gedanken in der permanenten Repetition auflösen. Aber sind das überhaupt ihre Gedanken? Denkt sie? Oder werden die Gedanken gedacht? Wird sie gedacht? Dass dies kein realistischer, innerer Monolog ist, wird spätestens dann deutlich, wenn die gedachten Worte direkt in die Realität übergreifen. Ihr Freund Jake (Jesse Plemons) – mit dem sie nach ein paar Wochen Beziehung im Auto zum Besuch bei seinen Eltern unterwegs ist – sieht sie bisweilen an, als könne er hören, was sie denkt. Abrupt fragt er sie, ob sie was gesagt hätte, und schließlich scheint er bewusst unterbrechend in ihren Gedankenstrom einzugreifen, so als könne er damit ihre Trennungsabsicht bekämpfen. Und dieses Übergreifen ihrer Gedanken in die Handlung, und das Übergreifen der Handlung in ihre Gedanken ist nicht das einzige Merkwürdige, was hier geschieht. Obwohl wir permanent ihren Gedanken ausgesetzt sind, kriegen wir die reale Person hinter dem inneren Monolog nicht zu fassen: Ist ihr Name nun Lucy, Lucia oder Louisa? Warum ist sie mal Dichterin, mal Quantenphysikerin, mal Malerin? Wie kann es sein, dass wir dieser Person so dicht auf der Pelle sitzen und uns ihre Persona dennoch ständig entgleitet?

Es gibt zu I’m Thinking of Ending Things eine Vorlage, den gleichnamigen Roman von Iain Reid aus dem Jahr 2016. Diesen vor oder nach diesem merkwürdigen Film zu lesen, kommt einem Spoiler gleich. Denn Charlie Kaufman macht wieder das, was er bereits mit dem Buch Der Orchideendieb angestellt hat. Hat er damals mit seiner Verfilmung Adaption noch ganz offensiv die Dekonstruktion des Werkes angepriesen, thematisiert und sich dabei von Reflexion zu Metaebene zu Metareflexion gearbeitet, geschieht die filmische Zerfledderung der literarischen Vorlage I’m Thinking of Ending Things deutlich subtiler und auch ein bisschen bösartiger. Der Roman von Iain Reid ist alles andere als gradlinig, hat auch seine pittoresken Metaebenen, seine verspielten, surrealen Brüche, aber diese werden nicht nur erzählt, sondern im Laufe der Handlung auch erklärt. Das literarische I’m Thinking of Ending Things ist heruntergebrochen ein düsteres Rätsel mit einer stimmigen Auflösung. Auf genau diese verzichtet Kaufman in seiner Verfilmung fast vollkommen und radikalisiert stattdessen das surreale Moment des Plots. Bei der Reise ins Unterbewusstsein darf es – zumindest anscheinend seiner Ansicht nach – keine Sicherheitsnetze geben, dafür aber umso mehr Fallhöhen, keine Schlüssel, dafür aber umso mehr verschlossene Türen.

Eine Reise ins Unterbewusstsein, genau das ist Charlie Kaufmans Film wieder einmal geworden. Lucy und Jake sind unterwegs zu seinen Eltern, aber eigentlich sind sowohl die Fahrt dorthin, als auch der Aufenthalt selbst nichts anderes als verschlungene Pfade hinein in Jakes Seelenleben. Lucy ist dabei so etwas wie die widerwillig Reisende, die, die sich eigentlich gar nicht auf den Weg machen wollte, und sich ständig fragen muss, wo und vor allem wie sie da nur reingeraten ist. Mehr und mehr wird sie zur Gefangenen, zuerst im symbolischen und schließlich auch im wortwörtlichen Sinne. Obwohl der Aufenthalt bei Jakes Eltern (Toni Collette und David Thewlis) im Zentrum des Films steht, nimmt er erstaunlich wenig Laufzeit ein. Aber er hat es dennoch in sich. Nach der tristen, deprimierenden Autofahrt wird das Publikum wie die Protagonistin hineingeworfen in den Wahnsinn dieses Haushalts, in dem Jakes Vergangenheit und Persönlichkeit verborgen liegt. Und die surrealen Störfeuer gehen weiter: Das Verhalten der Eltern wechselt scheinbar nahtlos von exaltiert, laut und exzentrisch, zu müde, phlegmatisch und lethargisch. Mal sind sie abweisend, geradezu feindselig, dann wieder übertrieben warmherzig, einladend, fast schon übergriffig nett. Und es ist nicht nur ihr Verhalten das wechselt. Weder ihre Kleidung, noch ihr Alter ist vor abruptem Wandel geschützt. Nicht einmal die Verfassung ihres Hauses ist vor den Gezeiten dieses Films sicher. Und bei all dem befinden wir uns erst auf dem Gipfel der Reise: Der folgende Abstieg ins Tal des Unterbewussten liegt noch vor uns.

Es ist nicht sehr schwer, bei all dem irgendwann den Überblick und womöglich auch die Lust zu verlieren. Ähnlich wie die letzten Arbeiten Kaufmans ist I’m Thinking of Ending Things ein schwerer, schwerfälliger, ein schwieriger Film. Er verlangt vom Zuschauer einiges ab, was Geduld, Suspension of Disbelief und Freude am Experiment betrifft. Und es sind nur wenige Interludien, in denen er mit geradliniger psychologischer Auseinandersetzung oder schwarzem Humor für die Geduld entschädigt. Ähnlich wie bei Synecdoche New York steht das abgründige Drama ganz im Mittelpunkt, und humoreske Momente scheinen eher sporadisch eingestreut, so als sollte damit dem Zuschauer zumindest ab und zu wenigstens ein kleiner Strohhalm zugeworfen werden. Ohnehin hat I’m Thinking of Ending Things deutlich mehr mit Synecdoche New York gemein, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Das, was dieser in einem großen Jahrzehnte überblickenden, Epos schilderte, erzählt I’m Thinking of Ending Things in einem intimen Kammerspiel und einer abgründigen Seelenschau. Das was Synecdoche in opulente, symbolträchtige Bilderwelten tauchte, verkürzt Ending auf poetische Monologe und diversifizierte Dialoge. Aber der Kern ist der gleiche: In beiden Filmen geht es um das Eintauchen in ein Seelenleben, um die Auseinandersetzung mit Leben und Sterben, mit Einsamkeit und der Suche nach einem Sinn im Leben. Sogar Jesse Plemons wirkt dabei in seinem verschlossenen, depressiven Spiel wie eine junge Version des damaligen Philip Seymour Hoffman. Mitunter so exakt, dass man das Gefühl hat Kaufmans „Mach es ein wenig mehr wie Philip!“ im Hintergrund hören zu können.

Die zweite große Referenz, die der Film – freiwillig oder unfreiwillig – mit sich trägt, ist David Lynch. Der Surrealismus hat es Kaufman ja schon immer angetan, aber dabei bewegte er sich nie so nah am Meister des populären, mainstreamtauglichen Surrealismus wie in diesem Film. I’m Thinking of Ending Things ist ein ungemein lynchesker Film, sowohl was Rüstzeug als auch Haltung zum Experimentellen und zur Avantgarde betrifft. Das Rüstzeug sind die wechselnden Persönlichkeiten und Personen, das Spiel mit Zeit und Ort, das Cross Referencing zu scheinbaren Nebensächlichkeiten, die sich als wesentliche Handlungsträger entpuppen, das Wandeln durch ein düsteres, tragisches Szenario, in dem man sich nichts und niemandem sicher sein kann. Die Haltung zum Experimentellen und zur Avantgarde, die Lynch und Kaufman in diesem Fall eint, ist dass diese immer mit einer gewissen Rücksicht auf das Publikum einhergeht. David Lynch nutzt surreale Motive und experimentelle Erzählweisen, um damit erstaunlich mainstreamige Filme zu gestalten, die zudem genau die Affekte erzielen, die man in ihrem Genre erwartet. Lost Highway oder Mulholland Drive brauchen keinen roten Faden, keine kohärente Erzählung, um spannende, unheimliche, Horror- und Mysterythriller zu sein. I’m Thinking of Ending Things macht das selbe mit dem Genre des Dramas: So abstrakt, surreal und verquer er teilweise ist, gelingt es ihm doch große Gefühle zu evozieren. Er braucht keinen roten Faden, keine klare Linie, um abwechselnd traurig, lustig, tragisch und verzweifelt zu sein. Obwohl wir nie so ganz verstehen, wieso, leiden wir doch mit, fiebern wir doch mit, sehnen wir uns doch mit. Surrealismus lässt sich packend und mitreißend erzählen. Es ist nur verflucht schwer. Charlie Kaufman gelingt es dennoch – ähnlich wie David Lynch – verblüffend einfach. Das ganze Setting von I’m Thinking of Ending Things lädt geradezu dazu ein, seinem Publikum verloren zu gehen. Dieser Schelm Charlie Kaufman gewinnt es aber immer wieder: Indem er es erschrickt, verzaubert, manchmal auch überwältigt, manchmal zum Lachen, manchmal zum Weinen bringt; aber vor allem, und das ist das Entscheidende, nie im Stich lässt.

Damit steht I’m Thinking of Ending Things natürlich auch irgendwie zwischen den Stühlen. Liebhaber des Experimentellen und der Avantgarde werden dieses Drama womöglich zu poppig, zu brav finden. Cineasten, die sich verzaubern und berühren lassen wollen, werden womöglich von der surrealen, abstrakten Handlung abgestoßen sein. Denn obwohl I’m Thinking of Ending Things kein reiner surrealer Film ist, so lässt er sich dennoch nicht einfach entschlüsseln. Obwohl er kein reiner Motivfilm ist, sind ihm seine Themen doch wichtiger als seine Handlung. Und obwohl er kein reiner Experimentalfilm ist, erfreut er sich doch sehr oft am Experimentieren mit filmischen und narrativen Möglichkeiten. Aber was für ein Film ist dieser merkwürdige Hybrid denn nun? Die Antwort käme – ähnlich wie eine Einordnung im Verhältnis zur literarischen Vorlage – einem Spoiler gleich. Nur so viel: Nach hinten raus entpuppt sich I’m Thinking of Ending Things mehr und mehr als typischer Kaufman, als Seelenschau, als Psychogramm, als Fahrt ins Unterbewusste des Filmschöpfers, wo die Logik von Raum und Zeit aufgehoben sind. Und er entpuppt sich dann auch ein wenig als Mogelpackung für all die, die wegen der Prämisse hofften, von Kaufman mal einen Film zu sehen, in dessen Mittelpunkt nicht Kaufman steht.

Das wäre dann auch schon das Fazit: Eigentlich macht Kaufman das, was er bereits in seinen letzten beiden Filmen gemacht hat. Mit dem Regiezepter in der Hand fährt er den Humor deutlich zurück und konzentriert sich lieber auf eine dramatische, mitunter auch depressive Seelenschau, in deren Zentrum Persönlichkeitsmerkmale stehen, die ziemlich offensichtlich direkt von ihrem Schöpfer kommen. So etwas muss man mögen, keine Frage… Und ja verdammt, ich liebe das! Seitdem der Mann als Drehbuchautor mit Being John Malkovich aufgeploppt ist, freue ich mich auf jeden seiner neuen Filme. Und auch wenn er als Regisseur seit seinem Regiedebüt Synecdoche New York deutlich schwieriger und düsterer agiert, verzaubert er mich doch ein ums andere Mal. Mit genau der richtigen Mischung aus Intellekt und Affekt, aus Psychologie und Surrealismus, aus artifizieller Abstraktheit und emotionaler Feuerkraft. I’m Thinking of Ending Things reiht sich perfekt hinter den beiden vorausgehenden Meisterwerken ein, ebenso wie diese als ein spezieller Film für einen speziellen Geschmack, aber in all seiner Verquastheit ohne Narzissmus und künstlerischen Snobismus. Nicht nur weil das Filmjahr 2020 bis dato so dünn war ein relevanter Kandidat für den besten Film des Jahres.

 

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

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