Rezension zu Schloss aus Glas (2017)

In ihrem 2005er autobiographischen Roman The Glass Castle verarbeitet die Autorin Jeannette Walls Episoden ihrer Kindheit, die vor allem von dem unkonventionellen Lebensstil ihrer Eltern geprägt war. Ihre künstlerisch besessene Mutter und ihr bipolarer, alkoholabhängiger Vater entschieden sich bewusst – aber auch aus Unfähigkeit heraus, ihr Leben in geregelte Bahnen zu lenken – für ein Outsider-Dasein am Rande der Gesellschaft; irgendwo zwischen Freiheit und Vagabundiererei, irgendwo zwischen rebellischer Unangepasstheit, radikalem Idealismus und Verwahrlosung. Die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 2017 versucht dieser ambivalenten Autobiographie gerecht zu werden und landet dabei in einer durchaus trendenden Nische von Outlaw-Familien-Geschichten, die zum Beispiel durch das Sozialmärchen Captain Fantastic (2016), die Tragikomödie Little Miss Sunshine (2006) oder das Drama Manchester by the Sea (2016) in den letzten Jahren immer wieder für starkes emotionales Kino gut waren. Und zugleich versucht er sich von dem oft romantisierenden Touch seiner Vor- und Mitläufer abzuheben.

Die zehnjährige Jeannette (Herausragend: Ella Anderson) versucht mit ihren beiden Geschwistern Lori und Brian sich in dem unkonventionellen Leben ihrer Eltern (Woody Harrelson und Naomi Watts) zurechtzufinden. Das ist gar nicht so einfach, ist dieses Leben doch geprägt von ständigen Umzügen, einer vermeintlichen Verfolgung durch das FBI, den manischen Schaffensepisoden ihrer Mutter und den extremen Wutausbrüchen ihres Vaters. Doch nichts scheint die Faszination zu trüben, die insbesondere Jeanette für die unkonventionelle Art ihrer Eltern empfindet. Erst nach einem schwierigen Emanzipationsprozess versucht sich die mittlerweile erwachsene Jeanette (Brie Larson) mit den Schattenseiten ihrer Kindheit und den Lügen ihrer Familie auseinanderzusetzen.

Schloss aus Glas ist alles andere als ein leichter, bekömmlicher Film und steht damit im krassen Gegensatz zum ein Jahr älteren Captain Fantastic, der zwar auch nicht auf die Darstellung von Schattenseiten des Aussteigertums verzichtete, seinen erwachsenen Protagonisten jedoch immer sehr viel Sympathie und sogar Verehrung entgegenbrachte. Die Stärke von The Glass Castle liegt im Gegensatz dazu vor allem in seiner Ambivalenz zwischen Storytelling und Inszenierung. Während die Geschichte ziemlich eindeutig die einer dysfunktionalen Familie ist, die von einem tyrannischen Familienoberhaupt in Ketten gehalten wird, arbeiten Schnitt und Sound, insbesondere in mehreren cleveren Montagen gegen das eindeutige Bild, das von ihrem narrativen Grundgerüst gezeichnet wird. Das starke Moment dabei ist die dadurch evozierte Diskrepanz zwischen dem Sein als gejagte, unfreie und in Gewisser Form auch verdammte Lebensweise und dem Schein eines Aussteigermärchens. Dabei fällt die Inszenierung der Geschichte nicht in den Rücken, sondern bekämpft sie ganz offensiv und erschafft so ein gewaltiges Spannungsfeld zwischen Naivität, Hoffnung und der düsteren Realität der Familie Walls. Der Konflikt zwischen kindlichem Vertrauen in die Richtigkeit des elterlichen Handelns und gleichzeitiger Konfrontation mit der bitteren Realität gibt dem Film eine spannende Doppeldeutigkeit, was die Auseinandersetzung mit dem Wunsch nach Unkonventionalität und Nonkonformität betrifft.

Zentrale Figur dieses Konflikts ist natürlich Jeannette, auf deren Autobiografie der Film auch basiert. Es ist sowohl der Autorin als auch Protagonistin hoch anzurechnen, wie selbstreflektiert sie mit ihrem eigenen Blick auf die Familie umgeht, sich selbst gerade nicht als die fatale Welt der Eltern durchschauende Freiheitskämpferin inszeniert, sondern all ihre Widersprüche aufs Tableau legt: Die Frage, ob sie in der Kindheit zu naiv war, aber auch die Frage, ob sie als Erwachsene zu hart mit ihren Eltern ins Gericht geht. Die Frage, ob sie nicht auch sehr oft glücklich war in ihrer vagabundierenden Familie, sowie die Frage, ob sie denn nun glücklich ist in ihrer sicheren, bürgerlichen Existenz im New York der ausgehenden 80er Jahre. Einfache Antworten auf diese Fragen liefert der Film nicht, pendelt mal in die eine, mal in die andere Richtung und wird so zur ergreifenden, psychologischen Studie einer hin und her gerissenen Frau, die Licht- und Schattenseiten zweier sehr unterschiedlicher Welten kennt.

So viel Empathie dieses Biopic seiner Hauptprotagonistin entgegen bringt, so distanziert bleibt er jedoch gegenüber seinen anderen Akteuren. Auch wenn die Handlungen von Vater und Mutter den Alltag Jeannettes durchdringen, bleibt deren Motivation, deren emotionale Konstitution doch stets im Vagen und Nebulösen. So wirklich will der Film nicht nachvollziehen, was die beiden antreibt, stattdessen arbeitet er sich an den Konsequenzen für die Kinder ab. Das macht es äußerst schwer eine emotionale Nähe zu den doch sehr präsenten Charakteren aufzubauen und sorgt letzten Endes dazu, dass die Sympathie immer ziemlich eindeutig auf die Kinder verteilt wird. Aber auch die beiden Geschwister bleiben blass im Vergleich zur Darstellung der Konflikte, die Jeannette durchleben muss. Auch wenn das logischerweise der personalen autobiografischen Perspektive sowohl von Vorlage als auch Umsetzung geschuldet ist, würde man sich doch in dem ein oder anderen Moment einen auktorialen Bruch, einen radikalen Perspektivwechsel wünschen.

Ohne diesen bleibt The Glass Castle ein sehr starkes, überzeugendes und auch ambivalentes persönliches Drama, dem jedoch nie ganz der Sprung zum Gesellschafts- oder zumindest Familienporträt gelingt, und der es dadurch auch nicht schafft, die persönliche Perspektive zur Darstellung von etwas Größerem aufzubrechen. Ein nachvollziehbarer und auch ein respektvoller Ansatz, der dem Schloss aus Glas allerdings die Stärke eines großen oder auch kleinen Panoramas raubt. In der Nische, in die er sich dadurch zurückzieht, bleibt der Film allerdings ein kleines, emotionales und auch erschütterndes Juwel, das gerne zum 2017er Filmkanon hinzugefügt werden darf.

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