Everything Everywhere All At Once (2022) – Und das Kino explodiert…

Auf die Frage „Wie viel Inhalt lässt sich in einen nicht ganz fünfzehnminütigen Kurzfilm packen?“ haben die beiden Daniels – Das amerikanische Regieduo Daniel Kwan & Daniel Scheinert – einfach mit „Ja“ geantwortet und mit Interesting Ball (2014) einen der wohl irrsten, bizarrsten, überambitioniertesten und grandiosesten Shorts der Filmgeschichte abgeliefert. Den kann man sich auch auf Youtube reinziehen, und es macht durchaus Sinn dies zu tun, bevor man sich Everything Everywhere All At Once (2022) gibt, allein schon, um eine gewisse Vorstellung davon zu haben, was auf einen zukommt. Auch im zweiten Langfilm der Daniels nach Swiss Army Man (2016) geht es um ein ähnliches Thema wie in Interesting Ball: Um die Verknüpfung von Lebensrealitäten und Geschichten, um die Macht des Unvorhergesehenen, um die Macht des Schicksals: „It’s inevitable“, „Es ist unvermeidlich“, wie eine der Hauptfiguren in Interesting Ball zu unmöglichen Geschehen anmerkt. Aber es sind nicht nur die Themen und Motive, in denen sich die beiden Filme gleichen wie Geschwister: Es ist auch die Haltung, mit der die Daniels diese Motive auf die Leinwand bringen. Denn auf die Frage „Wie viele verschiedene Stimmungen kann man in einem Film unter einen Hut bringen?“ antworten die beiden auch mit Ja und machen munteres Genre- und Atmosphären-Hopping: Von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt, aber auch von absurd surreal bis hin zu elegisch pathetisch. Von albern, infantil, bis monumental actionreich… von …. naja, von allem über alles eben… überall… und das gleichzeitig… all at once…

Die in die USA emigrierte Chinesin Evelyn (Michelle Yeoh) ist Besitzerin eines Waschsalons und muss gleich einen ganzen Haufen an Problemen bewältigen: Ihr Mann Waymond (Ke Huy Quan) will die Scheidung, ihre Tochter Joy (Stephanie Hsu) – mit deren Homosexualität Evelyn nach wie vor hadert – hat sich komplett von ihr entfremdet, ihr Vater Gong Gong (James Hong) ist erst vor kurzem zu ihnen gezogen und tyrannisiert die ganze Familie mit seinen Wünschen… und dann steht auch noch eine Steuerprüfung an. Diese wird ausgerechnet von der pedantischen Beamtin Deidre (Jamie Lee Curtis) vollzogen, die scheinbar nichts anderes im Sinn hat, als der Familie das Leben zur Hölle zu machen. Beim wichtigen Steuerprüfungstermin geschieht jedoch plötzlich etwas merkwürdiges. Von Waymond wird Besitz ergriffen und zwar von einem seiner Pendants aus einer anderen Dimension: Dieser Alpha Waymond erzählt Evelyn, dass jede Entscheidung im Leben ein neues Universum erzeugt, dass es zahllose Multiversen gibt, und dass sie persönlich die einzige Evelyn ist, die alle Multiversen vor einer riesigen Bedrohung retten kann. Denn die Oberschurkin Jobu Tupaki hat einen riesigen, schwarzen Bagel erschaffen, der alle Existenz, wie wir sie kennen vernichten könnte. Alpha Waymond stattet Evelyn mit der Fähigkeit aus, in verschiedene Dimensionen zu blicken, um die Kräfte der anderen Evelyns zu nutzen, das Böse zu besiegen.

Das klingt in der Tat sehr nach Marvel, nach Fantasy/SciFi-Blockbuster, nach Action und Abenteuer. Und all das liefert Everything Everywhere All At Once auch ohne jeden Zweifel. Aber Gott sei Dank haben wir ja alle brav Interesting Ball zur Vorbereitung gesehen und wissen deshalb bereits, dass wir uns auf weitaus mehr vorbereiten können. Die Daniels nutzen dieses Setup um eine durch und durch eigenständige Version des Multiversen-Popcornfilms zu erzählen: Konkret bedeutet das, viel absurder Humor, viel Drama, viel Pathos, viel Surrealismus und noch mehr Publikumsüberforderung. Dabei gibt es aber eben auch die tradionellen Action-Ingredienzen. Mit Michelle Yeoh wurde immerhin eine Ikone des Martial Arts als Hauptrolle besetzt. Und diese darf dann auch – trotz gehobenen Alters von 60 Jahren – mit all ihren tollen Kampfkünsten und Choreographien aufprotzen. Da passt es, dass eine Evelyn, an deren Fähigkeiten sie sich bedient, selbst eine Martial Arts Künstlerin und Schauspielerin ist, eben genau wie Michelle Yeoh selbst. Natürlich wird diese Metaebene garniert mit Bildern aus Yeohs Karriere und obendrauf gibt es noch einige fantastische Szenen, in denen dem Hong Kong Regiemastermind Wong Kar-wai gehuldigt wird. Aber so sehr sich Yeoh und ihr Martial Arts Kompagnon Ke Huy Quan (Bekannt als Short Round in Indiana Jones und der Tempel des Todes) durch die Armeen von Minions kämpfen, die von der Antagonistin Jobu Tupaki auf sie gehetzt werden (unter anderem eine großartig zombifizierte Jamie Lee Curtis), Everything Everywhere All At Once ist nicht nur ein Kampf- und Actionspektakel.

Es gibt nicht den einen Moment, in dem der Film kippt… viel mehr gibt es mehrere. Aber jedes Mal scheint das Kippen von einem lauten „What the Fuck!?“ begleitet. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass absurde, unmögliche Handlungen das Springen zwischen den Dimensionen erleichtern. Und so wird kräftig an alles andere als hygienischen Gegenständen geleckt, Liebesbekundungen werden ausgetauscht, und in einer denkwürdigen Szene kommen gleich zwei Butt-Plugs zum Einsatz. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass uns die Daniels nicht nur in die logischen Universen blicken lassen, in denen Evelyn Filmstar, Wissenschaftlerin oder Gefängnisinsassin ist. Nein, nein… wenn schon alles möglich ist, dann soll das auch ausgekostet werden: Und so gibt es ein Universum, in dem alle Menschen Hot Dog Finger haben (inklusive evolutionärer Herleitung in einer Kubrick-2001-Gedächtnisszene), ein Universum, in dem Evelyn als Köchin mit einem Konkurrenten konfrontiert wird, der von einem Waschbär fremdgesteuert wird, ein Universum, in dem das Leben nie beginnen konnte (und Evelyn folgerichtig ein Stein ist) und so weiter und so fort. Während nur eine Hand voll Universen tatsächlich Relevanz für die Geschichte haben (Spoiler: Das Wurstfinger-Universum inklusive ergreifender Liebesgeschichte zwischen Evelyn und Deidre gehört dazu) dienen die anderen vor allem als WTF-Augenschmaus, insbesondere in einer grotesken Szene, in der wir gleich tausend Evelyn-Variationen gleichzeitig beiwohnen dürfen.

Der Titel des Films ist nicht nur inhaltlich Programm sondern auch inszenatorisch. Bereits in der Prämisse lassen die Daniels die Handlung auf das Publikum hinabstürzen. Es passiert sehr viel gleichzeitig im Leben Evelyns und wir müssen höllisch aufmerksam sein, um nichts zu verpassen. Überforderung als Grundprinzip. Wenn dann schließlich das Storygerüst um die Multiversen entfaltet wird, wird es umso schlimmer. Die Daniels sind kein Chris Nolan und halten sich dementsprechend nicht lange mit Erklärungen auf. Stattdessen gibt es auf einen Schlag sehr viel Action, sehr viele verschiedene Dimensionen, sehr viel Bizarres, Groteskes, Mitreißendes und auch Abstoßendes (oder zumindest Irritierendes) zu sehen. Das Wahnsinnige daran: Die Geschwindigkeit wird im Laufe des Films angezogen. Er startet praktisch bei 100%, um sich dann peu à peu zu Aaaaahtrillionen Prozent weiterzukämpfen. Nicht nur, dass die einzelnen Episoden aus den verschiedenen Dimensionen irgendwann Schlag auf Schlag wie einem Composite Film erzählt werden, ihre Handlungen kreuzen sich auch ab einem gewissen Punkt und fallen übereinander her. Cloud Atlas on Steroids, ohne Pause, ohne Durchatmen. Irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes mit mehreren Bildern pro Sekunde. Bunt, ausladend, urkomisch, actionreich, atemberaubend, temporeich, gewitzt… und immer wieder, immer nochmal einen obendrauf setzend.

Man darf aber bei all dem grandiosen, surrealen, bizarren Chaos nicht vergessen, dass Everything Everywhere All At Once im Laufe der Handlung noch eine inhaltliche Dimension bekommt, der ebenso überraschend wie bewegend daherkommt. In seinem Kern haben wir es hier nämlich nicht mit einem irren Fantasytrip zu tun, sondern mit einer emotional tiefschürfenden Familiengeschichte. Dass hinter dem Potpourri mehr steckt als die Freude am Irrsinn wird spätestens dann deutlich, als sich die Identität der Oberschurkin offenbart. Und urplötzlich finden wir uns in einem empathischen Drama wieder, in dessen Zentrum eine gestörte aber nicht irreversibel zerstörte Mutter-Tochter-Beziehung steht. Und urplötzlich finden wir uns in einem humanistischen Plädoyer wieder, in dem Möglichkeiten der Konfliktlösung ausgelotet werden, in dem Zynismus mit purer, naiver Freundlichkeit begegnet wird. Und urplötzlich finden wir uns in einem politischen Film wieder, in dem Marktmechanismen, Kontrollmechanismen, Feindbilder, Alltagsrassismus, Adultismus und Ideologie herausgefordert werden. Und urplötzlich finden wir uns in einem nachdenklichen, philosophischen Film wieder, in dem sich Nihilismus auf der einen und Vitalismus und Existenzialismus auf der anderen Seite ein Duell um das Herz und den Verstand des Menschen liefern. Und plötzlich finden wir uns in einer tragikomischen Satire wieder, die auf die Tücken des Alltags und die Hürden durch Gesellschaft und Politik blickt. Das wirklich Aufregende daran ist, wie problemlos es den Daniels gelingt, in einem komplett überdrehten, absurden Setting, Gefühle zu wecken. Klar, Everything Everywhere All At Once bedient sich dabei so mancher Manpiulationstricks (Kameras, Score, Schauspiel), aber er macht das so gut, dass man sich seiner emotionalen Wucht nicht entziehen kann.

Diese emotionale Wucht ist der Grund dafür, dass der Film trotz allem Irrsinn seinem Publikum nie entgleitet. Wir fühlen uns involviert. Wir leiden mit mit den Protagonist*Innen (Übrigens alle ganz herausragend gespielt, nicht nur von Yeoh, sondern auch von Curtis, Quan und am mitreißendsten von der Nachwuchsschauspielerin Stephanie Hsu), und wir freuen uns über den großen Batzen Hoffnung, den uns der Film gibt. Im Grunde genommen ist Everything Everywhere All At Once ähnlich wie seine kleinere, ältere Schwester Interesting Ball ein überladener Feel Good Movie. Ähnlich wie bei Swiss Army Man geht es um die so simple und so attraktive Botschaft: „Das Leben ist schön!“. Wir gehen vielleicht zermartert, aufgewühlt, erschlagen aus dem Kino, aber eben auch mit einem fetten Grinsen, mit einem warmen Gefühl im Herzen, mit dem Wissen, dass eigentlich alles gut werden wird. Everything Everywhere All At Once ist nicht nur das zweite Langfilmmeisterwerk der Daniels sondern auch ein wichtiger Film zur richtigen Zeit, ein Loblied auf das Sein in all seinen Facetten. Er ist Fantasytrip, Actionfeuerwerk, Martial Arts Epos, bizarre Komödie und ein großes hochphilosophisches Familiendrama. Er ist Coming of Age Geschichte, Empowerment-Story, SciFi-Epos, Mysteryschinken, Trash und Hochglanz. Popcorn mit viel Zucker und viel Salz… und bunten Streuseln obendrauf. Das alles. Überall. Auf einen Schlag.

 

Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.

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