Nordkurve (1993) – Die dunklen Seiten des Fußballgeschäfts

Anlässlich zur Fußball WM 2010 in Südafrika breitet sich allmählich wieder eine allgemeine Fußballeuphorie in Deutschland aus und reißt  selbst ansonsten am Ballsport Uninteressierte mit. Fußball ist tatsächlich – gerade in Deutschland – ein einzigartig kulturelles Phänomen, sowohl im Guten als auch im Schlechten. Dementsprechend gibt es auch die filmischen Verarbeitungen des Themas: Sei es als actionreicher Kickspaß für Jugendliche (Die wilden Kerle), als charmante Indiekomödie (Kick it like Beckham) oder als euphorisches dokumentarisches Stimmungsbild (Deutschland, ein Sommermärchen). Heraus sticht aus der Vielzahl der Fußballfilme Adolf Winklemanns Drama Nordkurve von 1993. In dem episodisch angelegten Panorama rund um den fiktiven Verein Union Dortmund zeigt Winkelmann die Schattenseiten sowohl des Fußballspiels als auch des Fußballgeschäfts als auch der Fankultur eines vom Abstieg und von der Insolvenz bedrohten Vereins.

Samstag, Fußballtag. Wie jede Woche steht ein Spiel des vom Abstieg bedrohten Pottvereins Union Dortmund an. Am Rande und im Zentrum dieses regelmäßigen Ereignisses spielen sich zahllose Schicksale ab. Der Wirt Teddy, dessen Kneipe Stammlokal der Union-Anhänger ist, hat keine Lust mehr bei dem allwöchentlichen Treiben mitzumachen und befürchtet zudem von seiner Frau betrogen zu werden. Diese vergnügt sich tatsächlich, während ihr Mann nachts am Arbeiten ist, mit dem Ersatzspieler Clemens Niebisch. Der auf die Ersatzbank verbannte Stürmer hofft schon monatelang auf seine Einwechslung und große Stunde. Währenddessen quälen die Vereinsführung ganz andere Sorgen: Union ist nicht mehr liquide, steht kurz vor dem Abstieg und die vermeintliche Rettung, ein Stürmer aus Spanien wird von dem schmierigen, außerhalb des Vereins stehenden, Geschäftsmann Roland Beyer umworben. Trotzdem lässt Vereinspräsident Eberhard Vischering eine Reporterin hinein in die Geschäftsräume, damit diese mit einer Reportage über die Vereinskultur das Image Unions aufpolieren kann. Nebenbei bereiten sich die Fans auf das große Wochenereignis vor. Saufend und randalierend ziehen sie durch die Straßen, liefern sich Scharmützel mit den Fans des gegnerischen Vereins und spielen Katz und Maus mit der Polizei. Immer an der Schwelle zur Eskalation und doch irgendwie Alltag: Samstag, Fußballtag.

Adolf Winkelmanns Inszenierung des alltäglichen Fußballirrsinns weist so einige Besonderheiten auf. Es gibt fast überhaupt keine Spielszenen zu sehen, ohnehin nimmt das eigentliche Spiel gerade mal ein Drittel des Filmes ein. Bezeichnend für seine Herangehensweise an das Thema ist eine Szene, kurz vor Abpfiff der Partie, in der die Kamera statisch auf die Trainerbank gerichtet ist. Nur anhand der wilden Gesten von Trainer und Team ist das Geschehen auf dem Platz zu erahnen. Anstatt das Spiel in den Mittelpunkt zu rücken, richtet Nordkurve seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf dessen Protagonisten. Deren Geschichte steckt voller Tragik, Skurrilität aber auch ganz eigener Schönheit. So läuft die Inszenierung der einzelnen Schicksale zwar ab und zu Gefahr, zu viele Klischees aufzubreiten, bleibt aber dennoch zu jedem Zeitpunkt angenehm ambivalent und nachvollziehbar: Die Ängste des Vereinsvorstandes, die Nöte der fast noch jugendlichen Spieler, die Frustration der traditionellen Fans, die sich ständig zwischen euphorischer Fankultur und blanker Zerstörungswut bewegen. All das ist authentisch und mitunter gar empathisch geschildert. Trotzdem verzichtet Winkelmann auf einen allzu dokumentarischen Stil: Stattdessen benutzt er klassische, spannungs- und dramatiksteigernde Stilmittel, setzt auch gelegentlich auf etwas Pathos, findet aber immer rechtzeitig zum eigentlichen Sujet zurück. Dadurch hat der Film trotz seiner mitunter erschütternden Authentizität einen ordentlichen Drive und läuft nie Gefahr zu langweiligem, biederem Realismus zu verkommen.

Neben der Inszenierung stechen vor allem die hervorragenden Darsteller heraus. Bis in die kleinsten Nebenrollen ist der Film mit herausragenden Akteuren besetzt. Stefan Jürgens, Michael Kessler und Piet Klocke, die später allesamt zu Comedyehren kommen sollten, zeigen mit ihrer schonungslos authentischen Darstellung der Fußballfans, dass sie auch als Charakterschauspieler taugen. Leonard Lasink begeistert als korrupter, resignierter Radiomoderator ebenso wie Rolf Dennemann als tragikomischer Alkoholiker. Aber auch die Hauptdarsteller verleihen dem Film das richtige Flair, allen voran Bernd Stegemann als schmieriger Geschäftsmann Roland Beyer und Christian Tasche als resignierter, lethargischer Ex-Fußballspieler und Wirt Teddy sowie Renate Krößner als seine kämpferische, Frau, die immer noch Träume hat.

Diese Figuren bewegen sich in einem ganz eigenen fußballkulturellen Nimbus irgendwo zwischen Prekariat und High Society, werden dabei aber niemals vorgeführt, sondern immer mit einem gewissen Verständnis für ihre Situation beleuchtet. Da tut es Nordkurve auch nur allzu gut, dass die erzählten Geschehnisse trotz mancher reißerischer Inszenierung nie den Nimbus des Alltäglichen verlassen. Rolf Dennemann bringt es in der letzten Szene auf den Punkt: Das was wir in Nordkurve sehen, geschieht jede Woche: das Saufen, das Feiern, das Resignieren, das Kämpfen… es sind alltägliche menschliche Erlebnisse die hier geschildert werden, mal dramatisch, mal profan, und auch wenn sie rund um den Fußball geschehen, so findet man sie doch auch in der ein oder anderen Form in den verschiedensten Millieus und Subkulturen. Dementsprechend ist (der zurecht vielfach ausgezeichnete) Nordkurve mehr als nur ein weiterer Sportfilm: Er ist ein Kaleidoskop des Menschlichen, allzu Menschlichen und Unmenschlichen, eine soziale Bestandsaufnahme, ein Blick auf das Zentrum und die Peripherie des Geschäfts und zudem ein spannendes, mitreißendes Drama. Auch heute noch, trotz mittlerweile fast zwanzigjährigen Alters, aktuell. Ein Pflichtfilm für jeden an der Fußballkultur Interessierten.