Die besten Filmdramen der 90er Jahre I

Wir nähern uns langsam dem Ende unserer 90er Film-Retrospektive und spitzen schon Bleistifte, tauchen Füller und massieren die Schläfen für den kommenden 80er Kanon-Rundumschlag. Aber ein paar 90er-Highlights habe ich noch und diese passen, wie schon die Dramen der 00er Jahre, mal mehr mal weniger zu allen Kategorien und im Grunde genommen zu keiner, außer der, in die sie nun gepackt werden. Dramen sind einerseits die Simpelkategorisierten, die Filme, die bei jeder Oscarverleihung die besten Chancen haben, die Filme, die man am Ende eben doch ganz banal Dramen nennt und ohne schlechtes Gewissen von jeder weiteren Klassifizierung erlöst. Ein bisschen traurig, ein bisschen optimistisch, mitunter tragisch, aber auch lebenslustig, versöhnlich, mitreißend, belastend, erlösend… je nach dem. Und wie schon in den 00er Jahren gibt es zu dieser Nullkategorie auch gleich einen ganzen Haufen von Artikeln. Im ersten verschlägt es uns ins triste Iowa, in Nervenheilanstalten, in unbekümmerte und bekümmerte Jugend, nach Osteuropa, in die französischen Banlieues und ohnehin überall dorthin, wo das Leben etwas Bewegendes zu erzählen hat…

Zeit des Erwachens [Penny Marshall]

(USA 1990)

Gerne wird die Klassifizierung eines Films als leises, poetisches Drama überstrapaziert. Bei Penny Marshalls Awakenings trifft die überladene Schublade allerdings voll ins Schwarze. Die Geschichte von unter der europäischen Schlafkrankheit leidenden Patienten, die seit über 30 Jahren im Koma liegen und Dank der Arbeit eines Arztes plötzlich wieder erwachen, ist zwar mitunter zu rührselig, dafür aber auch die meiste Zeit über ungemein poetisch, gesetzt erzählt und steckt voller humanistischer Ansätze. Robin Williams als Arzt und Robert DeNiro als Patient bilden ein hochinteressantes Paar zwischen Arzt/Patienten-Beziehung, Freundschaft und medizinisch/sozialem Konflikt, der die Geschichte stets vorantreibt, ohne sie zu hetzen oder zu überfrachten. Ein sanfter, sensibler US-Dramen-Hochgenuss und einer der unterbewertetsten Filme der 90er Jahre.

Hass – La Haine [Mathieu Kassovitz]

(Frankreich 1995)

Dass aus der sozialen Schere resultierende Gewalt ein nach wie vor aktuelles Problem ist, haben nicht zuletzt die Riots in London unter Beweis gestellt. Das naturalistische, dunkle aber auch poetisch-philosophische Drama La Haine widmet sich den sozial Benachteiligten in den Pariser Banlieues. Schmerzhaft nah bewegt sich die Kamera an ihren Protagonisten, versucht deren Motivationen und Ziele aufzudecken und verhält sich dabei ebenso empathisch wie kritisch und reflektierend. Universelle soziale Konflikte werden dadurch auf die beteiligten Menschen zurückgeworfen, die Jugendlichen, die ebenso Opfer wie Täter sind, bekommen ein Gesicht, plausible Motive und ihre Taten werden eindrucksvoll realistisch erklärt (allerdings niemals rechtfertigt). Eine mitreißende Sezierung gesellschaftlicher Realitäten.

Das Dorf meiner Träume [Yōichi Higashi]

(Japan 1996)

Alles andere als aktuell ist die Geschichte einer Freundschaft, die in Higashis „Das Dorf meiner Träume“ erzählt wird. Angesiedelt in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts enthält die nostalgische Wanderung zurück zu unbeschwerten Kindheitstagen ebenso dramatische, sentimentale wie lustige, skurrile und sogar fantastische Elemente. Dennoch verliert der eklektische, bunte Film nie den Blick für das Wesentliche, für die universellen Topoi und Motive die er aufwirft: Freundschaft, Glück, die Suche nach Anerkennung und dem Sinn des Lebens… In letzter Konsequenz ist „E no naka no boku no mura“ gerade durch seinen fehlenden aktuellen Bezug unglaublich nah am Zeitgeist, nicht nur an unserem, sondern ganz allgemein, als universelle, zeitlose Parabel auf Kindheit, Jugend und das Leben an und für sich.

Heavenly Creatures [Peter Jackson]

(Neuseeland 1994)

Die dunklen Seiten der Freundschaft und Fantasie durchleuchtet Peter Jacksons psychologisch komplexes Coming-of-Age-Thrillerdrama „Heavenly Creatures“ auf mitreißende Weise. Zwischen sensiblem Drama, fiebrigem Horrortrip und verklärtem Fantasyrausch ist das düstere Täter/Opfer-Psychogramm ein mitreißendes Meisterwerk, dass dem Zuschauer durch sein Pendeln zwischen den Extremen alles abverlangt, Empathie herstellt, zertrümmert, dekonstruiert und durch stetige Perspektivwechsel, das Oszillieren zwischen Distanz und Nähe sich jedem Urteil entzieht. Ein dunkler, ambivalenter, differenzierter Blick auf die Jugend, der eigenes Denken fordert, dieses aber mit einer beeindruckend dichten, visuellen Präzision belohnt.

Das Piano [Jane Campion]

(Australien 1993)

Es gibt sie einfach, diese Oscar-Filme, bei denen man die Trophäe schon riechen kann, wenn man sie zum ersten Mal im Kino sieht. Das Piano ist ein Oscar-Film par excellence, ein edles, eindrucksvolles, emotional ungemein starkes Drama, das trotz seiner präzisen Brillanz nie Gefahr läuft in seichten Hollywood-Kitsch abzudriften. Im Gegenteil: Die Geschichte einer stummen Klavierspielerin, ihrer Tochter, ihrem Ehemann und Liebhaber besitzt einen nicht zu leugnenden dunklen Einschlag, eine pessimistische und triste Weltsicht, an dessen Ende doch der Optimismus und die Schönheit triumphieren. Erzählt wird dies in berauschenden, großen Bildern, in engen, beklemmenden Aufnahmen, mit erotischer Sinnlichkeit aber auch Gewalt und Schmerz und allem was zwischen diesen Extremen stattfindet.

Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa [Lasse Hallström]

(USA 1993)

Näher als in seiner Nebenrolle in Gilbert Grape sollte auch Leonardo DiCaprio in den 90ern und auch 00ern nie wieder einem Oscar kommen (die beiden folgenden Hauptdarsteller-Nominierungen dürfen wohl eher als freundliche Aufmerksamkeit der Academy verbucht werden), bis er dann schließlich für seine Leistung in The Revenant (2015) doch noch endlich mit der begehrten Trophäe belohnt wurde. Unabhängig davon, dass es ein Unding ist, dass ein großartiger Schauspieler wie DiCaprio bei den größten US-Filmawards bisher noch keine große Rolle gespielt hat, steckt Gilbert Grape voller wunderbarer Momente, leiser poetischer Töne und herausragender Schauspielleistungen. Neben Leo glänzen Johnny Depp als ebenso verträumter wie bodenständiger Ersatzvater, Darlene Cates als labile wie besorgte Mutter und Juliette Lewis als Lebefrau und Hoffnungsschimmer im trostlosen Iowa. Dabei ist Gilbert Grape nie überdramatisiert sondern wahrt stets die zurückhaltenden auch leicht humorvollen Töne, um mit diesen eine einnehmende, charmante aber auch traurige Geschichte zu erzählen.

Kolya [Jan Svěrák]

(Tscheschien 1996)

Das warmherzige Moment in der scheinbaren Trostlosigkeit sucht auch der melancholische, liebenswerte tscheschische Film Kolya, in dessen Mittelpunkt die Beziehung eines gealterten, einsamen Cellisten mit einem fünfjährigen Jungen steht. Ohne falsche Sentimentalitäten schildert der leise Film diese beispiellos empathisch, mit einem dickköpfigen Augenzwinkern, aber auch mit einem wachsamen Auge auf politische und gesellschaftliche Realitäten. Dadurch funktioniert er ebenso als nachdenkliches Zeitproträt wie als universelles Gedicht, hat die Realität immer auf den Schirm, spart aber dennoch nicht mit Träumereien: Versöhnung, Hoffnung, das Überwinden von Gegensätzen… Kolya gelingt es seine Authentizität in eine wohlig warme menschelnde Decke zu hüllen, ohne jemals dem Kitsch anheim zu fallen.

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Erstveröffentlichung: 2011