Die besten Fantasyfilme und Märchen der 80er Jahre: Paperhouse – Alpträume werden wahr
Dass ich zu Paperhouse (1988) jetzt doch noch ein paar Worte über die Kurzrezension der ersten 80er Retrospektive hinaus verlieren muss, liegt daran, dass mich dieser Film als Kind entscheidend geprägt hat. Er war nicht der erste „Horrorfilm“, den ich gesehen habe, aber mit Sicherheit der, der mir auf längere Sicht die meiste Angst eingejagt, ja mich sogar bis in meine Träume verfolgt hat. David Cronenbergs Die Fliege (1986)? Pustekuchen. Die Miniserie Es (1990), die bei so vielen Horror-Zuschauern meiner Generation Ängste ausgelöst und Traumata verursacht hat? Lachhaft. Nein, mein persönliches Grusel-Trauma ist dieser Fantasy/Märchen/Psychoanalyse-Hybrid von 1988, und wenn ich meine Filmrezipienten-Vita durchstöbere, komme ich wohl sogar zu dem Fazit, dass kein Film – davor und danach – mir eine solche Angst eingejagt hat, wie diese Auseinandersetzung mit Traum, Alptraum und der beginnenden Pubertät.
Dabei ist Paperhouse konzeptuell gar nicht mal als reiner Horrorfilm angelegt. Die alptraumhafte Komponente ist der Geschichte zwar von Beginn an eingeschrieben, wird aber erst im letzten Drittel virulent. Davor sehen die Zuschauer ein unheimliches, symbolisch aufgeladenes und vor allem traumwandlerisches Märchen. Die elfjährige Anna (Charlotte Burke) beginnt in der Schule mit der Zeichnung eines einfachen Hauses: schräg, verwinkelt und zugleich schlicht, wie tausendfach Zeichnungen dieser Art von Kindern existieren. Kurz nach der Fertigstellung des Bildes hat das Mädchen einen Ohnmachtsanfall und landet im daran anschließenden Traum mitten in der Zeichnung. Die Welt um das Haus herum ist verlassen, die Türen lassen sich nicht öffnen, hinter den Fenstern scheint die pure Leere. Nachdem Anna eine weitere Ohnmacht erlitten hat und wegen des damit zusammenhängenden Fiebers das Bett hüten muss, beginnt sie, das Haus weiterzuzeichnen: Ein Gesicht am Fenster, Treppen, Möbel… ebenso wie die Zeichnung in der Realität wächst, beginnt auch die Welt ihrer Träume zu wachsen. Das Gesicht am Fenster gehört zu Marc (Elliott Spiers), der in dem großen Haus lebt, ohne zu wissen wie er hinein geraten ist. Er kann nicht laufen, da Anna vergessen hat, ihm Beine zu zeichnen. Aber er stellt sich nicht nur als treuer Traumgefährte heraus, sondern scheint ebenso eine reale Entsprechung zu besitzen. Mehr und mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, bis Anna schließlich einen verheerenden Fehler begeht, indem sie ihren alkoholabhängigen Vater (Ben Cross) in das Bild zeichnet. Die vorherige Traumwelt verwandelt sich in ein Horrorszenario, das nicht nur Annas Schlaf sondern ihr ganzes Leben bedroht.
Paperhouse erzählt diese Geschichte als realistisches, psychoanalytisches Märchen, immer an der Schwelle zum Surrealismus. Der Kern des Geschehens ist der Reifeprozess der zu Beginn kindlichen, spätestens am Ende pubertären Protagonistin. Dabei stehen die Bilder der Traumwelt allegorisch für die Entwicklung des Vorpubertären: Die Traumwelt, wie sie Anna zu Beginn erscheint ist groß, leer, korreliert mit dem Gefühl des Verlusts der Kindheit. Wie die Konfrontation mit der eigenen Jugendwerdung dem Menschen eine große, beinahe erschlagende und zugleich undeutliche Welt eröffnet, wird Anna mit der Leere ihrer eigenen Zeichnung konfrontiert. Der erste Blick in die schwarzen Fenster des verlassenen, noch nicht vollkommen gezeichneten Hauses ist dabei auch so etwas wie ein Blick ins Nichts, eine erste Konfrontation mit der Absurdität des Lebens, eine existenzielle – und dadurch mehr als beängstigende Erfahrung. Mit dem Wachsen der gezeichneten, geträumten Welt bilden sich weitere jugendliche Sujets heraus: Marc als die Begegnung mit dem anderen Geschlecht, die Versprechungen des hemmungslosen Konsums, indem die Zimmer peux à peux mit neuen Gegenständen gefüllt werden, und schließlich auch das Dilemma zwischen Idealismus und Realismus, die Frage nach dem Erwachen und der Tatsächlichkeit und Scheinbarkeit der selbst konstruierten Welt.
Paperhouse packt diese Motive in schwelgende, unheimliche und immer auch traumatische Bilder. Es ist kaum in Worte zu fassen, wie geschickt Regisseur Bernard Rose und Kameramann Mike Southon die Dramaturgie des Traums beherrschen. Den Weiten der Welt, die das Haus umgibt, wohnt ein ebenso beklemmender wie befreiender Zauber inne, die Zeitentschleunigungen, die Annas Reise durch ihre Traumwelt begleiten, wirken fern, irrational und finden einen plausiblen ästhetischen Ausdruck für die Vagheit der Traumwelt. Und dann ist da natürlich noch die Entwicklung zum Alptraum, die mit der Beziehung Annas zu ihrem Vater einen weiteren essentiellen Jugend-Topos in die Geschehnisse einbringt. Dabei wäre es verkürzt, die Dämonisierung des Väterlichen in der Traumwelt auf ein Missbrauchs-Sujet zu reduzieren. Im blinden, gewalttätigen und monströsen Vater, der das Paperhouse heimsucht, spiegelt sich die Infragestellung der traditionellen Autoritäten wider. Das zuvor mit Sehnsucht betrachtete, geliebte Väterliche wird zur alptraumhaften Fratze. Die dunklen Seiten der Elterngeneration werden offenbart, und wie Anna sich vor der neuen Gestalt des Vaters fürchtet, reagiert dieser mit Zorn bis zum blanken Hass auf die Emanzipation seiner Tochter.
Dieser Konflikt gewinnt eine enorme Spannung durch das Auftauchen des Vaters in der Realität. Seine Sprachlosigkeit, seine Angst vor einer wachsenden Distanz zu seiner Tochter ist das Korrelat der Realität zu der Monstrosität seiner Traumgestalt. Auch in der Wirklichkeit sind sich Vater und Tochter fremd, der Horror mutiert hier im Gegensatz zum Traum nicht zu einer direkten physischen Bedrohung, existiert aber unausgesprochen als latentes Unbehagen, bis schließlich beide Seiten mit der Erwachsenwerdung Annas unmittelbar konfrontiert werden. Das traumatische Moment, mit dem dieser Konflikt in der Traumwelt erzählt wird, unterscheidet sich fundamental von den nüchternen, stummen Bildern der inszenierten Realität. Erst gegen Ende wird diese Sprach- und Orientierungslosigkeit in einem – unangenehm sentimentalen – Finale aufgelöst. Das wäre auch dann tatsächlich das größte Problem, das Paperhouse besitzt: Anstatt die Unlösbarkeit des Sujets konsequent bis zum Ende durchzuziehen, stürzt sich der Film in seinen letzten Minuten in einen geradezu naiven Idealismus und überzeichnete Versöhnungsfantasien. Ob dies notwendig gewesen wäre? Eher nicht, auch wenn es Rose kaum vorzuwerfen ist, dass er darum bemüht ist, den dunklen, beängstigenden Stoff für ein jugendliches – und auch erwachsenes Publikum – zu entschärfen.
Trotz dieses kleinen Wehrmutstropfens besitzt Paperhouse während der gesamten Laufzeit eine – im wahrsten Sinne des Wortes – unheimliche Größe, und darüber hinaus eine Motivdichte, wie sie im Fantasy-, Mystery- und Horrorkino nur selten anzutreffen ist. Neben der Pubertätsthematik lassen sich zahllose weitere Topoi entdecken, die vom Sozialen über das philosophisch Existenzialistische bis hin zum Ästhetischen und konkret Beängstigenden führen. Gerade Letzteres hat mich damals als zehnjähriger Junge voll erwischt: Die Bedrohlichkeit einer Traumwelt, die jederzeit zum Alptraum werden kann, die Angst davor, Realität und Fiktion nicht mehr trennen zu können, der Schrecken der verzerrten Spiegelungen der eigenen Fantasie, die Konfrontation mit dem Nichts und der Leere… ja Paperhouse war mein erstes filmisches Trauma. Danach habe ich ihn lange gemieden, dann verlacht angesichts der – auch vorhandenen – albernen 80’s Momente… und schließlich habe ich mich mit seinem psychologischen und philosophischen Subtext auseinandergesetzt. Jepp, da stehen wir. Und als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe (noch gar nicht so lange her), ist mir wieder bewusst geworden, was für ein Meisterwerk dieser bildgewaltige, verwobene Traumtrip doch ist… ganz unabhängig von seinen subtextuellen Momenten. Daher auch an dieser Stelle, trotz viel Blabla zuvor, noch einmal ein kurze, knappe – aber unbedingte – Empfehlung. Paperhouse fasziniert auch heute noch, als dichte Parabel, als mysteriöse Allegorie, als psychologisch tiefes Märchen und als unheimlicher Fantasy-Horror zwischen Traum und Realität. Meisterwerk, das in jeden guten Filmkanon gehört!
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Diesen Film haben wir auch in unserem Podcast besprochen.
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Erstveröffentlichung: 2012