Eiskalter Mummenschanz – Rezension zum besten (?) Horrorfilm des Jahres: Hereditary

Selten in den Jahren zuvor waren sich Horrorfilmfreunde und Kritiker derart einig: Noch bevor das Kinojahr zu Ende geht, eigentlich schon bei seinem Erscheinen, wurde Ari Asters Debütfilm Hereditary zum Horrorereignis des Jahres erklärt und auch gleich in die Tradition des in den letzten Jahren vielbeschworenen Genres des Post-Horror eingeordnet: Ein Logenplatz direkt neben – doch so unterschiedlichen – Werken wie The Vvitch, Get out und It follows, das nächste Meisterwerk, das dem Genre die notwendigen Innovationen verleiht und Horror zu so viel mehr macht, als das Genre in den Jahren davor war. Um mal gleich so viel vorweg zu nehmen: Ja, irgendwie ist es schon okayisch bei all diesen Filmen von Post Horror zu sprechen… und ja, irgendwie gehört Hereditary da auch rein, insbesondere Dank seiner Ähnlichkeit zum 2015er Meisterwerk The Vvitch… Und ja, für einen Debütfilm ist dieser kleine Genrebastard auch wirklich beeindruckend. Zum absoluten Meisterwerk – geschweige denn zum besten Horrorfilm des Jahres – taugt er aber dann doch nicht. Allein schon, weil er ein gutes Stück vor seinem Ende vollends in sich zusammenfällt und einen Genrehopser macht, der so manchen Horrorfan ratlos zurücklassen dürfte.

Im Zentrum des Films steht die Familie Graham, die gerade ihre Großmutter mütterlicherseits verloren hat. Tatsächliche Trauer um das verlorene Familienmitglied empfindet allerdings nur ihre 13jährige Enkelin Charlie (herausragend gespielt von Milly Shapiro). Die Mutter der Familie, Annie (ebenfalls unfassbar stark, Toni Collette) hatte schon lange zuvor den Draht zu ihrer Mutter verloren und hat ihr nie ihre Verschwiegenheit, ihr manipulatives Verhalten und ihre psychischen Krankheiten verziehen. Ihr zweites Kind, der 16jährige Peter, hatte kaum Kontakt zu seiner Großmutter und ihr Mann Steve ist ohnehin primär damit beschäftigt alle düsteren Gefühle und dunklen Geheimnisse der Grahams unter den Teppich zu kehren. Von diesen scheint es in der Familie dann auch tatsächlich mehr als genug zu geben: Verborgener Hass, merkwürdige Verhaltensweisen und Ticks und eisiges Schweigen dominieren ihren Alltag. Ungewöhnliche geisterhafte Erscheinungen und ein tragischer Unfall bringen das fragile Fundament der Grahams schließlich zum Einstürzen und das stille Leiden entwickelt sich endgültig zum blanken Horror.

Familiendrama, Psychothriller, Spukhorror, Gesellschaftsstudie, Coming of Age Mystery Flick… dass Hereditary in seinen ersten beiden Dritteln selbst nie mit offenen Karten spielt, wohin denn die Reise gehen soll, ist seine größte Stärke. Ähnlich wie die absurden Satiren François Ozons versteht sich Ari Aster hervorragend darin, Stück für Stück das Innenleben einer dysfunktionalen Familie zu entfalten, ohne jemals zu viel seiner Trümpfe preiszugeben. Dass er im Gegensatz zu Ozon nicht satirisch vorgeht, sondern sein Szenario zumindest inszenatorisch eindeutig ins Horrorgenre verpflanzt, macht die erzählte Geschichte um so bedrückender und beklemmender. Vorsichtig mit dem Seziermesser wird Falte um Falte aufgedeckt, Wunde um Wunde geöffnet, während die herausragende Kameraarbeit von Pawel Pogorzelski die gesamte Geschichte in ein Diorama verpflanzt, das wiederum in den bedrückenden Dioramen gespiegelt wird, an denen Familienoberhaupt Annie wie eine Besessene werkelt. In Verbindung mit der drückenden Musik und den – Gott sei Dank rar gesäten – Horror-Tropes entsteht dadurch tatsächlich ein herausragender Hybrid aus Tragödie, Thriller und Horrorfilm. Diese wird sogar noch getoppt durch einen unerwarteten – dafür umso brutaleren – Twist gegen Ende des ersten Drittels, der den Fokus des Films vollends Richtung Grauen und Leid verschiebt. Et voilà: Zitternd, angespannt und mitleidend wähnt man sich in nichts geringerem als dem besten Horrorfilm der letzten zehn, wenn nicht sogar zwanzig Jahre.

Wäre da nicht… ja wäre da nicht das letzte Drittel des Films. So bedächtig, sadistisch, langsam und auch artifiziell der Film in den ersten beiden Dritteln herübergekommen ist, so verzichtet er in seinem Schlusscrescendo vollends auf Subtilität, vagen Grusel oder surrealen Horror. Stattdessen gibt es bizarren Horror satt, mitten in die Fresse des Publikums. Dabei steigert er sich fast schon opernhaft bis hin zu einer Seelenverwandtschaft mit Darren Aronofskys 2017er Schocker mother!. Auch Hereditary will sein Publikum in diesem Crescendo zu den Pforten zur Hölle führen und geht dabei wenig zimperlich vor. Das der Grat zwischen Schock und unfreiwilligem Humor ein schmaler ist, musste aber bereits Aronofsky in seinem letzten Film erfahren und auch Aster macht hier den Fehler nicht rechtzeitig auf die Bremse zu treten: Dabei taumelt Herdeitary fast schon in konventionelle Horror- und Mysterygefilde, bedient sich fleißig bei sattsam bekannten Tropes und pervertiert diese regelrecht, so dass sich der zuvor faszinierte Zuschauer fast in einer Geisterfilmsatire wähnt. Trotz einiger spannender inszenatorischer Kniffe (wie einige hervorragende Jump Scares Interrupti) ist so das letzte Drittel ein gewaltiger Mummenschanz, der den eiskalten Schrecken und die permanente Angst des vorherigen Films praktisch nivelliert.

Und so zerfällt Hereditary tatsächlich in zwei Filme, die nie so richtig zusammenpassen wollen oder können: Die Hauptspielzeit des Films, die in der Tat das Horrorereignis des Jahres ist… und das Schlusscrescendo, das absoluter Mumpitz, aber wenigstens unterhaltsamer Mumpitz, herausragend inszenierter Mumpitz und ungewöhnlicher erzählter Mumpitz ist. Aber eben gottverdammter Mumpitz, der dem zuvorigen Meisterwerk absolut nicht zum Vorteil gereicht. Ja, Hereditary macht auch in der letzten halben Stunde Spaß, aber man ärgert sich eben auch über die verpasste Chance, über das joviale nervtötende Overexplaining, über die kackdreiste bizarre Überinszenierung, und trauert um einen bis dahin subtilen und herausragenden Post-Horrorfilm. Hat sich Hereditary gelohnt? Auf jeden Fall. Einer der wirklich sehenswertesten Genrebeiträge der letzten Zeit und zudem ein verdammt unterhaltsamer Horrorfilm? Aber taugt er zum Klassiker? Die ersten 1 1/2 Stunden zweifellos, und wäre er stilistisch so geblieben, hätte er gerne neben Shining, The vvitch und Eraserhead Platz nehmen dürfen. Dank des Schlussdrittel reicht es dann aber doch nur für eine satte Sehempfehlung. Auch ein bisschen schade, angesichts der Tatsache, dass so viel mehr möglich gewesen wäre.

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