Die besten Filmdramen der 90er Jahre II

Teil zwei unserer letzten Meter bei den besten Filmen der 90er Jahre. Auch in diesem Artikel stehen die Minimalklassifizierten, die großen emotionalen Leinwanderlebnisse, die besten Dramen des Jahrzehnts im Mittelpunkt. Mit Mike Leigh ergründen wir Lügen und Geheimnisse der britischen Gesellschaft, mit Belar Tarr lassen wir uns in epischer breite die dunklen Seiten der kommunistischen Endzeit nahe bringen. Wir sagen Lebewohl, meine Konkubine, feiern liebste Jahreszeiten und wilde Tage und verlieren uns im Duft der Frauen.

Lügen und Geheimnisse [Mike Leigh]

(Großbritannien 1996)

Regisseur Mike Leigh liebt die Improvisation, liebt den Realismus, den Naturalismus und die authentischste Form der Darstellung, die möglich ist. Durch dieses Faible generierte er spröde, bissige Satiren, düstere Sozialdramen und generell Filme, die alles andere als bekömmlich sind. Lügen und Geheimnisse sticht ein wenig heraus aus dieser beeindruckend stacheligen Filmografie. Die Geschichte einer Schwarzen, die ihre weiße (sie verleugnende) Mutter ausfindig macht, ist für Leighs Verhältnisse ein geradezu anschmiegsamer, warmherziger Film. Und doch steckt er voller authentischer Momente, Eindrücke, die direkt aus dem Leben kommen, und ungeschönten Realitäten… aber auch voller warmherziger Momente, voller Lachen und Weinen, voller Emotionen, die er ohne jede Sentimentalität, ohne jeden stilisierten Kitsch seinem Publikum darbietet: Ein beeindruckendes, fesselndes und ehrliches Drama zwischen Realität und Realitätsüberwindung.

Sátántangó [Bela Tarr]

(Ungarn 1994)

Habe ich gerade spröde gesagt? Get this! Bela Tarrs Satanstango ist ein Film, der den Ruf des Regisseurs als legitimer Tarkowskij-Nachfolger fest zementieren sollte. Die Geschichte eines ungarischen Hofes, in der kommunistischen Endzeit, verschiedene Perspektiven, Blicke auf das Leben, die Arbeit, die Zeit wälzen sich über den Zuschauer in epischen 450 Minuten. Mitunter scheint die Zeit geradezu still zu stehen. Langsamkeit ist hier nicht nur einfach Prinzip sondern Religion, Kriegserklärung an den gesellschaftlichen Zerfall und Demagogie um ihrer selbst Willen. Mit dem eiskalten, präzisen Blick seiner unendlichen Einstellungen entlarvt Bela Tarr falsche Propheten, Lebenslügen, irrige Hoffnungen und entwirft ein dunkles, apokalyptisches Gesellschaftsporträt, eine Parabel der Vielen, Symbol über Symbol, Bild im Bild im Bild. Sátántangó ist mehr als nur eine filmische Herausforderung, er ist ein trister, morbider filmischer Sog, eine endgültig Provokation der Sehgewohnheiten und zugleich ein dichtes, volles Sittengemälde, dass den Menschen als des Menschen Mensch untersucht, bloßstellt, bewegt und sich selbstentlarven lässt.

Lebewohl meine Konkubine [Chen Kaige]

(China 1993)

Weitaus schillernder als in Bela Tarrs schwarzweißem Sittengemälde geht es in dem chinesischen Künstlerdrama Lebewohl meine Konkubine zu. Dieses steht ganz im Zeichen der Pekingoper, sowohl ästhetisch als auch inhaltlich als auch metatextuell. Anhand der Geschichte zweier Männer zwischen kreativer Passion, Freundschaft und Liebe entwirft Chen Kaige ein monumentales Gesellschaftsporträt des Chinas des 20. Jahrhunderts: Gesellschaftliche Umbrüche, Mentalitätswandel, über fünf Jahrzehnte begleitet der edle Film seine Protagonisten, lässt sie lieben, leiden, große Kunst hervorbringen und an persönlichen Differenzen scheitern. Erzählt wird dies ebenso elegisch wie realistisch, gefangen nehmend, abstoßend und in ein tragisches Infernal mündend.

Meine liebste Jahreszeit [André Téchiné]

(Frankreich 1993)

Gesellschaftliche Umstände und soziale Geflechte gespiegelt in der Beziehung zweier Menschen… Auch der französische Regisseur André Téchiné beherrscht die universelle Parabolisierung von Einzelschicksalen wie kaum ein anderer. In dem Familienporträt Ma Saison préferée widmet er sich der Beziehung eines Geschwisterpaares zueinander, die Rolle von ihrer alten, gebrechlichen aber auch resoluten Mutter und den Menschen die mit ihrer komplizierten familiären Situation konfrontiert werden. In ruhigen, mit bissigem Humor durchsetzten, Bildern findet er so immer wieder den Zugang zu allgemeingültigen Topoi wie Generationen, Familie und Zusammenhalt trotz Divergenzen. Dabei ist Meine liebste Jahreszeit sowohl charmant als auch traurig, zurückhaltend als auch angriffslustig, durch seine klare, dramatische Struktur und das herausragende Schauspiel aller Beteiligten stets exquisit und unterhaltend. Wie ein berührender, fesselnder Theaterabend, der erfolgreich auf Film gebannt wurde.

Betty und ihre Schwestern [Gillian Armstrong]

(USA 1994)

Wir bleiben der Familie treu und widmen uns wieder dem großen, emotionalen US-Drama mit Oscar-Aussichten. Trotz drei Nominierungen ging Little Women bei den Academy Awards 1995 leer aus. Das ändert allerdings nichts an der herzensguten, wunderbar sentimentalen (im Besten Sinne des Wortes), die dieses kleine große Meisterwerk zu einem der schönsten Wohlfühlfilme der 90er Jahre werden lässt. In der Geschichte von vier unterschiedlichen Schwestern und ihrer Mütter werden verschiedene Lebensansichten, Träume, Wünsche und Ziele in Konflikt gebracht und immer wieder miteinander versöhnt. Dabei scheut er keineswegs ernste Themen, feministische Zwischenrufe und kämpferischen Freiheitsdrang, bastelt diese aber konsequent in wohlig warmehrzige Familienunterhaltung ein, die sowohl junge als auch alte Zuschauer für sich gewinnen kann.

Days of being wild [Wong Kar-wai]

(Hong Kong 1990)

Wong Kar-wai gehört zu den größten asiatischen Regisseuren der letzten Jahrzehnte, ein Meister auf dem dramatischen Parkett, der geschickt kleine Geschichten zu großen Panoramen zusammenfließen lassen kann und die Kunst des Traumes ebenso beherrscht wie die der Realitätsabbildung. Days of being wild ist eines seiner frühen, hierzulande fast vergessenen (wenn überhaupt je beachteten) Meisterwerke und dabei doch wirklich jede Minute wert. Anhand verschiedener Persönlichkeitsprofile entwirft Wong Kar-wai hier einen präzisen, mitunter humorvollen, mitunter melodramatischen Blick auf die Gesellschaft Hong Kongs. Liebe, Erwartungen, Träume, Hoffnungen… all diese urmenschlichen Gefühle spiegeln in seiner Präzisierung immer auch gesellschaftlichen Wandel, sozialen Freiheitsdrang und politische Rebellion wieder. Romantik dient in diesem Kaleidoskop immer auch sozialkritischen, subversiven Motiven, Emotionen haben immer einen tieferen Grund als in ihrer offensichtlichen Veranlassung und im Alltag, der wie ein Fluss vor sich hintreibt steckt auch immer das Potential des großen Philosophischen, des Transzendentalen aber auch konkret Aktionistischen, ohne jemals voll auszubrechen. Days of being wild ist eine tiefgründige Parabel in der weitaus mehr geschieht, als auf den ersten Blick sichtbar ist.

Der Duft der Frauen [Martin Brest]

(USA 1992)

Hollywood again. In Der Duft der Frauen trifft Coming-of-age-Drama auf ein großes Persönlichkeitsporträt, das ganz vom Charisma Al Pacinos lebt. Funktionieren darf der Film freilich auf beiden Ebenen. Sowohl die Geschichte des verbitterten und zugleich lebenslustigen Blinden als auch die des unsicheren, idealistischen Schülers stecken voller Weisheit, Lebensfreude, großem Pathos aber auch leisen Zwischentönen. In dieser unnachahmlichen Kombination ist Scent of a woman ein klassischer Academy-Streifen, dem man allerdings Dank seiner emotionalen Dichte weder die Sentimentalitäten noch den emotionalen Pomp böse nehmen kann… Ganz im Gegenteil: Das Spiel auf der Gefühlsklaviatur ist höchst effektiv, wird hier mit Meisterhand betrieben und lässt einen berührten, zufriedenen und glücklichen Zuschauer zurück.

 

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Erstveröffentlichung: 2011