Kategorie: Kontrovers

The Painted Bird (2019) – Allegorie und brutaler Realismus

Ein kleiner Vogel wird von einem Menschen gefangen genommen und mit Farbe bemalt. Nachdem sein Gefieder komplett anders aussieht als das seiner Artgenossen, wird er wieder frei gelassen. Er fliegt in die Wolken zu seinen Geschwistern. Und diese stürzen sich unmittelbar auf ihn. Sie erkennen ihn nicht mehr als ihresgleichen an, halten ihn für einen Eindringling oder Feind. Und sie reagieren. Innerhalb kürzester Zeit hat sich ein riesiger Schwarm um den vermeintlichen Sonderling gebildet. Sie kämpfen, rupfen, hacken. Und am Ende dieses bizarren Schauspiels fällt der angemalte Vogel tot zu Boden. Es wäre beruhigend, in diesem gewalttätigen Bild eine Parabel zu erkennen. Eine Allegorie, die den akademischen Verstand kitzelt, das Herz aber unberührt lässt. Es handelt sich aber bei der Hoffnung nach diesem Ausweg um einen Trugschluss. Dieses Geschehen ist nicht nur ein Symbol, ist nicht nur eine Geschichte, es geschieht tatsächlich vor unseren Augen. Wir sehen die Natur brutal zuschlagen, wir wollen uns in Spiegelungen und deren Interpretationen flüchten, wir müssen aber auch einsehen, dass dies die Realität ist; kein hermeneutisches Rätsel, keine analytische Fingerübung, sondern die schonungslose Realität. Am Ende ist der kleine Vogel tot. Daran ändert auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit, nach dem Subtext des Geschehens nichts.

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Die besten Filme 2022: Triangle of Sadness von Ruben Östlund

Mensch, da hat der Herr Östlund uns aber allen ein Schnippchen geschlagen und mit Triangle of Sadness nicht nur einen, sondern praktisch gleich drei Filme veröffentlicht (als wäre der Titel eine fiese Prophezeiung des Kommenden): Zurückhaltende aber pointierte Beziehungskomödie mit tragikomischem Anstrich; bitterböse Bizarrerie, die fast ins Surreale abgleitet; und dann auch noch zynische Sozialparabel, auf die auch ein George Orwell mehr als stolz wäre. Und das wirklich Unfaire daran, man kann über die Dreiteilung seines neuen Filmes nur schwer reden, ohne arg in Spoiler-Territorien abzurutschen. Daher an dieser Stelle eine kleine Vorwarnung: Auch wenn ich in folgender Rezension größtenteils auf Spoiler verzichten werde, schaut euch diesen Film an, ohne zuvor zu viel darüber gelesen zu haben. Ja, dieser Aufruf ist ein beliebtes Trope, meistens leider ein Klischee der Filmkritik; in diesem Fall passt die Warnung aber wirklich wie Arsch auf Eimer. Triangle of Sadness macht am meisten Spaß, wenn man so wenig wie möglich weiß, worauf man sich einstellen muss, auch wenn der Film neben seinen Twists und Turns noch genug andere Vorzüge aufzuweisen hat.

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Borat: Anschluss Moviefilm (2020) – Kein guter, aber ein sehenswerter Film

Rudy Giuliani, republikanischer Politiker, ehemaliger Bürgermeister von New York, Anwalt und Rechtsberater von Donald Trump liegt auf dem Bett eines Hotelzimmers. Über ihn gebeugt ist eine junge Frau, die ihm anscheinend dabei hilft, ein Ansteckmikrofon abzulegen. Und dann passiert es. Entspannt lehnt sich Giuliani zurück und greift tief in seine Hose mit anscheinend ziemlich eindeutiger Absicht. Bevor diese irritierende Szene weitergehen kann, wird sie auch schon gestört. Ein in Reizwäsche gekleideter Borat (Sacha Baron Cohen) stürmt in das Zimmer und schreit Giuliani an, die Frau sei 15, sie sei zu alt für Rudy. Er Borat würde sich an ihrer statt dem mächtigen, alten Mann hingeben. Giuliani ist verwirrt, ruft seine Security-Leute, und Borat und seine Filmtochter fliehen. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Diese kurze Episode ist nicht nur der neue Film Sacha Baron Cohens in a Nutshell, er ist auch sein zentraler Moment, sein größter Aufreger, seine Berechtigung und vermutlich auch sein stärkstes Erbe. Da kann Cohen noch so viele (insgesamt neunzig) Minuten drumherum packen, wer Borat Anschluss Moviefilm (2020) – eine Quasi-Fortsetzung von Borat – Kulturelle Lernung von Amerika, um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen (2006) – sehen will, tut dies vor allem wegen dieser einen Szene, die schon vor der Premiere der Mockumentary auf Amazon Prime keine zwei Wochen vor der US-Wahl 2020 für einige mediale Aufregung sorgte. Dementsprechend wird dieser neue Borat-Streich wohl nie ganz die Verknüpfung mit dem kleinen Giuliani-Skandal loswerden, selbst wenn er sich bemüht, deutlich mehr zu sein.

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Die kontroversen, extremen und polarisierenden Filme der 80er Jahre

Wie immer gilt für diese spezielle Liste: Prämiert werden nicht die besten kontroversen und polarisierenden Filme des Jahrzehnts, sondern die, die am extremsten waren, die am meisten polarisieren konnten, die am kontroversesten aufgefasst wurden und werden. Wirklich erstklassiges filmisches Material gibt es in diesem speziellen Fall, dann auch tatsächlich kaum zu finden. Abgesehen von Die letzte Versuchung Christi (der die Kontroverse auch nicht wirklich suchte, sondern dem sie viel mehr aufgezwungen wurde), sind die restlichen Vertreter im besten Fall Durchschnittsware, im schlimmsten Fall kompletter Schund, der einzig durch seinen Shock Value einen Platz in der Filmgeschichte gefunden hat. Das war bei den kontroversen Filmen der 90er und 2000er Jahre durchaus anders. Und noch eine Premiere, je weiter wir uns in die Vergangenheit bewegen aber umso folgerichtiger: Mit den Rape Culture Teeniestreifen hat es nicht nur ein Film, sondern gleich eine ganze Filmreihe (wenn nicht sogar ein ganzes Genre) hierhin geschafft, dessen kontroverse Natur vor allem durch den retrospektiven Blick entsteht; Filme, die damals nur ein mildes Lächeln ernteten, heute aber als filmische Sinnbilder für eine Kinoära stehen, in der auch Belästiger und Vergewaltiger Sympathieträger sein durften, deren Verbrechen gar verharmlost wurden oder im schlimmsten Fall zur Erheiterung des Publikums dienten. Ansonsten, auch 80er typisch, viel Zeug aus der Gore- und Splatterecke, immerhin ein genuin deutscher Blasphemiefall und ein wenig mehr der Vollständigkeit halber ein absolut sehenswertes Werk aus dem experimentellen New Yorker Untergrund.

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Raw (2016) – Die böse Twilight-Zwillingsschwester

Ja, okay… so ein bisschen irreführend und clickbaity ist der Titel dieser Rezension ja schon. Passt damit aber auch hervorragend zum besprochenen Film. Raw (2016) machte nämlich keine halben Sachen, als es um seine Vermarktung ging. Da war von einem der schockierendsten Horrorfilme der letzten Jahre die Rede, da wurde von Menschen erzählt, die reihenweise das Kino verließen, weil sie mit dem Gezeigten nicht klarkamen, und es wurde sogar von Zuschauern berichtet, die während des Toronto Filmfestivals 2016 medizinisch behandelt werden mussten, da ihnen die expliziten Szenen zu heftig waren. Mit diesem Vorwissen in der Hand kommt man gar nicht drumherum, Julia Ducournaus Kinodebüt mit einer gewissen Portion Skepsis zu begegnen, zumal die Zeit der New French Extremity mittlerweile fast zehn Jahre zurückliegt und eine ihrer größten Ikonen – Gaspar Noé – in seinen letzten Filmen durchaus eine Abwendung vom Extremen um jeden Preis und eine Zuwendung zu metaphysischen und panoramischen Themen erkennen ließ. In der Tat lässt sich Raw in vielen Bereichen der New French Extremity oder Nouvelle Vague des französischen Horrors zuordnen. Zugleich ist er aber alles andere als eine extreme, kontroverse Gewaltorgie, wie es die derbsten Filme dieser Zunft waren. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er eine Menge aktuellerer Einflüsse mit an Bord hat, namentlich Mechanismen aus dem – Achtung, Buzzword! – derzeit so viel zitierten Post Horror, ganz konkret dem Slow Burning Horror amerikanischer Bauart. Und da das im Titel dieser Rezension zitierte Märchen auch schon über zehn Jahre alt ist, darf beruhigend hinzugefügt werden: Mit den Teenie/Fantasy/Romanzen der späten 2000er und frühen 2010er Jahre hat Raw ebenfalls wenig gemein, auch wenn ihm die Verquickung von Coming-of-Age und Fantastischem sichtlich am Herzen liegt.

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Die besten Filme 2018 – Climax von Gaspar Noé

Nach wenigen Minuten in seinem neuen Film Climax (2018) gibt Gaspar Noé dem Publikum bereits die Möglichkeit zur Flucht. Kaum haben wir beigewohnt, wie eine junge Frau, halb lachend halb weinend in den Schnee gefallen ist, rollen auch schon die Endcredits, inklusive Hinweis darauf, dass diese Geschichte auf realen Ereignissen basierte. Wir könnten jetzt aufstehen, den Kinosaal verlassen, beziehungsweise Netflix schließen, und alles wäre gut. Diese Möglichkeit zur Flucht wird es nach ungefähr einer Dreiviertelstunde noch einmal geben. Wieder die Liste der Beteiligten, eine Verbeugung vor dem Soundtrack und Black. Wer danach immer noch sitzen bleibt, hat es wohl nicht anders verdient. Denn immerhin handelt es sich hierbei um einen Film von Gaspar Noe, DEM Enfant Terrible des französischen Avantgardekinos, der auch Mitten im Film – genauer gesagt bei seinem dritten Start, aber vor seinem zweiten Ende (ja, so was macht bei diesem Regisseur auf eine schräge Weise Sinn) – noch einmal verkünden darf, wie stolz er darüber ist, dass es sich bei Climax um einen französischen Film handelt, und dass er natürlich alle Amerikaner ficken wird. Noé steht seit jeher für ein Kino der Extreme; und dass er dieses Mal gleich zwei Mal die Chance zur Flucht liefert, könnte man fast als eine Form der Altersmilde interpretieren. Aber auch nur fast; denn nach seinem letzten Film, dem verkopften Love (2015) haut er hier wieder voll auf die Kacke.

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Die extremen, polarisierenden und kontroversen Filme der 90er Jahre II

Hier kommt sie, die zweite Ladung der provozierenden und extremen Filme der 90er Jahre. Düstere Destruktionen der amerikanischen Gesellschaft in Gummo, eine verstörende Mischung von Sex und Gewalt in David Cronenbergs Crash, politischer Aktivismus im verschwörungstheoretischen Gewand von Oliver Stone in JFK – Tatort Dallas, bewusster Dilettantismus und die Reduktion des Filmischen auf das Notwendige bis hin zur vollkommenen inszenatorischen Nacktheit bei Lars von Triers Idioten und schließlich Perdita Durango, der Mitreiter auf der Welle des Tarantinoesken Kinos, der mit seiner zugespitzten, ungebrochenen Sympathie für die gewalttätigen Protagonisten aus dem Gangsterkino der 90er heraussticht.

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Die extremen, polarisierenden und kontroversen Filme der 90er Jahre I

Wenn man diese Kategorie mit der selben der 2000er Jahre vergleicht, stellt man fest, dass die Kinozuschauer und vor allem Kritiker in den 90ern weitaus dünnhäutiger waren als im 21. Jahrhundert. Scheinen die extremen und kontroversen Filme der letzten Dekade tatsächlich infam bis zur berechtigten Wut vieler Zuschauer, wirken die 90er dagegen fast schon handzahm; oft genug scheinen die provokanten Filme wie Basic Instinct dem Prinzip „Viel Lärm um nichts“ zu folgen. Aber das ist retrospektiv natürlich leicht zu sagen und wer weiß schon, wie das Publikum in zehn Jahren über die Aufreger unserer Zeit schmunzeln wird… Egal, auch die 90er waren für so manche cineastische Provokation, für so manchen Tabubruch gut. Und mitunter hatte die Aufregung um den jeweiligen Film auch eine gewisse Berechtigung. Auch an dieser Stelle gilt wie beim letzten Mal: Nicht alle hier auftauchenden Filme sind Meistwerwerke, manche fallen sogar eher in die Kategorie ‚unterdurchschnittlich‘. Aber durch ihren Mut beziehungsweise ihre Dreistigkeit oder eben auch ihre offene Infamität haben sie sich ihren Platz im Filmkanon verdient… und sei es nur, um daran zu erinnern, dass das Kino auch immer ein Ort der Skandale und Skandälchen sein kann.

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Die besten Filme 2017: Lady MacBeth

Lady MacBeth gehört wohl zu den spannendsten und zugleich furchteinflößendsten Figuren, die William Shakespeare jemals erdichtet hat. Die Lady Macbeth von Mzensk ist der Titel einer 1865 von Nikolaj S. Leskow geschriebenen russischen Novelle, die in der von Dostojewski redigierten Zeitschrift Epocha zum ersten Mal veröffentlicht wurde, 1934 zu einer Oper adaptiert und schließlich im Jahr 2016 von William Oldroyd (ziemlich frei) verfilmt. Jene letzte Adaption – erstaunlicherweise das Langfilmdebüt ihres Regisseurs – brauchte ein gutes Jahr, bis sie in die amerikanischen und deutschen Kinos kam. Und auch wenn der Film zumindest in Großbritannien einige Auszeichnungen einheimsen durfte, scheint er bei der Frage nach den besten Filmen der letzten Jahre ein wenig untergegangen zu sein. Das ist mehr als bedauerlich, verbirgt sich doch unter seiner ruhigen Fassade ein kleiner Filmjuwel und zudem eine ziemlich brutale, verstörende Tragödie, die in sich das Potential birgt, – nicht nur im positiven Sinne – kontrovers rezipiert zu werden.

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Spiritual Porn Mindfucks – Gedanken zu Gaspar Noes "Enter the Void"

Natürlich kommt man, wenn man von Gaspa Noe spricht, nicht an Irreversible vorbei… dieses zermürbende Monster von einem Film, das seine Protagonisten und Zuschauer auf eine grauenhafte Odyssee durch einen rückwärts erzählten, quälend naturalistischen Revenge-Thriller schickt, an dessen Beginn eine schwindelerregende Kamerafahrt durch die aufgepeitsche Pariser Nacht steht, dessen Zentrum von einer der unerträglichsten Szenen der Filmgeschichte eingenommen wird und dessen vermeintlich harmonisches Ende, die grausame Determiniertheit der gesamten Geschehnisse brutal auf den Punkt bringt. Gaspar Noe ist ein cineastischer Extremist, ein sadistischer Filmemacher, der die Grenzen des Erträglichen auslotet, um sie eiskalt zu überschreiten. Vollkommen zurecht hat es sein Meisterwerk Irreversible zu den extremsten Filmen der 00er Jahre geschafft. Und dann hatten wir ganze vier Jahre Verschnaufspause, trügerische Ruhe, bevor die Ikone der New French Extremity mit Enter the Void 2010 zu einem erneuten Angriff auf unsere Sehgewohnheiten bläst.

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Die extremen, polarisierenden und kontroversen Filme der 2000er Jahre

Extrem ist natürlich ein ziemlich dehnbarer Begriff… und mit den besten Horrorfilmen und auch den besten surrealen Filmen haben wir diese Sparte bereits ganz gut bedient. Aber es gab noch Krasseres als das bisher Vorgestellte: Hartes, Gewalttätiges, an der Schmerzgrenze Balancierendes. Filme die sadistisch waren, oder auch masochistisch; Filme die ihren Zuschauern einiges abverlangten und nicht zuletzt auch immer wieder für abgebrochene Kinobesuche oder Empörungen bei diversen Festivals gut waren. Dabei sind es nicht zwangsläufig gute Filme, mitunter sind sie einfach nur hart, schwer verdaulich oder tatsächlich polarisierend und kontrovers bis zur Ärgernis. Dennoch haben alle die vorgestellten Filme ihre Existenzberechtigung. Sie haben dem Medium seine Grenzen aufgezeigt, indem sie diese überschritten haben, indem sie mit diesen gespielt haben, indem sie bewusst den Weg des größten Widerstandes gingen. Die härtesten, die kontroversesten, die am meisten diskutierten… die extremsten Filme der Dekade. Wie immer nach dem Klick.

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Schlingensief-Retrospektive – „Terror 2000“ (1992)

Meine Damen und Herren, liebe Jungen und Mädchen, genießen Sie mit uns in den nächsten Minuten eine Welt voller Liebe, Angst, Sexualität und Tod. Genießen Sie mit uns die Welt, in der wir leben. Gute Unterhaltung.

Christoph Schlingensief ist dank Bayreuth und der Medialisierung / Theatralisierung seiner eigenen Krebserkrankung mittlerweile endlich in der Hochkultur angekommen. Völlig zurecht wird er von Feuilletons und Kulturinteressierten umworben und seine Arbeiten zählen zu den wichtigsten Beiträgen der deutschen Kulturlandschaft. Das dies allerdings nicht immer so war, zeigt Teil 1 unserer Schlingensief-Retrospektive: Der 1992 veröffentlichte Film „Terror 2000“

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Schlingensief-Retrospektive: Talk 2000

Deutschland 1997. Die Talkshows des Privatfernsehens boomen: Hans Meisner, Ilona Christen, Andreas Türck… es nimmt kein Ende. Wie Pilze schießen sie aus dem Boden: Lauter, aggressiver, hektischer… Und Christoph Schlingensief ist der Meinung, dass jeder, wirklich jeder eine Talkshow moderieren kann. Um das zu beweisen, nistet er sich im Keller der Berliner Volksbühne ein, lädt Gäste und Freunde, Prominente und Leute von der Straße und fabriziert acht Sendungen seines ganz eigenen Trashformates: Talk 2000; Zurück zum Privaten…

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