Die schönsten Filme 2016: Swiss Army Man

Eines der schönsten sprachlichen Memes des englischsprachigen Internets (Originalherkunft leider nicht so leicht ermittelbar): „Tell someone you love them today, because life is short. But shout it at them in german, because life is also terrifying and confusing“. Das Swiss Army Knife – das Schweizer Armeemesser – stammt zwar nicht aus Deutschland, aber mit dem Herkunftsland Schweiz allemal aus (unter anderem) deutschsprachigen Gefilden. Und wer Swiss Army Man (2016), dessen Titel einen direkten Bezug zu dem mitteleuropäischen Multifunktionswerkzeug darstellt, gesehen hat, dem wird es nicht schwerfallen anzuerkennen, dass genau jener memetische Spruch zu Daniel Kwans und Daniel Scheinerts ungewöhnlichem Film perfekt passt. Das Leben ist kurz, das Leben ist schön, das Leben ist aber auch grotesk, konfus und verwirrend… Vor allem ist das Leben aber schön. Und ihr solltet jede Sekunde davon genießen! Zwei Jahre zuvor hatten die beiden Daniels bereits mit dem unfassbar großartigen Kurzfilm Interesting Ball bewiesen, dass sie es schaffen in kurzer Zeit sowohl das bizarre als auch das schöne Moment des Lebens formvollendet zu erzählen. Und Swiss Army Man wiederum ist quasi die Formvollendung dieses Konzepts. Solange man sich auf die – wirklich schräge – Prämisse einlässt, erlebt man hier einen der außergewöhnlichsten Filme des Jahres und zudem einen der schönsten Feel Good Movies der Dekade.

Am Anfang steht der Furz. Dieser Furz entfleucht der Leiche eines unbekannten Mannes (Daniel Radcliffe), die an einer einsamen Insel angespült wird. Genau jene flatulierende Leiche kommt dem gestrandeten Hank (Paul Dano) gerade recht. Hatte er sich noch kurz davor darauf eingestellt, als einsamer und verlorener Schiffbrüchiger auf dieser Insel zu sterben, erkennt er schnell die Möglichkeiten, die in den mächtigen Darmwinden dieser Leiche schlummern. Diese geben dem Toten nämlich sowohl Aufwind als auch Antrieb und lassen ihn zum luftbetriebenen Boot werden. Wagemutig stürzt sich Hank mit dem ungewöhnlichen Gefährt in die Wellen, schafft es tatsächlich aus seinem Inselgefängnis zu entkommen und landet mit seinem neuen Kumpanen schließlich in einem großen Waldstück am Rande der Zivilisation. Auf dem Weg zurück in diese erweist sich der tote Swiss Army Man als wahres Multifunktionswerkzeug, das Hank das Überleben in der Natur auf jede erdenkliche Art ermöglicht. Aber es geschieht noch mehr. Langsam klettert wieder Leben in den nun untoten Kumpanen: Er beobachtet, er spricht, und er will wissen, wohin die Reise geht. Um ihn zum Weiterarbeiten zu motivieren, legt sich Hank mächtig ins Zeug, seinem Zombiefreund und Schweizer Armeemesser die Schönheit des menschlichen Lebens begreiflich zu machen.

Und genau diese Schönheit des menschlichen Lebens feiert Swiss Army Man bis zum Exzess. So kurios, fast abstoßend, die Ausgangslage ist, so schön ist, was die beiden Daniels daraus zaubern: Eine herzerwärmende Tragikomödie, die ihre „Enjoy Life!“-Botschaft mit stolzgeschwellter Brust vor sich herträgt. Hank und sein Taschenmessermann versuchen nicht einfach nur in der wilden, unbarmherzigen Natur zu überleben, sondern sie kämpfen dafür, ihrem Überlebenskampf so etwas wie Sinn und Ziel zu geben: Sei es die Liebe, sei es der Schmerz, sei es die Freude oder das Lachen. Das Leben, in das Hank zurück will – und in das die Leiche wohl nie wieder zurück kann – steckt voller Wunder, voller Schönheit und voller Freuden. Im unfassbar liebevollen Mittelteil des Films zelebrieren die beiden dieses Wunder des Lebens, indem sie aus allem, was die Natur hergibt, so etwas wie einen Mock der menschlichen Gesellschaft bauen; ein romantisierten Spiegelbild, eine kitschige Karikatur, ein fantastisches Abbild zwischen Kinder- und Rollenspiel, vor allem aber eine Liebeserklärung an die Wunder der menschlichen Kultur und Zivilisation. Hank tritt dabei als – nie uneigennütziger – Lehrer auf, der im Spiel mit seinem unbedarften, naiven Zombie selbst an all das Schöne erinnert wird, das er vergessen hatte. Paul Dano spielt seinen Hank mit einer grimmigen Verzweiflung, die sich nach und nach wahrhaft freundschaftlichen wenn nicht sogar väterlichen Gefühlen öffnet. Daniel „Harry Potter“ Radcliffe auf der anderen Seite des Spektrums beginnt seine Rolle als mitleidserregende Kreatur und wandelt sich im Laufe der Handlung nicht nur zur wortwörtlichen Triebfeder, sondern auch zum sympathischen Taugenichts, der von den Wundern der Welt überwältigt wird.

Swiss Army Man ist im Grunde genommen ein Märchen, wie es im Buche steht. Es handelt vom Leben und Lernen, von menschlicher Entwicklung und von der Konfrontation mit eigenen Fehlern. Es handelt von Freundschaft und Liebe, vom Hoffen und Zaudern, vom Denken und Sehnen. Es legt all das Gewicht der menschlichen Seele auf sein narratives Tableau und verzaubert sein Publikum, indem es komplexe Fragen stellt, um kurz darauf ebenso simple wie einleuchtende Antworten zu geben. Aber Swiss Army Man ist kein einfaches Märchen, kein Märchen das mal ebenso im Vorbeigehen konsumiert werden kann. Dafür ist der Film zu physisch, zu grotesk, zu bizarr körperlich. Wer im ersten Drittel über Flatulenzen und im weiteren Verlauf über so manche anatomischen Ekligkeiten nicht hinwegkommt, wird keine Freude an diesem gehässigen Märchenkobold haben. Denn Swiss Army Man hat zwar das Herz am richtigen Fleck, gleichzeitig aber auch seinen Arsch aus der Hose herausgestreckt, seinen Schwanz in der Hand und seine Spucke im Gesicht. Vielleicht ist die Botschaft auch gerade deshalb so überwältigend, weil sie so leichtmütig, so leichtsinnig von allerlei ekligem Schabernack begleitet wird, und dennoch genau den richtigen Ton trifft. Absolute moralische Reinheit wird hier gekreuzt mit absolut körperlichem Schmutz, liebenswerte Naivität gekreuzt mit brutaler Körperlichkeit. Gerne auch alles zusammen in einer Szene, so dass man sich nie ganz sicher sein kann, ob man Freudentränen weinen, lachen oder sich übergeben will.

Swiss Army Man ist hässlich und schön, verführerisch und abstoßend, vor allem aber ist Swiss Army Man ein Feel Good Movie, der seinem Publikum nie wirklich weh tun will. Nachdem er ein wenig mit Stinkbomben um sich geworfen hat, nimmt er seine Opfer zärtlich in den Arm und flüstert ihnen ins Ohr: „Heh, war doch gar nicht so schlimm. Schau mal, was ich hier sonst noch schönes für dich habe.“ Und es funktioniert, jedes Mal. Szene um Szene nimmt einen dieser groteske Trip zu den Wundern des Lebens gefangen, umspielt einen mit fantastischen Bildern, himmlischen Tönen und wunderschönen kreativen Momenten, die die Macht der Vorstellungskraft und die Freude am puren Sein feiern. So schmutzig er auch ist, Swiss Army Man ist ein Film zum Liebhaben: Urkomisch, tieftraurig, berührend, belebend und bejahend. Ein kleines, großes Meisterwerk und letzten Endes einfach nur verdammt toll.

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