Die besten Filme 2017: I, Tonya und das Vexierspiel der Perspektiven

Im Jahr 1994 war ich 12 Jahre alt und habe mich – ich bin versucht „selbstverständlich“ zu sagen – nicht im geringsten für Eiskunstlauf interessiert. Aber ich erinnere mich dennoch an die Bilder der weinenden Nancy Kerrigan, nachdem dieser mit einer Eisenstange die Knie zerschlagen worden waren. Ebenso erinnere ich mich an das kollektive Aufatmen der medialen Sportöffentlichkeit, nachdem diese trotz des Anschlags bei den olympischen Spielen in Lilehammer die Silbermedaille gewann. Ich erinnere mich auch vage an den damaligen Gossip rund um ihre Rivalität mit Tonya Harding; und ohne irgendwas zu den Hintergründen zu wissen, wusste ich damals doch sehr wohl, wer die Gute – Kerrigan – und wer die Böse – Harding – in diesem Spiel war. Es war ein bisschen so wie die fast zeitgleich stattfindende Rivalität zwischen Henry Maske und Graciano Rocchigiani oder Bret Hart und Jerry Lawler. Wir waren jung und verstanden wenig von medialen Sportevents, aber die Sportfilme der 80er Jahre hatten uns gelehrt, dass es bei Rivalitäten immer einen Helden und einen Bösewicht geben musste. Zweiteres war Tonya Harding im Eiskunstlauf: Die Eishexe, die gnadenlose Attentäterin, die Unsportliche, die Verlogene; und natürlich auch die, die drehbuchreif am Ende mit ihren Intrigen nicht durchkam und bei den olympischen Spielen 1994 nur den achten Rang belegte.

Tonya Harding (Margot Robbie) spricht; direkt mit der Kamera, direkt mit dem Publikum. Sie spricht über ihr Leben, ihre Rivalitäten, ihr Glück und Unglück. „Das ist nie passiert“, ist ein Satz, den wir im Laufe des Films öfter zu hören bekommen. Hängen bleibt aber vor allem ein Satz, kurz vor Ende, wenn sie sich ans Publikum richtet, nicht nur um zu ihm, sondern auch um über es zu sprechen: „It was like being abused all over again. Only this time it was by you. All of you. You’re all my attackers too.“ schreit sie uns entgegen. Und das Lachen, das den Film zuvor so dominierte, bleibt dem angegriffenen Publikum im Halse stecken. Denn sie hat recht: Wir sind Voyeure. Voyeure des Sports, Voyeure der Geschichte; Voyeure einer Geschichte, der wir einen Sinn geben wollen. Und dafür haben wir sie als Schurkin auserkoren. Wir weiden uns in diesem Biopic an ihrem Schicksal, so wie wir uns vor 25 Jahren an ihrer Rivalität mit Kerrigan und ihrer Niederlage geweidet haben. Nur dieses Mal wird der Spieß umgedreht: I, Tonya (2017) lässt uns nicht so einfach vom Haken. Es gibt immer mehrere Versionen einer Geschichte. Manchmal ergänzen sie sich, manchmal widersprechen sie sich, und immer fordern sie ihre Rezipienten heraus. Diese Herausforderung gelingt I, Tonya kongenial: Er ist mehr als nur Sportfilm, mehr als Biografie, mehr als Groteske oder Tragikomödie. In erster Linie ist er ein Schaubild der Versionen, ein Vexierspiel der Versionen, eine Harlekinade, die uns vor den Kopf stößt, indem sie schattiert lässt, wo wir uns doch eigentlich Klarheit wünschen.

Tonya hat kein leichtes Leben; das ist die erste und grundsätzlichste Version dieses Films. Ihre Mutter LaVona (Allison Janney) ist ebenso kaltherzig wie verbittert wie ehrgeizig. Ihr Vater, zu dem sie ein sehr gutes Verhältnis hat, hält es irgendwann zu Hause auch nicht mehr aus und flieht Hals über Kopf. Das einzige, was Tonya wirklich besitzt, ist die Freude am Eiskunstlauf. Bereits als Vierjährige dreht sie Pirouetten wie kein anderes Kind. Auch LaVona wird auf das Talent ihrer Tochter aufmerksam und platziert sie im Training der angesehenen Eiskunstlauftrainerin Diane Rawlinson (Julianne Nicholson). Angepeitscht von der Erbarmungslosigkeit ihrer Mutter entwickelt sich Tonya zur akrobatischsten und stärksten Sportlerin auf dem Eis. Aber ihre White Trash Herkunft, ihre vehemente Weigerung die Prinzessin auf dem Eis zu sein und ihre vulgäre Offenheit verhindern, dass sie einen Platz im Herzen der Verbände und Öffentlichkeit gewinnen kann. Stattdessen rauscht sie von einer toxischen Beziehung – die mit ihrer Mutter – in die Nächste: Ihr Freund und späterer Ehemann Jeff (Sebastian Stan) misshandelt sie ebenso brutal wie LaVona; und ihre Karriere scheint mehr oder weniger vorbei zu sein, bevor sie richtig begonnen hat. In dieser Zeit entwickelt sich auch die Rivalität zur neuen amerikanischen Eiskunstlaufhoffnung Nancy Kerrigan (Caitlin Carver), die ebenso wie Tonya auf einen Platz bei den olympischen Spielen in Lilehammer hofft. Ohne Tonyas Wissen heckt Jeff zusammen mit seinem großmäuligen Freund Shawn (Paul Walter Hauser) einen Plan aus, wie er die Konkurrenz ausschalten kann.

Tonya Harding als Opfer ihrer Herkunft, als Opfer der Öffentlichkeit, als Opfer der Umstände, in denen sie lebte… Ganz so leicht macht es I, Tonya seinem Publikum nicht. Auch wenn Tonyas Perspektive den Film prägt, dominiert sie ihn doch nicht. Das liegt an seinem hervorragenden Vexierspiel mit ihrer Sicht im Kontrast zu der Sicht der anderen Protagonistinnen und Protagonisten. Ein „So ist das alles nicht geschehen!“ hört man nämlich nicht nur von ihr, sondern auch von ihrer Mutter, ihrem Ehemann und ihrem dubiosen Bodyguard. Zusätzlich bedient sich I, Tonya auf kongeniale Weise dem Prinzip der Ironisierung: Während in mockumentarischen Interviews das Geschehen von allen Beteiligten kommentiert wird, sehen wir mitunter radikale Brüche zwischen dem Erzählten, Kommentierten und Gezeigten. In seinen stärksten Momenten erinnert der Film an die Ironisierung der Bekenntnisliteratur der Moderne: Irgendwie sind alle hier gezeigten Menschen ein wenig Hochstapler, ein wenig Felix Krull, ein wenig Bekenner aber eben auch ein wenig Verschweiger. Und sie wollen sich selbstverständlich im besten Licht dargestellt sehen. So ist I, Tonya auch ein Kampf der Perspektiven, ein Kampf der Dargestellten untereinander, ebenso wie ein Kampf der Dargestellten mit der Darstellung. Der Film selbst wird spöttisch grinsend zum Antagonisten, zerrt ans Licht, was Tonya und die Anderen gerne im Verborgenen gehalten hätten. Aber er wird auch zu ihrem Komplizen, und gleichzeitig zum Antagonisten der Zuschaueraugen. So ganz können wir dem Geschehen nie über den Weg trauen, so ganz können wir uns nie auf das Gesagte und Gezeigte verlassen, und oft müssen wir einfach mit den Ambivalenzen und Ambiguitäten leben, die eine solche – reale – Geschichte mit sich bringt.

Die Umsetzung dieses Vexierspiels geschieht nie verkopft, sondern ganz im Gegenteil, äußerst spritzig, unterhaltsam und oft auch sau witzig. Es ist ein großes Vergnügen den Protagonistinnen beim Bruch der vierten Wand zuzuschauen. Es ist urkomisch, wenn die Selbstdarstellung gewisser Figuren radikal konterkariert wird in anschließenden Szenen und es ist mordsunterhaltsam, wenn die Narration ein ums andere Mal gebrochen wird. Für eine Tragikomödie legt I, Tonya ein beachtliches Tempo vor, mischt auf kongeniale Weise Fakten mit Fiktionen, Mockumentary mit Meta-Film-Elementen, großes Drama mit satirischen Spitzen und wüsten Entgleisungen. Ohne Zweifel haben wir es hier mit dem besten Schnitt des Filmjahres 2017 zu tun: Cutterin Tatiana Riegel spielt mit den Elementen, die ihr Drehbuch und Kamera zur verfügung stellen, verwebt sie, intensiviert sie und zerbricht sie. So lösen sich Sicherheiten ein ums andere Mal auf und als Zuschauer bleibt man – trotz der eigentlich recht trivialen Geschichte – permanent ans Geschehen gefesselt. Dazu trägt auch der exzellente Cast bei: Margot Robbie als Tonya Harding mit dem Mut zur Dreckigkeit, Biestigkeit und Abgefucktheit. Allison Janney als eiskalte, aggressive Mutter mit einer beeindruckenden Performance, die nicht selten an Tilda Swinton erinnert. Sebastian Stan als ebenso gewalttätiger wie unfähiger Ehemann, und nicht zuletzt Paul Walter Hauser als Großmaul und Katastrophengarant Shawn. Die Figuren haben allesamt ihre Macken und Ticks und diese werden genüsslich in diesem satirischen Dramedy-Infernal ausgewalzt. Im Kontrast zu all den brutalen, bizarren, verrückten und dämlichen Menschen, die ihr Leben bevölkern, wirkt Tonya Harding selbst fast noch wie der am ehesten geerdete, vernünftige und selbstbewusste Charakter. I, Tonya gibt der Gescheiterten auch ein Stück Würde zurück, indem er zeigt, in welchem absurden Milieu sie sich behaupten musste und erzeugt sogar Respekt dafür, dass sie es dennoch (fast) bis an die Spitze geschafft hat.

Und dann ist da natürlich noch unsere Rolle; die des Publikums. So viel wir lachen können bei dem ganzen Unheil, das auf der Leinwand stattfindet, so müssen wir uns am Ende doch fragen: Sind wir wirklich besser? Ist es nicht genau unsere Sensationsgier, unsere Lust an Rivalität und menschlichem Drama, die solche Geschichten erst möglich macht? Selbst wenn Tonya nicht einfach nur Opfer ist, sind wir nicht dennoch auch ein bisschen Täter? I, Tonya lässt uns mit dieser Frage allein und gibt seiner Protagonistin damit auch ein Stück Genugtuung. Ohnehin gehören die letzten Momente ganz allein ihr: Als Steh-Auf-Männchen, als Verstoßene und Gerettete; aber eben auch als Lügnerin, als larmoyante Besserwisserin, der es nie gelungen ist, ihre eigene Rolle zu reflektieren oder Verantwortung für die Ereignisse zu übernehmen. Und genau in diesem Wesen ist sie auf eine krude Weise erfolgreich, trägt in ihrem Misserfolg doch einen Sieg davon. Fuck it, sagt uns I, Tonya in seinen letzten Sekunden: Maybe it’s just entertainment folks.

Ähnliche Artikel