Die besten Filmdramen der 90er Jahre V

90er Filmdrama die Fünfte… Auch dieses Mal geht es auf eine Reise durch Länder und deren Mentalitäten. Im ersten Teil der Drei Farben Blau sucht Krzysztof Kieślowski in Frankreich nach dem Motiv der Freiheit und findet es in einer ästhetizierten Entwicklungsgeschichte. In Hitlerjunge Salomon sucht Agnieszka Holland nach den Gesichtern der Deutschen im Nationalsozialismus gesehen durch die Augen eines Juden, und in den beiden Independent-Dramen My private Idaho und Good Will Hunting versucht Gus Van Sant, sich den Außenseitern der amerikanischen Gesellschaft anzunähern. Gesellschaftliche Strukturen werden auch in Festen und Wiedersehen in Howards End aufgedeckt, in Rote Laterne führt die Unterdrückung des Ichs direkt in die Katastrophe und in Ein Herz im Winter gibt es trotz aller Fremd- und Selbstgeißelung doch wieder so etwas wie Hoffnung. Große Dramen vom Indie-Kino bis zum Historienepos, nach dem Klick.

Drei Farben: Blau [Krzysztof Kieślowski]

(Frankreich 1993)

Dass dem Vorhaben einer Filmtrilogie zu den französischen Nationalfarben – rot, blau, weiß – ein gewisser Größenwahn zu Grunde liegt dürfte, nur schwerlich zu leugnen sein. Und tatsächlich ist in Krzysztof Kieślowskis Drei-Farben-Reihe vieles too much, sowohl was Querverbindungen der einzelnen Filme untereinander als auch dramaturgische Bögen und inszenatorischer Narzissmus in den einzelnen Filmen betrifft. Aber dieser unglaubliche, wunderschöne, mitreißende und dramatische Einstand lässt die beiden gediegen langweiligen Nachfolger verschmerzen. Blau ist tatsächlich der einzig wirklich gute Film der Reihe… aber wie gut er ist! Entlang des Motivs der Freiheit hangelt sich das episch inszenierte Drama durch die Geschichte einer vom Leben Zurückgestoßenen, verfolgt deren Selbstbefreiungsdrang und findet dabei zu ethischen, existenzialistischen und sozialen Fragen: Elegant inszeniert, manchmal zu viel, manchmal zu gewollt groß und lyrisch… aber Dank der hervorragenden Durchleuchtung des Sujets mitreißend vielschichtig, nachdenklich und beispiellos poetisch.

Hitlerjunge Salomon [Agnieszka Holland]

(Deutschland 1990)

In Deutschland tendenziell eher kritisch rezipiert, war Hitlerjunge Salomon unter dem Titel „Europa Europa“ im Ausland insbesondere in den USA ein großer Erfolg. Diese Diskrepanz zwischen hiesiger und ausländischer Rezeption spitzte sich bei der Oscarverleihung 1992 zu, als Agnieszka Hollands Drama von der deutschen Oscarkommision nicht für den besten fremdsprachigen Film zugelassen wurde (obwohl man ihm zurecht die besten Chancen einräumen konnte), während er in den USA sowohl bei den Golden Globes abräumte als auch eine Nominierung für das beste Drehbuch bei den Academy Awards erhielt. Recht gebe ich in diesem Fall der US-Rezeption. Hitlerjunge Salomon hat zwar seine sentimentalen Momente, ist aber ein dichtes, spannendes und lehrreiches Drama, das die jüngere deutsche Geschichte (jünger als viele gerne wahrhaben wollen) aus der Sicht eines Ausgestoßenen und zugleich Involvierten auf meisterhafte Weise erzählt.

Good will Hunting [Gus Van Sant]

(USA 1997)

Die Verfilmung des von Matt Damon und Ben Affleck gemeinsam geschriebenen Drehbuchs Good Will Hunting ist amerikanisches Independent-Kino par Excellence. Gus Van Sant (Elephant, Gerry) lässt sich viel Zeit für die Inszenierung der einzelnen Charaktere. Trotz großen Staraufgebots verheddert er sich nie in den klassischen Hollywoodfallstricken und erzählt stattdessen herrlich unaufgeregt die komplexe Entwicklungsgeschichte eines hochbegabten Rebellen. Neben der intelligent arrangierten Fragestellung „Was zeichnet einen Menschen aus? Wie kann und muss ein Mensch sein Potential nutzen“ hebt vor allem das psychologisch dichte und emotional ergreifende Duell zwischen Matt Damon und Robin Williams den Film von anderen Mitbewerbern positiv ab: Zwischen psychologischem Duell, Vater-Sohn-Konflikt und sich entwickelnder Freundschaft bietet die Jagd nach dem guten Will genug für Herz und Verstand. Ein wunderbar ruhiges und dennoch mitreißendes Psychodrama um Selbstfindung und Selbstaufgabe.

My private Idaho [Gus Van Sant]

(USA 1991)

Und gleich den nächsten Gus Van Sant Film hinterher… My own private Idaho ist ein traumtänzelnder, ungemein zurückhaltender Road Movie, der große dramatische Geschehnisse (Pate stand hier Shakespeare) zur Vorlage für einen subtilen, gänzlich unsentimentalen und höchst authentischen Film nimmt. Die Geschichte um Stricher, Narkolepsie, Homosexualität und die Suche nach einer Familie ist beispiellos in ihrer Intimität und in ihrer Empathie für die Charaktere, die herausragend von River Phoenix (der leider zwei Jahre nach den Dreharbeiten verstarb) und Keanu Reeves (ja, der kann was!) verkörpert werden. My private Idaho bewegt sich stetig, ruhig fließend zwischen verlorenem Trip, Geborgenheit und dokumentarischer Distanz. Gus Van Sant entdeckt die Ruhe der Einsamkeit und gleichsam die Kraft der Überwindung, die ihr immanent ist.

Rote Laterne [Zhang Yimou]

(China 1991)

Rote Laterne ist sowohl naturalistisches Lehrstück als auch universelle Parabel, emotional aufwühlendes Melodram und nachdenklich stimmende Tragödie. Die Geschichte einer selbstbewussten Frau, die aus finanzieller Not heraus in einen wohlhabenden „Harem“ einheiratet, steckt voller Bitterkeit, voller leiser Tragik, ist aber auch ein grimmiger Aufschrei und eine bedingungslose Suche nach Freiheit. Im Mikrokosmos der abgeschotteten Gesellschaft, in den Kleinkriegen der Geknechteten um einen höheren Platz in der Hierarchie spiegelt sich das Funktionieren faschistischer und totalitärer Systeme wieder. Rote Laterne dokumentiert dies ohne Überreizung, ohne erhobenen Zeigefinger und ohne das Verständnis für seine Protagonisten zu verlieren. Sowohl ästhetisch als auch emotional und intellektuell ein Meisterwerk des neueren chinesischen Kinos.

Ein Herz im Winter [Claude Sautet]

(Frankreich 1992)

Leise und ästhetizistisch kommt auch Claude Sautets subtile Dreiecksgeschichte Un cœur en hiver daher. Dabei konzentriert er sich jedoch weniger auf klassische Dreiecksmotive als viel mehr auf das Thema des Zauderns und Zurückweichens angesichts aufkochender Leidenschaft. Die im Zentrum stehende Beziehung zwischen dem introvertierten Stéphane und Camille wird (fast) nie zu einer solchen, stattdessen oszilliert sie stetig zwischen Hingabe auf der einen und Abweisung auf der anderen Seite. Sautets Drama wird dadurch zu so etwas wie einem asketischen Liebes- und Erotikfilm, einem Film der permanent die innere Spannung seiner Protagonisten dokumentiert, der den Zuschauer immer wieder auf den Ausbruch warten lässt und diese Erwartungen ein ums andere Mal untergräbt. Das Ergebnis ist nicht nur tragisch sondern auch wunderschön anzuschauen, voller großer subtiler Momente, leicht, warmherzig und doch so dicht, dass das Zerbersten der Emotionen stets greifbar bleibt.

Das Fest [Thomas Vinterberg]

(Dänemark, Schweden 1998)

Man könnte diese ganze Dogma95-Geschichte als kreatives Spiel, als filmemacherischen Narzissmus auffassen, wenn sie nicht so unfassbar große Filme hervorgebracht hätte. Der beste Film des neuen, naturalistischen nordeuropäischen Kinos ist Festen von Thomas Vinterberg: Ein unglaublich mitreißendes, tragisches Stück Arthauskino, das gekonnt zwischen Realismus und parabloischer Überspitzung pendelt. Die Geschichte um eine durch einen Missbrauchsvorwurf gesprengte Geburtstagsfeier ist bitter, schmerzhaft authentisch und legt unzählige Wunden des Großbürgertums offen. Gnadenlos seziert Vinterberg Mechanismen der Gesellschaft, Verdrängung, Phlegmata, Lethargie… und schafft es dennoch immer misanthropischen Zynismus zu umgehen. Die Beklemmung der sozialen Irrwege perfekt auf Zelluloid gebannt.

Wiedersehen in Howards End [James Ivory]

(Großbritannien 1992)

Man muss schon ein wenig aufpassen, um bei den ganzen Ivory-Historienschinken nicht den Überblick zu verlieren. Wie in Was vom Tage übrig blieb kombiniert der britische Regisseur hier seinen Hang zum ästhetizistischen Eskapismus mit einem differenzierten Blick auf die Strukturen der britischen Gesellschaft.  Das Ergebnis ist ein in fantastischen Bildern taumelndes Gefühldrama, das immer zurück zu sozialen und universellen Themen findet. Romantik, Bildverliebtheit aber auch ein Blick für Nunacen, für kleine Momente machen aus Howards End ein gediegenes, edles und exquisites Dramenerlebnis. Ein Sittengemälde in das man sich einfach fallen lassen muss, das man dann aber auch umso mehr genießen kann.

 

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