Schlingensief-Retrospektive: Talk 2000

Deutschland 1997. Die Talkshows des Privatfernsehens boomen: Hans Meisner, Ilona Christen, Andreas Türck… es nimmt kein Ende. Wie Pilze schießen sie aus dem Boden: Lauter, aggressiver, hektischer… Und Christoph Schlingensief ist der Meinung, dass jeder, wirklich jeder eine Talkshow moderieren kann. Um das zu beweisen, nistet er sich im Keller der Berliner Volksbühne ein, lädt Gäste und Freunde, Prominente und Leute von der Straße und fabriziert acht Sendungen seines ganz eigenen Trashformates: Talk 2000; Zurück zum Privaten…

Einsfestival, dem „Eventsender“ des Ersten haben wir es zu verdanken, dass anlässlich des Todes Schlingensiefs diese avantgardistische Talkperle 2010 erneut über den Äther lief. Und was ist das für ein Format?! Ständig zwischen familiärem gemütlichen Beisammensein und klassischer Schlingensief-Eskalation pendelnd, ständig auf sich selbst referierend, mit Fakes und Wahrheit, Inszenierung und Improvisation spielend und sowohl das Studiopublikum als auch die Fernsehzuschauer ständig im Unklaren lassend, was denn nun echt, falsch oder virtuell ist. Schlingensief spielt hier gekonnt mit den Möglichkeiten des TV-Machbaren, lotet die Grenzen aus und überschreitet sie mit seinem typischen, charmanten Lausbubenlächeln. So gibt es getürkte Schlägereien auf offener Bühne, Zuschauer, die sich über diese Türkung aufregen und daher kurzerhand selbst eine Schlägerei untereinander oder mit dem Moderator beginnen. Da gibt es trashige und artifizielle Szenarien, die in der deutschen TV-Landschaft Seltenheitswert haben: Wo sonst sieht man illustren Gästen wie Hildegard Knef eine ganze Minute beim Schlafen auf der Bühne zu? Wo sieht man sonst Udo Kier in einem atemberaubenden Wutanfall? Wo sieht man sonst wie der geladene Harald Schmidt kurzerhand selbst das Talk-Zepter in die Hand nimmt und den eigentlichen Moderator Schlingensief durch schlagfertige Verbalattacken aus seiner eigenen Sendung verdrängt.

Dieser scheint hier sowieso größten Spaß bei der Grenzsprengung und Selbstdekonstruktion zu haben: „Merkt man, dass das inszeniert ist?“ fragt er hilflos in die Kamera, verlässt das Studio, weil ihm der Sendungsverlauf nicht gefällt, unterbricht seine Gäste bei jeder Gelegenheit, um praktisch in jeder Sendung damit zu kokettieren, dass er Apothekerssohn ist. Redundanz und Überraschung geben sich hier gemeinsam die Klinke in die Hand, fallen übereinander her und rauben das eigene Format aus. Schlingensief ist mal mächtig, mal lausbübisch charmant, mal empathisch und dann wieder hilflos angesichts seines selbsterschaffenen Monsters. Das Ergebnis ist eine wilde Mischung aus Talkshow-Satire, geistreicher Konversation, alberner Blödelei und postmoderner Performancekunst. Klar dreht sich hier alles um sich selbst – gar die Empore, auf der die Talkgäste ihren Platz finden. Klar sind hier auch die Freakstars dabei, denen Schlingensief 2002 eine eigene Sendung widmete.

Wenn etwas hier Konzept ist, dann die Konzeptlosigkeit: Die Gäste werden gefeiert und verarscht, angehimmelt, gepiesackt, gequält und parodiert. Heiner Müller serviert die Getränke, während Schlingensief Randgruppenwitze über seine Kollegen macht, Blumen und Ohrfeigen erhält. Ebenso wahllos wie die emotionale Bandbreite scheint auch die Auswahl der illustren Gäste: Künstler, Avantgardisten, Arbeitslose, C-Promis und Trashikonen. Immer am Rand des Wahnsinns und der Genialität. Talk 2000 macht sich selbst zur These und Antithese des Trash-TV, liebäugelt mit seiner eigenen avantgardistischen Herkunft, um dann tief in billige Privatfernsehen-Neurosen abzusteigen. Das ist brillant, komisch, tut weh und berührt in seinen besten Momenten tatsächlich, nur um kurz darauf fein säuberlich mit einer Kettensäge zermetzelt zu werden. Am Ende klatschen alle, Schlingensief hat Tränen in den Augen und die Zuschauer wurden abwechselnd unterhalten, provoziert, gelangweilt und zum Nachdenken gebracht. Talk-TV schneidet sich ins eigene Fleisch und wieder einmal kann man nur den Hut vor Schlingensief ziehen, der vieles ausprobiert, keine Angst vorm Scheitern hat, immer wieder dabei scheitert, dabei aber soviel Stil beweist, dass er doch zu den größten Gewinnern Gewinnen der Postmoderne zählen darf.

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